Hermann Dechent, der Frankfurter Kirchenhistoriker

Hermann Dechent, der Frankfurter Kirchenhistoriker

Vortrag am 22. November 2012 vor dem Evangelisch-lutherischen Predigerministerium zu Frankfurt am Main

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Einführung

Lohnt es sich heute noch, an Pfarrer und Konsistorialrat Dr. phil und Dr. theol. Hermann Dechent zu erinnern? Ich meine ja, und ich hoffe, dass ich Sie mit dem Folgenden davon überzeugen kann. Als ich im Jahre 1966 meine Tätigkeit beim damaligen Gemeindeverband in Frankfurt am Main antrat, wurden mir zur Information zwei Werke zweier Frankfurter Pfarrer in die Hand gