Von der Mägdeherberge & Bildungsschule in der Mühlbruchstraße zum Altenheim am Museumsufer
Von der Mägdeherberge & Bildungsschule in der Mühlbruchstraße zum Altenheim am Museumsufer
Jürgen Telschow
Das Marthahaus feiert in diesem Jahr 2016 sein 150jähriges Bestehen, denn am 10. April 1866 genehmigte der Senat der Freien Stadt Frankfurt am Main den Trägerver-ein und am 1. Mai 1866 wurde die Martha-Herberge eröffnet. Da darf man fragen, was kirchlich gesonnene Menschen bewegte, sich sozialer Not anzunehmen, wie sie zur Gründung gerade eines Vereins kamen, wer die Menschen überhaupt waren und wie diese Einrichtung 4 Kriege, wirtschaftliche Krisen und große gesellschaftliche Umbrü-che so überstand, dass heute hier dieses schöne Altenheim steht. Ein besonderes Au-genmerk verdienen dabei drei Aspekte: das besondere ehrenamtliche Engagement von Frauen in einer männerdominierten Gesellschaft; der Versuch, sozialer Not nicht durch Hilfe für misslungene Lebensläufe sondern durch Ausbildung für einen Beruf zu begegnen; die Wandlungsfähigkeit, auf eigene Krisen mit Veränderungen des eigenen Konzepts zu reagieren.
1. Missionarische Beweggründe und die Vereinsform
Doch zunächst ist zu fragen, wie es überhaupt zu einem solchen christlichen Engage-ment und zu einer solchen Vereinsgründung kommen konnte. Seit Philipp Jakob Spe-ners Zeit gab es in Frankfurt Gruppen, denen die offizielle Kirche und ins besondere die orthodoxe Theologie nicht fromm genug waren. Manche separierten sich von der Kirche, wie man sagte. Andere trennten sich zwar nicht von der Kirche, führten aber ein Eigenleben. An Vereinsgründungen dachte man in Frankfurt zunächst nicht. Dann zerbrachen unter dem Druck von Aufklärung, Französischer Revolution und den napoleonischen Kriegen die politischen und gesellschaftlichen Ordnungen. Die Men-schen streiften viele Bindungen und Fesseln geistiger, religiöser, politischer oder wirt-schaftlicher Art ab, wenn auch längst noch nicht alle. Die neue, bürgerliche Welt war eine Gesellschaft der Individuen, die nicht mehr so sehr traditionsgeleitet leben muss-ten, sondern eigenen Vorstellungen folgen konnten. Dazu bot die Vereinsform bis da-hin nicht gekannte Möglichkeiten. Konnte man sich hier doch interessensgeleitet und unabhängig von Kirche und Staat selbst organisieren. Insofern sind Vereine eine ty-pische Organisationsform des 19. Jahrhunderts, auch wenn es diese Rechtsform schon im 18. Jahrhundert gab.
Zugleich entwickelte sich in der Kirche bei den pietistischen Kreisen, das Bedürfnis, werbend und missionierend in die Gesellschaft hinein wie auch sozial zu wirken. Einer dieser frommen Leute war Johann Christian Senckenberg, der 1766 das Bürgerhos-pital errichtete. Später entdeckte man auch in der Kirche die Vereinsform. In Frankfurt führte das 1816 zur Gründung der Frankfurter Bibelgesellschaft und 1819 des Frankfurter Missionsvereins. Eine treibende Kraft beider Gründungen war Johann Friedrich Meyer, ebenfalls ein Pietist. Auch wuchs das Bewusstsein der evangelischen Christen dafür, dass die Gesellschaft nicht mehr kirchlich geprägt war. Parallel dazu und teilweise auch als Ursache dafür wurde die zunehmende soziale Not als Problem wahrgenommen, das vom Staat nicht gelöst wurde. Begegnen wollte man dem durch missionarische Aktivitäten gegenüber den Gefährdeten und den Ärmsten, verbunden mit praktischer Hilfe. Ein besonderes Augenmerk galt dem Kampf für die Sittlichkeit und gegen die Unmoral in Form des außerehelichen Geschlechtsver-kehrs ,der Trunksucht oder der Prostitution. So wurde 1835 im Hause des deutsch-reformierten Pfarrers Johann Georg Zimmer ein Jünglingsverein gegründet, der sich 1837 „Hilfsverein junger Männer aus dem Gewerbestand” nannte. Aus ihm und einem späteren zweiten Jünglingsverein heraus wurde unter dem Einfluss Johann Hinrich Wicherns 1840 der Verein für Innere Mission gegründet.
Für alle diese kirchlichen Vereine gilt, was Jürgen Albert für die Innere Mission for-muliert hat1: „Die Innere Mission bedeutet die erste Lebensform des Protestantismus, die nicht mehr schicksalhaft vorgegeben ist, sondern Folge persönlicher Entscheidung, bürgerlich-gestalterischen Bewusstseins und so bereits formal Ausdruck säkularer Da--seinsauffassung ist.”
Und der Sozialwissenschaftler Karl Schlögl hat den Vorgang so bewertet: „Diese For-men der überlokalen und organisierten religiösen Bewegung, mit der aus allen Konfes-sionen und fast allen Schichten heraus versucht wurde, dem Christentum wieder einen Sitz in einer sich verändernden Gesellschaft zu geben, so dass Religion, Gemeinschafts-bildung und moderne Individualität erneut zusammenfinden konnten, stellten das ver-kirchlichte Christentum in eine neue Welt2.”
Trotzdem ist für diese Vereine kennzeichnend, dass sie eben nicht als Organisationen in der (Staats)-kirche entstanden sind und auch eine gewisse Distanz zu dieser wahr-ten. Auch trugen sie überkonfessionellen Charakter, indem dort lutherische und refor-mierte Pfarrer und Gemeindeglieder gemeinsam tätig wurden. Angesichts solcher po-sitiven Bewertungen sei aber auch erwähnt, dass die kirchliche „Vereinsmeierei” auch skeptische Betrachter fand. So äußerte Pfarrer Conrad Kayser 1893 in einem Artikel über „Spener als Armutspfleger” zu dessen Bemühungen gegen das Bettelwesen: „In unsern Tagen würde man zur Gründung eines Vereins geschritten sein, aber es war damals noch nicht die Zeit der Vereins-Comités und Sitzungen angebrochen, mit wel-chen wir Kinder des 19. Jahrhunderts so viel kostbare Zeit und persönliche Arbeits-kraft zersplittern3.”
2. Die Frankfurter Situation
Seit Beginn des 19. Jahrhunderts war die deutsche Bevölkerung stark gewachsen. Das Land konnte nicht mehr allen Arbeit geben, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Die Landflucht führte gerade in Hessen auch zu einer Auswanderungswelle. Im Früh-jahr 1866 erschienen in den Tageszeitungen regelmäßig Anzeigen der Überseerederei-en mit den Abfahrtszeiten der Auswandererschiffe von Hamburg, Bremen oder Liver-pool. Dies, Missernten und die beginnende Industriealisierung trieben die Menschen aber auch in die Städte. Das zeigen die Einwohnerzahlen von Frankfurt:
1520 10.000 1861 71.464
1700 23.000 1867 78.277
1750 32.000 1875 103.136
1810 40.485 1885 154.441
1840 56.217 1900 288.989
1852 62.561
Wie die anderen Städte auch, war Frankfurt der sich daraus ergebenden sozialen Not nicht gewachsen. In guter alter Tradition überließ man die Hilfe für Arme und Bedürf-tige dem städtischen Almosenkasten, in der einen lutherischen Gemeinde dem lutheri-schen Almosenkasten sowie in den reformierten Gemeinden und der katholischen Kir-che den dortigen Wohlfahrtseinrichtungen. Aber das reichte nicht. Lediglich der (ur-sprünglich Vaterländische) Frauenverein, 1813 zur Unterstützung und Pflege von Sol-daten gegründet und später in einen allgemeinen Wohlfahrtsverein umgewandelt, stellte sich der Not auf neue Weise. In den Arbeitsfeldern Krankenfach, Dörferfach, Wöchnerinnenfach, Nähfach, Spinnfach, Strickfach und Wohnungsfach suchte er schon früh, Not zu lindern.
3. Die Anfänge der Inneren Mission
1849 hielt sich Johann Hinrich Wichern in Frankfurt auf und gewann mit mehreren Ansprachen neue Anhänger. Diese gründeten bald den „Verein zur Förderung christli-cher Sitte und Geselligkeit unter den jüngeren Mitgliedern des Gewerbestandes”, ver-folgten also ähnliche Ziele wie der ältere „Verein zur Förderung christlicher Erkenntnis und christlichen Lebens”. Deshalb schlossen sich beide am 22. November 1850 mit dem Älteren evangelischen Jünglingsverein, dem Männerverein und dem Hilfsverein jun-ger Männer aus dem Gewerbestand zum „Gesamtverein für innere Mission” zusam-men.4 Alle Vereine widmeten sich vor allem der Arbeit mit jungen Männern. Neue Im-pulse brachte der Frankfurter Kirchentag vom 21. bis 16. September 1854. Auf dieser Basis wurde 1861 der Magdalenenverein für „die Arbeit an den verlorenen Töchtern des Volkes”5 gegründet, der sich nach drei Jahren dem Gesamtverein anschloss. Die Gründung erfolgte auf Anregung der Hausmutter des Waisenhauses, Julie Müller. Der Verein konnte am 16. Mai ein eigenes Haus neben dem Diakonissenhaus beziehen und arbeitete mit dem Diakonissenhaus zusammen. In das gleiche Jahr 1861 fiel auch die Gründung des Frankfurter Diakonissenvereins, in dem sich Lutheraner und Refor-mierte gleichermaßen engagierten. Als Lutheraner waren die Pfarrer Johann Christi-an Deichler6 und Johann Jakob Krebs7 tätig, als Reformierte die Pfarrer Jean Louis Bonnet und Johann Ludolph Schrader. 1866 bezog der Verein ein Heim in der Quer-straße, in dem die erste Schwester, aus Karlsruhe, wirkte.
4. Die Gründung des Marthahauses
In diesem Zusammenhang ist auch die Gründung des Marthahauses zu sehen. Wer den Anstoß zur Gründung des Martha-Vereins und zur Errichtung des Marthahauses gegeben hat, ist nicht klar. Pfarrer Hermann Dechent, der Frankfurter Gemeindepfar-rer ab 1872 und Kirchengeschichtsschreiber, lebte noch dicht an der Gründungszeit. Er schrieb diese Rolle dem Senior des Predigerministeriums und Pfarrer an der Drei-königskirche Dr. Johann Jakob Krebs zu8. Pfarrer D. Conrad Kayser, ab 1890 Vor-standsmitglied des Marthahauses, formulierte aber in der kleinen Festschrift zum 50jährigen Bestehen im Kriegsjahr 1916: „Und nun sehen wir eine kleine Schar von Frauen und Männern, die mit warmem Herzen und weitem Blick schon zum voraus diesen Gefahren wehren9.” Hier wurde nicht von Krebs und anderen, sondern von Frauen und Männern gesprochen. Auch wurden im Frankfurter Adressbuch von 1772, anders als etwa beim Magdalenen-Verein, zunächst die Frauen genannt und dann erst die Männer, obwohl diese den Vorsitzenden, den Schriftführer und die Kassierer stell-ten. Das spricht für die wichtige Rolle, die die Frauen spielten. Und da sich die Frau von Krebs ganz besonders im Marthahaus engagierte, war sie ja vielleicht als ehemali-ge Diakonisse die treibende Kraft und nicht der vielbeschäftigte Herr Senior. Aller-dings konnte man sich doch nicht entschließen, den Frauen auch z. B. das Amt der Vorsitzenden zu übertragen, wie das bei dem 1813 gegründeten und damals noch immer bestehenden (Vaterländischen) Frauenverein der Fall war. Hier wie in ande-ren, noch zu zeigenden Fällen, zeigt sich die konservative Haltung der Vereinsgründer und -gründerinnen.
Über die Gründung selbst ist wenig überliefert. Im Archiv des Marthahauses befinden sich undatierte „Satzungen des Vereins der christlich-evangelischen Mägde-Herberge & Bildungsschule zu Frankfurt am Main” (Satzung wurde im Plural verwendet). In de-ren § 2 hieß es, dass der Verein „die dahier bereits von Freunden der Sache gegründete und am 1. Mai 1866 eröffnete Martha-Herberge für weibliche Dienstboten” samt deren Vermögen und Verbindlichkeiten übernimmt. Es scheint also so, dass ein Freundes-kreis die Errichtung der Martha-Herberge vorbereitet und sie am 1. Mai 1866 eröffnet hat. Parallel dazu wurde ein Verein gegründet, der am 10. April 1866 vom Senat der Freien Stadt Frankfurt am Main bestätigt wurde und nach dem 1. Mai 1866 das Mar-thahaus übernahm.
Den Vereinszweck findet man in § 1 dieser Satzungen so definiert:
„Der Verein hat den Zweck, die religiös-sittliche Hebung der weiblichen Dienstboten, die Erziehung derselben zur Gottesfurcht und zum Fleiße, zur Ehrerbietung, zum Gehor-sam und zur Treue gegen ihre Dienstgeber anzustreben.
Die Wirksamkeit des Vereins zu diesem Behufe besteht in der Errichtung und Leitung einer chrtistlich-evangelischen Anstalt, welche, - bei Beobachtung einer, ihrer Bestim-mung entsprechenden Hausordnung und unter einer geeigneten Vorsteherin, - zeitweise stellenlosen oder angehenden unbescholtenen Dienstmädchen eine Herberge gegen ganz geringe Vergütung, darin zugleich Gelegenheit zur Gewinnung passender Stellen sowie zur Ausbildung in Berufsgeschäften bietet, und deren Pfleglinge daselbst auch noch nach der Entlassung Theilnahme an ihren ferneren Schicksalen und Berathung in ih-ren Angelegenheiten finden können.”
Der Hinweis auf die Unbescholtenheit der Mädchen zeigt die deutliche Abgrenzung zum Magdalenenverein, der sich um die „verlorenen Töchter des Volkes” kümmerte. Zu-gleich wird hier deutlich, dass das Marthahaus mit Unterkunfts-, vermittlungs- und Bildungsangeboten vorbeugend dort wirken wollte, wo junge Mädchen ohne Berufs-ausbildung Arbeit in der Großstadt suchten. Das unterschied das Marthahaus von vie-len anderen Einrichtungen der Inneren Mission, die Not lindern und beheben wollten.
Leitungsorgan war ein Vorstand aus mindestens 10 Mitgliedern (§ 4 der Satzungen). So interessiert es, wer denn nun im ersten Vorstand des Vereins tätig war. Es waren dies10:
Frau Postrat Dr. Bang, Mittelweg 34
Frau B. Bernus von Guaita, Hochstr. 2
Frau Dr. Haeberlin, Haiseweg 40
Frau Pfarrer Krebs, Schulstr. 7 (Margarethe Krebs)
Frln. Caroline von Lersner, Pröbstin im v. Cronstett'schen Stift, am Salzhaus 5
Frau Laura Schmidborn, geb. Remy, Neue Mainzer Straße 27
Frl. Marianne Schulz-Saltzwedel, Bornwiesenweg 2
Frau Gräfin Unruh, geb. Freiin von Leonardi, Hochstraße 14
Vorsitzender: Dr. iur. Adolf von Welling, Amtsgerichtsrat Seilerstraße 15
Schriftführer: Pfarrer Dr. Johann Jakob Krebs, Schulstr. 7
Kassierer: G. Louis Bernus von Guaita, Hochstraße 2;
Johannes Lüdicke, Ökonom, Krögerstraße 10
An anderer Stelle wurden als Mitwirkende außerdem noch Frau Sophie Böhler und Frau Elise Vömel erwähnt11.
Hier begegnen uns also bekannte Frankfurter Familiennamen wie von Bernus, von Guaita, Leonardi und von Lersner. Frau Dr. Haeberlin könnte die Frau des bekann-ten Juristen und Münzsammlers Ernst Justus Haeberlin sein. Laura Remy verw. Schmidtborn war eine bekannte Mäzenin, die dem Diakonissenhaus viel zuwandte und dessen Pfarrer Carl Leidhecker heiratete. Elise Vömel könnte die Frau des Rechtsanwalts Vömel sein. Und Pfarrer Krebs gehörte auch zu den Gründern der Frankfurter Diakonissenanstalt. Vermutlich hat ein Teil der Damen auch größere Finanzierungsbeiträge geleistet.
Kommen wir noch zu dem Namen der neuen Einrichtung. Im Lukas-Evangelium kann man die Geschichte lesen, in der Jesus in einem von zwei Schwestern bewohnten Haus einkehrt12. Die eine, Martha, schafft und rackert im Haushalt, während ihre Schwes-ter Maria Jesus zuhört. Als Martha sich darüber beschwert, muss sie sich von Jesus auch noch sagen lassen, dass Maria das bessere Teil erwählt habe. Immerhin hat Je-sus an anderer Stelle der Nächstenliebe einen anderen Stellenwert gegeben13. So wur-de Martha zu einem Symbol der Nächstenliebe.
Und den Zweck des Marthahauses hat eine Anzeige in den Frankfurter Nachrichten, der Beilage zum Frankfurter Intelligenz-Blatt vom 29. April 1866 so zusammenge-fasst:
„Am 1. Mai d. J. wird dahier die Mägdeherberge, für deren Gründung und Erhaltung in jüngster Zeit Beiträge gezeichnet wurden, in dem Haus Mühlbruchstraße 15 in Sach-senhausen (in der Nähe des Offenbacher Bahnhofes) mit der Benennung „Marthaher-berge” eröffnet werden. - Daselbst können hies. stellenlose weibliche Dienstboten und solche Mädchen, welche hierher kommen, um einen Dienst zu suchen, gegen eine Vergü-tung von 12 Kreuzern pr. Tag für Wohnung und Kost, nach Maßgabe der Hausordnung und der betreffenden polizeilichen Vorschriften Aufnahme finden, auch – so lange sie sich in dieser Herberge aufhalten – Stellen nachgewiesen erhalten.”
In der gleichen Zeitung findet man im Anzeigenteil eine längere Liste von Such-Klein-anzeigen mit einem Wortlaut wie diesem: „Ein Mädchen, das zu aller Hausarbeit wil-lig ist, wird gesucht; Brönnerstraße 4.”
Juristisch betrachtet erfolgte die Bestätigung der Vereinsgründung durch den Senat der Freien Stadt noch vor der Annexion Frankfurts durch Preußen gegen Ende des Jahres , so dass das Marthahaus eine selbständige juristische Person nach altem Frankfurter Stadtrecht war. Die Leitung des Marthahauses lag in den Händen eines Vorstandes mit mindestens 10 Mitgliedern, später aus einem Kuratorium, das einen Vorstand bestellte. Dieser bestand aus einem Vorsitzenden, einem Schriftführer und einem Schatzmeister mit je einem Stellvertreter. Allerdings entsprach die Struktur schon damals oder doch einige Jahrzehnte später nicht dem für Vereine Üblichen. Sah sie doch weder eine Mitgliederversammlung noch eine Befristung der Tätigkeit im Vorstand vor. In einem Rundschreiben an die Mitglieder von 1898 wurde das so be-gründet: „Dadurch gewähren diese Satzungen insbesondere der Leitung der Vereinsan-stalt diejenige Continuität und Unbeschränktheit, welche für die Aufrechterhaltung von Ordnung und Sitte bei den Logiermädchen und für die Erziehung und Unterweisung der Dienstbotenschülerinnen in einem bestimmten Geiste zu einer erfolgreichen Wirk-samkeit nicht zu entbehren ist.” Auch hatte der Verein nicht das Recht, Grundstücke zu erwerben. Als er das Grundstück in der Schifferstraße erwerben wollte, musste er sich hierzu 1867 extra eine staatliche Ermächtigung zum Grundstückserwerb holen. Diese galt auch nur für diesen Grundstückserwerb. Das sollte dreißig Jahre später zu Problemen führen.
Über die Vorsitzenden gibt es unterschiedliche Angaben. So wird von Majer14 und Teit-ge15 Pfarrer Krebs als erster Vorsitzender genannt. Das Frankurter Adressbuch von 1872 nennt aber als Vorsitzenden Adolf von Welling und Senior Krebs als Schriftfüh-rer. Ob den beiden zuvor genannten Autoren der Adressbucheintrag bekannt war, wis-sen wir nicht. Ihm wird aber hier mehr vertraut als den Angaben der Genannten ohne Quellenangabe. Danach ergibt sich folgende Liste der Vorsitzenden: bis nach 1872 Dr. Alexander von Welling, Pfarrer Dr. Johann Jakob Krebs (Dreikönigsgemeinde 1857-1902), ab 1902 Louis von Bernus, bis 1921 Pfarrer Dr. Wilhelm Busch (Lukas-gemeinde 1906-1921), 1921-1925 Pfarrer Karl Veidt (St. Paulsgemeinde 1918-1925), 1925-1928 Pfarrer Heinrich Abraham (St. Paulsgemeinde 1925-1928), 1929-1946 wie-der Karl Veidt (ab 1929 wieder St. Paulsgemeinde), 1946-1968 Pfarrer Fritz Creter (1957- 1968 Dreikönigsgemeinde und der Berggemeinde), 1968-1990 Pfarrer Wilhelm Gegenwart (1964-1994 Dreikönigsgemeinde), 1990-1997 Gustav Teitge, Geschäftsfüh-rer des Haus- und Grundbesitzervereins, 1997-2006 Pfarrer Robert Kirste (Lukasge-meinde 1968-1995), seit 2006 Frau Barbara Koch.
5. Die weitere Entwicklung bis zum Jahr 1900
Schnell war das angemietete Haus in der Mühlbruchstraße zu klein. Deshalb wurde schon bald ein eigenes Haus in der Schulstraße 27 bezogen16. Hier konnten 22 Mäd-chen unterkommen. Dann konnte ein Nachbargrundstück zur Schifferstraße hin er-worben und dort ein größeres Haus errichtet werden. 1875 wurde der Neubau in der Schifferstraße 76 bezogen, wo nun 60 Mädchen untergebracht werden konnten. Dies ermöglichte dann auch eine Ausweitung der Arbeit um die Ausbildung zum Dienst-mädchen (Gehilfin der Hausfrau) und ein dem Gelderwerb dienendes Hospiz für allein reisende Damen. Dabei verließ sich die Leitung des Hauses darauf, dass sich schon ge-nug Mädchen melden werden. Um die Bewerbungen zu steuern, schickte der Vorstand jedoch 1877 den Jahresbericht an etwa 800 Pfarrämter in der Frankfurter Umgebung.
Aus dem Jahr 1885 sind „Bedingungen zur Aufnahme der Schülerinnen...17” erhalten. Ihnen ist auch zu entnehmen, dass „neben der Beherbergung stellenloser Dienstmäd-chen, auch solche unbescholtene Mädchen, welche sich nach der Confirmation dem dienenden Berufe widmen wollen, zur Ausbildung für diesen Beruf aufgenommen” werden.
„Diese Dienstbotenschülerinnen, welche der überhaupt geltenden Hausordnung unter-worfen sind, erhalten nach einem, ihr jugendlichen Kräfte berücksichtigenden Beschäf-tigungs- und Unterrichts-Plane Unterweisung:
in den gewöhnlichen Hausarbeiten, in Näh- und Strickarbeiten, im Ausbessern, im Waschen und Bügeln, in den Geschäften der Küche, einschließlich der, für den Bedarf der Anstalt stattfindenden Zubereitung der Speisen, und durch Ver- wendung in dem mit der Anstalt verbundenen Hospiz Uebung in allenVerrich- tungen, welche die Bedienung der daselbst logirenden Damen erheischt. - Außer- dem wird von den, die Anstalt leitenden Diakonissen den Zöglingen Unterricht im Singen ertheilt, und bei denselben durch Nachhilfe in der Reli-gion und an- deren Lehrgegenständen der Volksschule Befestigung und Vervollkommnung der in der Schule gewonnenen Kenntnisse angestrebt.
Beim Eintritt in die Anstalt haben die Schülerinnen mitzubringen:
die im einzelnen Falle von der Anstalt geforderten Zeugnisse, jedenfalls einen Heimatschein und ein Confirmationszeugniß; ferner 4 Hemden, sechs Paar dunkle Strümpfe, zwei farbige Nachtjacken, vier Nachtmützen, sechs Taschentü- cher, vier helle Kattunhalstüchelchen, vier bunte und eine Sonntagsschürze, zwei blaue Arbeitsschürzen, drei bis vier dunkle Unterröcke, ein Sonntagskleid, zwei Alltagskleider (dabei ein gedrucktes) und ein Arbeitskleid, ein Corset, ein Paar Lederstiefel, ein Paar Lederpantoffeln, zwei Kämme, Zahnbürste, Kleiderbürste, einen einfachen Nähkasten mit Zubehör, eine einfache Kopfbedeckung (Hut oder Kapuze), einen Regenschirm, einen verschließbaren Korb oder Koffer.”
Diese Aufzählung zeigt uns, wie eine einfache junge Frau zu dieser Zeit ausgestattet war. Die Nachtmützen und Nachtjacken lassen darauf schließen, wie kalt es in den Schlafzimmern war. An Unterwäsche im heutigen Sinne oder an einen Wintermantel ist nicht gedacht.
Im Jahr 1886 gab es eine einschneidende Veränderung. Die Leitung und Betreuung des Marthahauses war nach der Gründung den Kaiserswerther Diakonissen übertra-gen worden. Das 1861 gegründete Frankfurter Diakonissenhaus war dazu noch nicht in der Lage, weil es selbst erst 1866 als erste Diakonisse eine Karlsruher Schwester eingesetzt hatte. Nun, im Jahre 1886, sahen sich die Kaiserswerther wegen der star-ken Inanspruchnahme nicht mehr in der Lage, das Marthahaus zu betreuen. An ihre Stelle traten die Frankfurter Diakonissen – das Frankfurter Diakonissenhaus war schnell gewachsen – und es begann eine jahrzehntelange , fruchtbare Zusammenar-beit. Von nun an galt, dass die Leitung des Heimes in den Händen einer Diakonisse des Diakonissenhauses Frankfurt a. M. liegt, dessen Vorstand dem Marthahaus auch die weiteren Schwestern zuweist. Die notwendigen Hilfskräfte wurden durch die lei-tende Schwester eingestellt.
Mit der Zeit ergab sich aber auch das Bedürfnis, entsprechend der Satzung den Kon-takt mit den ausgeschiedenen Mädchen zu pflegen. Man lud sie deshalb am Sonntag in das Marthahaus ein, woraus der Sonntagsverein mit zeitweise 90 Mitgliedern ent-stand.
Bezüglich der Satzung wurde gegen Ende des Jahrhunderts deutlich, dass sowohl die mangelnde demokratische Vereinsstruktur als auch das Fehlen der unbeschränkten Rechtsfähigkeit zu erheblichen Problemen führt. Als man eine Grundstückserweite-rung ins Auge fasste, stellte man fest, dass man hierzu rechtlich gar nicht in der Lage war. Sollte der Verein voll rechtsfähig werden, musste man eine neue Satzung geneh-migen lassen, die dann dem geltenden Vereinsrecht zu entsprechen hatte. Doch wollte das Kuratorium sich nicht auf eine Einschränkung seiner Freiheiten einlassen. Des-halb legte man „Satzungen der Anstalt für weibliche Dienstboten Marthahaus in Frankfurt am Main” vor. Damit unterlag man nicht dem Vereinsrecht. Daraufhin teilte „Der Königliche Polizeipräsident” dem Kuratorium des Marthahauses unter dem 12. Januar 1899 (Buch I. No. 365) mit: „Des Kaisers und Königs Majestät haben mittelst des in beglaubigter Ausfertigung beifolgenden Allerhöchsen Erlasses vom 28. November v. Js. der zu Frankfurt a/M unter dem Namen „Marthahaus” bestehenden Anstalt auf Grund des Statuts vom 28. Februar v. Js. die Rechte einer juristischen Per-son mit der Maßgabe zu verleihen geruht, daß in § 5 des Statuts der letzte Absatz zu streichen ist18.” Damit wechselte die Rechtsform. An die Stelle des Vereins nach altem Frankfurter Recht trat eine Anstalt. Juristisch betrachtet ist die Anstalt eine Zusam-menfassung sachlicher und persönlicher Mittel zur dauernden Erfüllung bestimmter Aufgaben. Sie ist eine jurstische Person des öffentlichen Rechts. Ein wesentlicher Unterschied ist zum Verein, dass die Anstalt keine Mitglieder sondern nur Nutzer, also auch keine Mitgliederversammlung hat. Der alte Verein wurde sodann aufgelöst und sein Vermögen der Anstalt übertragen.
Dementsprechend beschrieben die Allgemeinen Bestimmungen der Anstaltssatzung genau das Vermögen und § 3 Abs. 2 Satz 1 besagt: „Gegenwärtig bilden das Curatori-um die Mitglieder des Vorstandes des Vereins, welcher bisher für die Erhaltung des ,Marthahauses bestand' .”
Den Vereinszweck formulierte die Satzung in den Allgemeine Bestimmungen nun so:
„Das Marthahaus, welches unter dem Namen „Marthaherberge” am 1. Mai 1866 er-öffnet worden ist, hat den Zweck, die religiös-sittliche Hebung und Bewahrung der weiblichen Dienstboten, die Erziehung derselben zur Gottesfurcht und zum Fleiße, zur Ehrerbietung, zum Gehorsam und zur Treue gegen ihre Dienstgeber anzustreben.
Zu diesem Behufe bietet das Marthahaus zeitweise stellenlosen oder angehenden unbescholtenen Dienstmädchen eine Herberge gegen mäßige Vergütung, darin zu-gleich Gelegenheit zur Ausbildung in ihren Berufsgeschäften, sowie zur Gewinnung passender Stellen, den Pfleglingen auch noch nach der Entlassung Theilnahme an ihren ferneren Schicksalen und Berathung in ihren Angelegenheiten.”
Oberstes Leitungsorgan war das Kuratorium, das aus mindestens zehn und höchsten 15 Mitgliedern bestand (§§ 2, 3 Abs. 1). Das Kuratorium wählte aus seinen männli-chen Mitgliedern auf unbestimmte Zeit einen Vorsitzenden, einen Schriftführer und einen Schatzmeister, sowie deren Stellvertreter (§ 4 Abs. 1). Die Zusammensetzung des Kuratoriums sah so aus:
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Frau Emma Behrends, geb. Schmidt, Witwe
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Frau Dr. Emilie Kerner, geb. Kissel, Witwe
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Frau Margarethe Krebs, geb. Geib, Gattin des Senior ministerii Konsitorialrats Pfr. Dr Krebs
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Frau Maximiliane Lucius, geb. Becker, Gattin des Fabrikanten Dr. phil. Eugen Nikolaus Lucius
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Frau Marie Schepeler, geb. Sopp, Gattin des Kaufmanns Hermann Schepeler
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Frau Mathilde Schmidt, geb. Metzler, Gattin des Geheimen Sanitätsrats Professor Dr. med. Schmidt-Metzler
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Frau Bertha von Welling, geb. von Zangen, Gattin des Amtsgerichtsrats a. D. Dr. iur. von Welling
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Herr Christian Bartmann-Lüdicke, Landwirt
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Herr Louis Bernus-von Guaita, Rentier
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Herr Theodor Berthold, Hotelbesitzer
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Herr Conrad Kayser, ev.-lutherischer Pfarrer
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Herr Dr. phil Johann Jakob Krebs, Senior ministerii und Konsistorialrat
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Herr Dr. iur. Adolf von Welling, Amtsgerichtsart a. D.
Über die Zusammensetzung des Vorstands sagte die Satzung nichts aus, wenngleich mit von Welling, Krebs und Bernus von Guaita drei Personen genannt wurden, die schon dreißig Jahre zuvor im Vorstand waren und die nach der geltenden Satzung auf unbestimmte Zeit gewählt waren.
6. Die Zeit von 1900 bis 1930
Einer Veröffentlichung des Allgemeinen deutschen Wohnungskongresses von 190419 kann man folgende Daten zur wirtschaftlichen Lage entnehmen: Für Kost und Logis wurden 1902/03 (das Haushaltsjahr ging damals allgemein von 1. April bis 31. März) 20.322, 45 Mark eingenommen, denen als reine Betriebsausgaben 14.809, 68 Mark gegenüberstanden. Die Einnahmen kamen von 1.102 Dienstmädchen mit 7.615 Verpflegungstagen, 81 Bildungsschülerinnen mit 13.463 Verpflegungstagen und im Hospiz 347 Damen, die meist nur eine Nacht dort verbrachten. Die Schülerinnen zahlten 240 Mark im Jahr. Stellenlose Dienstboten zahlten für Unterkunft und Verpflegung pro Tag in Klasse I 1,50 Mark, in Klasse II 1,- Mark und in Klasse III 0,80 Mark. Lehrerinnen im Hospiz zahlten 3,- Mark pro Tag.
Mit der Zeit nahm die Schularbeit so viel Platz in Anspruch, dass man sich entschloss, im Gartengelände einen Neubau für das Hospiz zu errichten. Der Hospizbau wurde ebenfalls 1904 eingeweiht.
Über die Zeit während des 1. Weltkrieges kann man im Jahresbericht für das Jahr 1915 von Pfarrer Conrad Kayser lesen:
„Ich bin zu gering aller Barmherzigkeit und aller Treue, die du an deinem Knechte ge-tan hast (1. Mose 32, 11). So dürfen wir auch sprechen im Blick auf das verflossene Jahr, das wir wiederum mit unserm Hause im Kriege haben durchwandern müssen. Aeußerlich hat Gott uns in Gnaden durchgeholfen. Er hat es uns an nichts fehlen las-sen, was wir bedurften. Unsere Haushaltungsschule, unser Hospiz und die anderen Heime unseres Hauses waren stets gefüllt, und wenn es auch je und dann nicht leicht war, für die vielen Menschen die nötigen Nahrungsmittel zu beschaffen, so ging es eben doch; Gott hat uns treulich durchgeholfen. Die Leiterin unseres Hauses, Schwester Emi-lie Kuhlmann, ist immer noch in der Pflege unserer Krieger in Sedan beschäftigt; sie hat uns besuchen können, und wir haben uns gefreut, zu sehen, daß sie wohlauf ist, und Freudigkeit hat zu ihrem schweren Dienst. Die andern Schwestern haben mit viel Treue die Stelle der Fehlenden im Hause ersetzt.
Die innere Arbeit im Hause war nicht immer ganz leicht. Der Krieg hat die Nerven und die Gemüter der Menschen aufs tiefste erregt. Das macht sich überall im Zusammenle-ben der Menschen geltend. Das wirft seine Schatten auch in unser Haus hinein, in wel-chem so viele verschiedene Menschen zusammenleben. Es bedurfte auch da bei der Lei-tung viel Weisheit und Takt und Gebetsgeist.”
Was Schwester Emilie Kuhlmann berichtet hat, wissen wir nicht. Vielleicht entsprach es aber dem, was ihre Mitschwester Marie Hudel 1915 der Oberin des Diakonissen-hauses aus Sedan geschrieben hat:
„ Sedan, den 13.11.15, Sehr verehrte, liebe Frau Oberin! … Ich bin seit Wochen wieder in meinem früheren Saal, der im Sommer unbelegt und bis auf die Bettstellen, Matrat-zen und einige Decken ausgeplündert war. Mit 40 Liegenden war ich allein, wusste nicht, wo ich anfangen sollte. Viele kamen in unbezogene Betten, weil keine Wäsche da war, und bekamen aus Mangel an Kissen ihre Kleider unter den Kopf gelegt. Handtü-cher waren ebenfalls nicht da, und so wurden immer 3 Patienten an einem Hemd ab-getrocknet. Es war so traurig, dass man die armen Menschen nicht besser betten konn-te, mancher stöhnte auf seinem harten Lager, und wer Schmerzen hatte oder nicht gut lag, bekam einfach Morphium. Man konnte immer mit der Spritze herumlaufen. Die Ärzte waren ja so in Anspruch genommen, dass sie ganz selten auf die Station kommen konnten und wir immer mündlich über die Kranken berichten mussten. Wunden, an die man sich sonst nie wagen dürfte, mussten wir selbst verbinden. Man war ganz al-lein mit seinen Sorgen um die Kranken ... Wir haben nicht allein viel mit den Kranken zu tun, sondern auch mit der Esserei. Wie oft haben wir nicht genug für die Leute. Wie sparsam müssen wir mit dem Wasser umgehen, weil jeder Tropfen unten im Hof geholt werden muss. Dann haben wir viel Not mit dem Ungeziefer ... Die Betten sehen nun viel besser aus. Kissen, Stühle, Gläser, Bestecke, elektrische Birnen usw. haben wir eines Abends im Dunkeln in einem leeren Hotel zagenden Herzens requiriert. Die Not zwang uns einfach dazu ... Mit herzlichem Gruß bin ich ergebenst Ihre dankbare Marie Hudel”20.
Der Jahresbericht 1915 enthält auch statistische Angaben zur Tätigkeit des Martha-hauses. Danach hielten sich im Jahr 1915 757 Dienstmädchen und „Hausbeamtinnen” mit 13.668 Verpflegungstagen sowie 230 Hospizdamen mit 3.762 Verpflegungstagen im Hause auf. Hinzukamen 94 Haushaltungsschülerinnen mit 16.117 Verpflegungsta-gen. 390 Herrschaften suchten Mädchen. 34 Dienstmädchen erhielten eine Stelle vom Haus aus. Von den Schülerinnen erhielten 14 eine Stelle, kehrten 34 nach Hause zu-rück, wurden 11 entlassen und blieben 34 in der Anstalt. Der Jahresabschluss wies Einnahmen und Ausgaben von 52.262,49 Mark aus. Dazu gehörten Betriebseinnah-men von 42.556,55 Mark und Betriebsausgaben von 32.392,90 Mark. Die hohe Zahl der Mädchen, die nach Hause zurückkehrten, könnte darauf beruhen, dass die Ausbil-dungsstätte des Marthahauses inzwischen auch für Mädchen gewählt wurde, die nicht in den Dienstmädchenberuf gehen wollten, sondern auf ihre Hausfrauentätigkeit vor-bereitet werden sollten. Damit hätte sich das Marthahaus in den Bereich der seit Mit-te des 19. Jahrhunderts populären Haushaltungsschulen begeben, die als Alternative zu einer Berufsausbildung auf ein Leben als Mutter und Hausfrau vorbereiteten.
Im Jahr 1916 gab es eine Festschrift zum 50jährigen Bestehen des Marthahauses. In ihr würdigte Pfarrer Conrad Kayser die Arbeit des Hauses in der Vergangenheit. Mar-garethe Krebs schilderte liebevoll und ausführlich das Leben im Marthahaus. Von Pfarrer Wilhelm Busch stammte eine Chronik. Der Bericht von Margarethe Krebs be-gann so:
„Es ist Sommerszeit, in welcher der Tageslauf schon um 1/2 6 Uhr beginnt; flink ver-läßt ein Jedes sein Lager, und beeilt sich, daß es zur Andacht um 1/2 7 Uhr pünktlich fertig ist. Mit fröhlichen Augen versammeln sich alle Schülerinnen im großen Eßsaal am Harmonium um die vorstehende Schwester; - wer ruft sich dabei nicht die Namen von Schwester Wilhelmine oder der heimgegangenen Schwester Emma Burk und auch unserer tapferen Kriegsschwester Emilie ins Gedächtnis, - diese liest die Andacht des Tages, und darauf erklingt das frohe Morgenlied es ist eine Freude, die hellen Mäd-chenstimmen durch den frühen Sommermorgen erschallen zu hören. Doch dann kommt auch der jugendliche Appetit zu seinem Recht. Die Kinder scharen sich um die langen Frühstückstische und verzehren vergnügt Kaffee und Brödchen, denn diesen haben in unserer neuen Zeit die kräftige Morgensuppe mit Schwarzbrot weichen müssen.Dann heißt es hurtig antreten, um die verschiedenen Arbeitsstätten aufzusuchen, denn eine Fülle von Arbeit soll bis 9 1/2 Uhr erledigt werden; besonders montags ist Eile von Nö-ten, da Berge von Wäsche bewältigt werden sollen, und man sie gerne bei schönem Wet-ter recht frühzeitig auf der Leine flattern sieht. Die Jüngsten eilen mit Scheuertuch und Besen auf die Gänge und Treppen, denn die vielen großen und kleinen Füße machen ein Großreinemachen täglich nötig. Auch in den beiden Empfangszimmern am Eingang sehen wir emsige Mädchenhände bei der Arbeit, alles freundlich für den Empfang von Herrschaften, die Dienstboten suchen, zu richten; der Spruch über dem Schreibtisch: „In aller Unruh' sei Jesu Du, heimlich meine süße Ruh”, belehrt uns, daß dieses Amt für die dort waltende Schwester ein recht ernstes ist und reiflicher Überlegung sowohl der Suchenden, als der Empfehlenden bedarf.”
An anderer Stelle in den Unterlagen kann man lesen, dass dieser Kontakt mit den „Herrschaften” für die Diakonissen zunächst fremd und sehr gewöhnungsbedürftig war.
Von 1919-1922 lag die Leitung des Hauses in den Händen von Diakonisse Dora Cars-tens. Als diese die Aufgabe aus gesundheitlichen Gründen aufgeben musste, schrieb sie eine Bericht, der viel über die Auswirkungen des Krieges auf das Marthahaus aus-sagt.
„Als ich die Arbeit von Schwester Emilie Kuhlmann und Schwester Emma Wolff über-nahm, herrschten dort sehr verworrene Verhältnisse. Schwester Emilie war über 4 Jah-re in Frankreich im Kriegsdienst gewesen. Durch die Kriegswirren waren alle mögli-chen Elemente als Dauermieter in das Haus hereingekommen, die absolut nicht in den Rahmen unseres Hauses passten und die uns viel Schwierigkeiten machten. Wie dank-bar war ich darum, dass Herr Rechtsanwalt Vömel uns mit seinem Rat und seiner Hil-fe beistand, sodass es uns nach und nach gelungen ist, wenigsten einen Teil dieser Ele-mente herauszubekommen. Auch die wirtschaftlichen Verhältnisse waren sehr schwie-rig, mussten wir doch noch lange mit den Karten wirtschaften. Vorräte waren nicht im Geringsten vorhanden, dabei sollten täglich über 100 Menschen versorgt werden. Wir versuchten längere Zeit, den Betrieb dennoch aufrecht zu erhalten, und unsere Küchen-schwester Elisabeth Mandler hatte keine leichte Aufgabe, täglich für die 5 verschiede-nen Tische genügend Essen zu bereiten. … Die Herberge (für stellenlose Mädchen, d. Verf.) befand sich in dem schönen Saal 4 im 2. Stock im Haupthause. Auch dort waren so allerlei Elemente zusammen, am wenigsten stellungsuchende Mädchen, sondern es wurden uns von der Polizei aufgegriffene Menschen gebracht, Polinnen, Dirnen usw. und wir haben sie aufnehmen müssen, denn es hieß immer: „Ihr habt eine Herberge.” Da beschloss der Vorstand, diese Herberge aufzulösen.”
Im Jahresbericht für 1925 waren folgende Zahlen enthalten: 221 Gäste mit 17.483 Ver-pflegungstagen (pro Kopf ca. 80 Tage) und 72 Schülerinnen mit 12.206 Verpflegungs-tagen (pro Kopf ca. 170 Tage)21. Die Jahresrechnung für das Jahr 1925 wies in Einnah-men und Ausgaben 44.834,69 Mark aus. Die Betriebseinnahmen betrugen 43.370,59 Mark, die Betriebsausgaben 30.422,- Mark.
Probleme bereitete die Einführung der allgemeinen Berufschulpflicht nach dem Ers-ten Weltkrieg, weil die Berufsschule nun in Konkurrenz zur Haushaltungsschule trat. 1926 gelang es zunächst, mit der Schulbehörde eine Übereinkunft zu erzielen, dass die Schule bei Erweiterung des Lehrpersonals weiterarbeiten kann22. 1927 wurde dann der Antrag auf Befreiung der Schülerinnen von der Berufsschulpflicht und auf Anerkennung als Haushaltungsschule gestellt, der durch die Regierung in Wiesbaden entschieden wurde. Man musste nun den Lehrplan erweitern und 1928 eine Gewerbe-lehrerin für die Fächer Erziehungslehre, Gemeinschaftskunde, Rechnen, Deutsch und Schriftverkehr sowie Gesundheitskunde anstellen.
1926 bestand das Kuratorium des Marthahauses aus: Pfarrer Heinrich Abraham als Vorsitzendem, Frau R. Flersheim, Frau Oskar Günther als stellvertretender Schrift-führerin, Herrn Leonhard Heunisch, Frau Eduard Holzmann, Konsistorialrat D. Con-rad Kayser als Schriftführer, Herrn Landgerichtsrat Dr. Paul Majer als stellvertreten-dem Schatzmeister, Frau Hugo von Metzler, Herrn C. A. Scharff-Andreae als Schatz-meister, Frau Hermann Schepeler, Frau Geh. Medizinalrat Dr. Schmidt-Metzler, Herrn Rechtsnanwalt Dr. Vömel als stellvertretendem Vorsitzenden und Frau Direk-tor Dr. Weller.
Doch die Zahl der Schülerinnen ging zurück. Dr. Paul Majer, seit 1926 im Vorstand; beschrieb die Situation 1964 so23: „Zwar war der Ruf des Marthahauses als einer Stät-te nicht nur guter Ausbildung von Fertigkeiten, sondern auch der Pflege evangelischer Gesinnung fest begründet worden. Aber in den ländlichen Einzugsgebieten machte sich die Wirtschaftskrise ebenso bemerkbar wie in den Städten. Die bäuerlichen und Handwerkerschichten brauchten die Töchter mehr daheim und konnten die Pensions-gelder nur mit Mühe aufbringen. Unter solchen Verhältnissen war eine wirtschaftlich unabhängige Haushaltsschule auf die Dauer nicht zu halten.” So beschloss der Vor-stand 1930 auf Vorschlag von Pfarrer Karl Veidt, die Haushaltungsschule aufzugeben und aus dem Marthahaus ein Altenheim zu machen. Große Umbaumaßnahmen wur-den nicht vorgenommen. Das Haus hatte überwiegend Doppelzimmer und ein Vier-bettzimmer.
7. Drittes Reich und 2. Weltkrieg
Es gibt keine Unterlagen darüber, ob und ggf. wie die politische Situation der Zeit im 3. Reich auf das Leben im Marthahaus eingewirkt hat. Über das Frankfurter Diako-nissenhaus, das zur Bekennenden Kirche hielt und den Vorsitzen Pfarrer Karl Veidt, der ebenfalls der Bekennenden Kirche angehörte, gab es aber doch Zusammenhänge. Das Diakonissenhaus stand geschlossen zur Bekennenden Kirche. Hierfür war beson-ders Senatspräsident Dr. Heldmann verantwortlich. Aus der Sicht der Kreisleitung der NSDAP wurde es von Deutschnationalen beherrscht24. Deshalb ordnete Gauleiter Sprenger im Frühjahr 1934 an, dass es einer gründlichen Säuberung unterzogen wer-den müsse25. Trotzdem konnte die Diakonissenanstalt in ihrer Festschrift 1995 fest-stellen26, dass der Arierparagraf auf Beschluss des Vorstandes nicht angewendet wur-de und was das bedeutete. Prof. Dr. von Mettenheim blieb im Vorstand. Dr. Richard von Lippmann blieb Chefarzt der Inneren Abteilung. Prof Dr. Max Flesch-Thebesius konnte vertretungsweise operieren. Pfarrer Gustav Oehlert, von der Hannoverschen Kirche in den Wartestand versetzt, nahm inoffiziell seelsorgerliche Aufgaben wahr. Die Schwestern sorgten, so lange wie möglich, auch für jüdische Patienten.
So schrieb der Vorsteher des Diakonissenhauses Pfarrer Karl Martin Hofmann, Mit-glied des Vorstands des Marthahauses, im Frühjahr auch an die im Marthahaus tä-tigen Schwestern:
Liebe Schwestern, Euer Weg ist in dieser Zeit nicht einfach und nicht leicht. Wir im Mutterhaus haben in diesen Tagen oft an Euch draußen vor Gott gedacht. Zweierlei scheint mir in erster Linie notwendig zu sein:
1. Daß wir viel schweigen. Es wird in den Häusern jetzt über die Judenfrage und die Sozialistenfrage viel verhandelt. Der eine ist dafür; der andere erklärt sich dagegen. Unsere Schwestern werden sich davor hüten müssen, sich nicht in die Debatte ziehen zu lassen, sondern zu schweigen. Auch wenn jetzt der Kampf um die Kirche kommt, - und in Frankfurt zum mindesten wird die sogenannte „Glaubensbewegung deutscher Christen” dafür sorgen – so werden unsere Schwestern sich ganz zurückhalten müssen. Es wird auch nicht angängig sein, daß unsere Schwestern die in der nächsten Zeit stattfindenden kirchenpolitischen Volksversammlungen besuchen. Denn hinter dem allen steht das Zweite, worauf ich hinweisen wollte.
2. Unser großer, schöner Dienst, den wir jedem ohne Ausnahme irgend einer Person von Gott her schuldig sind. Der stille Tatbeweis der Liebe ist in dieser Zeit von den Diako-nissenhäusern zu liefern. Wir sind niemals Parteileute, sondern Christi Dienerinnen, des Christus, welcher für alle gestorben und auferstanden ist. Liebe Schwestern, wir sind im letzten Grunde das, was wir aus uns machen. Darum lassen wir uns in keiner-lei Parteieifer und politische Leidenschaft hineinziehen, sondern haben nur eine Liebe: Den Herrn Christus, und ein Ziel: daß die uns anvertrauten Menschen selig werden.
Zeiten wie die, welche wir jetzt durchleben, helfen uns, charakterfest und verantwor-tungsbewußt zu werden. Solche Schwestern muß unser Mutterhaus jetzt haben. Gott der Herr gebe Euch seinen Heiligen Geist, damit er Euch in allem Takt, Weisheit, Stil-le, Schweigen, Kraft und ein herzliches Erbarmen schenke.
Der Herr segne und behüte Euch und gebe Euch großen Frieden.
Mit herzlichen Grüßen
Euer Pfarrer Hofmann”
Auch die Dreikönigsgemeinde, in deren Bezirk das Marthahaus liegt, hatte sich der Bekennenden Kirche angeschlossen. Pfarrer der Gemeinde waren Martin Schmidt seit 1931 und Fritz Creter seit 1934. Mit einstimmigem Beschluss des Kirchenvorstandes trat die Gemeinde am 01.11.1934 der BK bei27 . Am 4. November gab der Kirchenvor-stand, zusammen mit beiden Pfarrern vor dem Altar stehend, der Gemeinde diese Entscheidung bekannt. Die Gottesdienstgemeinde in der vollen Kirche nahm es zu-stimmend zur Kenntnis28. In der gleichen Kirche fand am 04.04.1934 die „stumme Konfirmation” von Pfarrer Karl Veidts Konfirmanden statt. Veidt hatte Redeverbot. Deshalb wurde die Konfirmation seines Konfirmandenjahrgangs 1935 in der Dreikö-nigskirche gefeiert. Alle gesprochenen Teile des Gottesdienstes übernahm der frühere Landesbischof Kortheuer aus Wiesbaden, zu dessen Worten Veidt schweigend die Kon-firmation vollzog.
1941 musste sich der Verein eine neue Satzung geben, die sich von früheren vor allem durch zwei Regelungen unterschied. Zum einen enthielt sie in § 1 die Formulierung „Die Anstalt verfolgt in praktischer Betätigung christlicher Nächstenliebe ausschließ-lich und unmittelbar gemeinnützige und mildtätige Zwecke im Rahmen der §§ 17 und 18 des Steueranpassungsgesetzes vom 16.XI.34.” Zum anderen besagt § 3: „Die Anstalt ist eine Einrichtung der Inneren Mission und erfüllt den in § 1 bestimmten Zweck als Dienst christlicher Nächstenliebe auf der Grundlage des biblischen Evangeliums. Sie gehört dem Centralausschuss für die Innere Mission der deutschen Evangelischen Kir-che in Berlin-Dahlem, Reichensteinweg 24, an. Dieser ist der vom Reich anerkannte Reichsspitzenverband. Er ist nach der Ordnung der Kirche das Organ, durch welches die Leitung der Deutschen Evangelischen Kirche die in der Verfassung der Deutschen Evangelischen Kirche vorgesehene fördernde Obhut ausübt.” Diente die erste Regelung der Steuerfreiheit, so gewährleistete die zweite Regelung die Zugehörigkeit zur evan-gelischen Kirche und schützte im Rahmen der gegebenen Möglichkeiten vor der Gleichschaltung und Unterstellung unter staatliche Behörden.
Im 2. Weltkrieg mussten Bombengeschädigte aufgenommen werden. Es gab keinen To-talschaden; nur das Dach des Haupthauses war durch Brandbomben stark beschädigt. Die Instandsetzung konnte erst 1946 beginnen.
8. Vom Kriegsende bis zur Gegenwart
Die Situation nach dem Kriege beleuchtet ein Schreiben des Diakonissenhauses vom 16. Mai 1946 an das Altersheim Waldmühle in Eberstadt bei Darmstadt: „Unser Mar-thahaus wird wieder instandgesetzt und kann und muß deshalb mehr alte Leute auf-nehmen. Nun fehlen uns aber sehr die seiner Zeit der „Waldmühle” geliehenen Betten. Wir bitten Sie deshalb, dem Marthahaus die 10 Betten so schnell wie möglich zuzu-stellen.”
Im Sommer 1946 lebte der ausgebombte Pfarrer Karl Veidt in Wiesbaden und war schwer an Krebs erkrankt. In dieser Situation nahm Hans Scheffner, der neben der Vorstandsmitgliedschaft im Marthahaus in verschiedensten Funktionen in der Frank-furter Kirche und in der Diakonie ehrenamtlich tätig war, Kontakt mit ihm auf und bat um eine Sitzung des Vorstands des Marthahauses. Er schlug dabei vor zu überle-gen, ob man das Marthahaus nicht dem Verein für Innere Mission angliedern könnte. Wegen seines Anstaltscharakters wäre das juristisch gar nicht so einfach gewesen. Aber es kam auch nicht zu einem Anschluss, sondern das Marthahaus bewahrte sich seine Eigenständigkeit.
Der Einladung zu einer Vorstandssitzung am 23. Oktober 1946 war eine Liste der Vor-standsmitglieder beigefügt. Auf dieser Liste standen Pfarrer Fritz Creter (Dreikönigs-gemeinde), Pfarrer Karl Christian Hofmann (Diakonissenhaus), Landgerichtsrat Dr. Paul Majer, Kaufmann Hans Scheffner, Frau Olga Goeschen, Frau Passavant, Frau Holzmann, Frau Emma Heunisch, Fräulein Schepeler, Herr Scherf und Herr Lenz.
1947 erließ der Vorstand eine neue Ordnung für das Marthahaus. Hier hieß es zum Geist des Hauses:
„Das Marthahaus ist ein christliches Heim, und die Bewohner bilden eine evan-gelische Hausgemeinschaft. Daher muss von ihnen allen erwartet werden, dass sie durch freundliches Verhalten untereinander und gegenseitige Rücksichtnahme den Frieden des Hauses wahren und den Anordnungen der Leiterin gerne nachkommen.
In der täglichen Abendandacht, die durch die leitende Schwester gehalten wird, stellt sich die gesamte Hausgemeinschaft unter Gottes Wort.
Die Bibelstunde wird regelmäßig von einem Pfarrer gehalten und ist ein weiteres Stück Seelsorge für die Hausbewohner.”
Alle Bewohner und Bewohnerinnen hatten diese Ordnung mit ihrer Unterschrift unter eine entsprechende Erklärung als verbindlich anzuerkennen. Die Erklärung mit der Unterschriftenliste ist noch erhalten.
Im Jahr 1950 wurde die Erbauung des Haupthauses vor 75 Jahren gemeinsam mit der Hundertjahrfeier des Vereins für Innere Mission in der Dreikönigskirche gefeiert. Hauptredner waren Bundespräsident Theodor Heuß mit einem Vortrag über Friedrich Naumann und Landesbischof Hans Lilje mit einer Ansprache „Die Unentbehrlichkeit der Kirche für die Welt.”
In den folgenden Jahren wurde es immer schwerer, geeignetes Personal zu finden, und auch das Diakonissenhaus begann, unter Schwesternmangel zu leiden. Deshalb muss-te es 1956 seine Schwestern aus dem Marthahaus abziehen. So stand das Marthahaus vor großen Problemen. Paul Majer beschrieb die Situation 1964 so29:
„Die neue Leiterin, Fräulein Manuela Buecheler, hatte in den ersten Jahren auch zer-mürbende Personalnöte zu überstehen, die durch Anschaffung von Haushaltsmaschi-nen nur zum geringen Teil behoben werden konnten. Diese zu einer Dauererscheinung gewordene Mangellage kann nur gebessert werden, wenn besonders die jüngeren Men-schen einsehen, daß den Alten und Kranken geholfen werden muß und daß die Wertung des Menschen sich nicht nach der Höhe des Einkommens zu richten hat. Eine gewisse Erleichterung haben jetzt die Renovierungsbauten gebracht, die der Vorstand mit Hilfe des hessischen Altenplanes, aus eigenen Mitteln und im weiteren Verlauf mit Hilfe des Diakonischen Werkes und der Stadt Frankfurt veranlaßt hat.”
Aus den Gewinn- und Verlustrechnungen jener zeit ergibt sich, dass 1962 ca. 160.000- DM, 1963 ca. 60.000,- DM, 1965 ca. 36.000,- DM, 1967 ca. 40.00,- DM und 1969/70 ca. 118.000,- DM für Instandsetzungsarbeiten verwendet wurden. Das zeigt die Bemüh-ungen des Vorstands um die Substanzerhaltung. Ob es angesichts der überalterten Bausubstanz ausreichte, kann heute nicht mehr festgestellt werden. Seit 1957 konn-ten im Marthahaus 51 Personen leben. Ihnen standen 33 Einzelzimmer und 7 Doppel-zimmer sowie ein Schlafsaal mit 4 Betten zur Verfügung. 32 Zimmer hatten fließend Wasser.
Die Renovierungsarbeiten von 1964 schufen die Grundlage dafür, dass das Altenheim ungestört weiter betrieben werden konnte. Dies änderte sich jedoch im Jahr 1987. Die Lage des Hauses, das noch 45 Plätze hatte, beschrieb ein Aktenvermerk:
„Die Situation ist geprägt durch eine Zunahme der Pflegefälle aus dem eigenen Haus. Es sind lediglich vier Pflegeplätze vorhanden. Die Bausubstanz, insbesondere des Sei-tenhauses, ist völlig überaltert und genügt nicht den heutigen Ansprüchen. Das Haupt-gebäude in der Schifferstraße hat einen ungeeigneten Zuschnitt. U. a. ist auch die sani-täre Ausstattung unbefriedigend. Einerseits ist eine Verbesserung der baulichen Situa-tion bei den gegebenen Gebäuden nicht möglich, anderseits ist die Haus- und Gebäude-situation unbefriedigend. Der Betrieb kann in dieser Form nicht mehr aufrecht erhalten werden.”
Am 14. April 1987 nahm die Bauaufsichtsbehörde ein Überprüfung des Marthahauses vor allem unter Brandschutzgesichtspunkten vor. Schon dabei wurde deutlich dass die umfangreichen Forderungen aus finanziellen Gründen und wegen der überalterten Bausubstanz nicht zu erfüllen waren. Der Vorstand führte deshalb Gespräche mit möglichen Trägern zur Mithilfe bei einem Neubau, auch mit dem Evangelischen Regi-onalverband Frankfurt am Main. Unter dem Gesichtspunkt der völlig veralteten Bau-substanz und des Zuschnitts des Grundstücks blieben diese Versuche aber ohne Er-folg. Die Gewährung von Landesmitteln war allenfalls 1988/89 denkbar. Das benach-barte Krankenhaus in Trägerschaft des Gemeinschaftsdiakonieverbandes war aber be-reit, das Grundstück für 1 Mio DM zu kaufen. Am 31. Juli 1987 lud deshalb der Vor-sitzende, Pfarrer Wilhelm Gegenwart zu einer Sitzung des Verwaltungsrates am 1. September ein. Dort schlug der Vorstand vor, das Heim in absehbarer Zeit zu schlie-ßen, das Grundstück an den Gemeinschaftsdiakonieverband zu verkaufen und zu gegebener Zeit an anderer Stelle ein neues diakonisches Projekt zu beginnen. Am 19. September traf dann der Bescheid der Bauaufsicht ein und enthielt die erwarteten Forderungen, allerdings mit einer Fristsetzung für die Erledigung von 10 bzw 14 Wo-chen. Das Marthahaus stand also vor der Schließung.
Der Vorstand des Marthahauses verhandelte also weiter. Dabei gelang es einerseits, mit dem Gemeinschaftsdiakonieverband einen Tausch zu vereinbaren. Der Verband sollte das Altenheimgrundstück erhalten und der Marthahausverein dafür ein gegen-überliegendes Grundstück. Fläche und Wert dieses Grundstück waren aber deutlich größer bzw. höher als der des Heimgrundstücks. Auf dieser Grundlage war nun auch der Evangelische Regionalverband Frankfurt am Main bereit sich zu beteiligen. So kam am 25. September 1991 ein Vertrag zustande, der dem Marthahaus wieder eine Zukunft eröffnete. Marthahaus und Evangelischer Regionalverband erwarben gemein-sam vom Gemeinschaftsdiakonieverband eine Fläche von ca. 3.126 qm westlich der Schifferstraße. Dabei tauschte das Marthahaus sein seitheriges Grundstück gegen eine entsprechende Fläche des neuen Grundstücks und der Regionalverband trug den Kaufpreis für die Restfläche. Die beiden Eigentümer bildeten eine Gemeinschaft nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch. Unter Berücksichtigung des Wertes des alten Martha-haus-Grundstücks und des vom Regionalverband zu tragenden Kaufpreises sowie evt. weiterer Zahlungen des Regionalverbandes erhielten in der Gemeinschaft das Martha-haus eine Stimme und der Verband zwei Stimmen. Bau und Betrieb des neuen Hauses wurden der Evangelischen Gesellschaft zum Betrieb von Wohn-, Alten- und Pflegehei-men übertragen, der die Eigentümergemeinschaft ein Erbbaurecht am Grundstück einräumte. Am 19. Dezember 1995 konnten die Bewohner und Bewohnerinnen des Marthahauses in das neue Gebäude umziehen. Am Freitag, den 5. Juli 1996 wurde das neue Haus offiziell eingeweiht.
Im Jahre 1997 gab sich das Marthahaus eine neue Satzung, der zu Folge es nun „Al-tenheim Marthahaus Frankfurt am Main – kraft staatlicher Verleihung” heißt. Als Organe nennt die diese Satzung den Verwaltungsrat und den Vorstand (§ 4). Ein Ver-waltungsrat besteht zur Zeit nicht. Der Vorstand besteht zur Zeit aus Frau Barbara Koch als Vorsitzender sowie den Herren Frölich, Pfarrer Jürgen Seidl (Dreikönigs-gemeinde) und Ralf-Günter Werb. Das Haus selbst wird weiterhin von der Evange-lischen Gesellschaft zum Betrieb von Wohn-, Alten- und Pflegeheimen betrieben.
Literatur und Quellen
Hauptquelle ist das Archiv des Marthahauses. Allerdings stehen einer profunden Darstellung die großen Lücken entgegen, die die Zeit dem Archiv zugefügt hat.
Albert, Jürgen: Die Innere Mission in Nassau-Hessen und das „Dritte Reich”, in: Grunwald, Klaus-Dieter/Oelschläger, Ulrich (Hrsg.): Evangelische Landeskirche Nassau-Hessen und Nationalsozialismus. Auswertungen der Kirchenkampfdokumentation der EKHN. Quellen und Studien zur hessischen Kirchengeschichte Band 22, Darmstadt 2014, S. 476-530.
Bauer, Thomas / Hoede, Roland: In guten Händen. Vom Bockenheimer Diakonissenverein zum Frankfurter Markus-Krankenhaus. 1876 – 2001. Frankfurt a. M. 2001.
Benad, Mathias / Telschow, Jürgen: „Alles für Deutschland. Deutschland für Christus” Evan-gelische Kirche in Frankfurt am Main 1929 bis 1945. Frankfurt a. M. 1985.
Cahn, Ernst im Auftrag des Vorstandes I. Allgemeinen deutschen Wohnungskongresses: Die Gemeinnützige Bautätigkeit in Frankfurt am Main, Frankfurt a. M. 1904.
Dechent, Hermann: Kirchengeschichte von Frankfurt am Main seit der Reformation, 2 Bände, Leipzig 1913 und 1921.
Dienst, Karl: Rund um die Paulskirche, in: Jahrbuch der Hessischen Kirchengeschichtlichen Vereinigung, 54. Bd. 2003, Darmstadt 2003, S. 197-208.
Frankfurter Diakonissenhaus: Blätter aus dem Mutterhaus.
Frankfurter Diakonissenhaus: 125 Jahre Frankfurter Diakonissenhaus, Frankfurt a. M. 1986.
Kayser, Conrad: Spener als Armenpfleger, in: Frankfurter Kirchenkalender 1893, 24 ff.; Nachdruck in: Christoph Führ/Jürgen Telschow: Die evangelische Kirche in Frankfurt am Main in Geschichte und Gegenwart. Frankfurt am Main 1980, S. 173-176.
Krebs, Albert: Dreikönig im Kirchenkampf, in: Gegenwart, Wilhelm (Hrsg.): 450 Jahre Evan-gelische Dreikönigsgemeinde. 100 Jahre neue Dreikönigskirche. Frankfurt a. M. 1981, S. 151-177.
Majer, Paul: Das Marthahaus. Von der Mädchenschule zum Altenheim, in: Welt-Weite Hilfe, 14. Jahrgang, Heft 5, 1964, S. 27-30.
Schlögl, Rudolf: Alter Glaube und moderne Welt. Europäisches Christentum im Umbruch 1750-1850. Frankfurt a. m. 2013.
Zum ersten Mai 1916. Das Marthahaus in Frankfurt am Main. Fünfzig Jahre einer stillen Friedensarbeit, Frankfurt am Main 1916.
Schneider, Konrad: Neue Quellen zur Tätigkeit des Frankfurter Oberbürgermeisters Friedrich Krebs 1933-1945, in: Archiv für Frankfurts Geschichte und Kunst, Band 65. Frankfurt a. M: 1999, S. 350-362.
Treplin, Hans Gustav (Hrsg.): Evangelischer Verein für Innere Mission in Frankfurt am Main 1850-1990. Frankfurt am Main 1990.
1Albert, Innere Mission, S. 481.
2Schlögl, Alter Glaube, S. 263.
3Kayser: Spener als Armenpfleger, S. 175
4Treplin, Evangelischer Verein, S. 25.
5 Dechent, Kirchengeschichte II, S. 432.
6 *1804 Frankfurt a. M., +1846 Frankfurt ?, 1807-1813 Pfarrer in Nieder-Erlenbach, 1813-1843 Pfarrer in Frankfurt.
7 *1829 Frankfurt a. M., +1902 Frankfurt, Dr. phil., 1855-1857 Prediger am Versorgungshaus, 1857-1902 Pfarrer Frankfurt, Dreikönigskirche, 1873 Mitglied des lutherischen Konsistoriums, 1879 Senior des Predigerministeriums.
8Dechent, Hermann, Kirchengeschichte II, S. 432.
9Kayser, Conrad, Ich gedenke der vorigen Zeiten, in Zum ersten Mai 1916.
10Auszug aus dem Adreßbuch von Frankfurt am Main 1872 S. 669, Archiv des Marthahauses.
11Majer, Marthahaus, S. 27.
12Lukas 10, 38 ff.
13Z. B. Johannes 13, 34.
14Majer a.a.O. S. 28
15Textfragment im Archiv das Marthahauses, das Gustav Teitge zugeordnet werden kann, da er nach 1990 Vorsitzender des Marthahauses war.
16Majer datiert das schon auf das Ende des Jahres 1866. Demgegenüber bestehen Bedenken. Erwähnt doch das Rundschreiben von 1898, dass im Jahr 1867 überhaupt erst die Genehmigung zum Grundstückserwerb eingeholt werden musste.
17Bedingungen zur Aufnahme der Schülerinnen in das Marthahaus in Frankfurt a. M., Archiv des Marthahauses.
18Kopie im Archiv des Marthahauses.
19Cahn, Gemeinnützige Bautätigkeit.
20Frankfurter Diakonissenhaus: Blätter aus dem Mutterhaus, Nr. 463, September 2014, S. 12 f.
2160 Jahre Marthahaus -Arbeit, Archiv des Marthahauses.
22Bericht über das 61. Jahr der Arbeit des Marthahauses, Archiv des Marthahauses.
23Majer, Das Marthahaus, S.29
24Ebd.
25Schneider, Krebs, S. 355 f.
26 125 Jahre Frankfurter Diakonissenhaus, S. 97 f.; Bauer/Hoede, In guten Händen, S. 60.
27 Benad/Telschow, Alles für Deutschland, S. 113.
28 Krebs, Dreikönig im Kirchenkampf, S. 163.
29a.a.O. S.30.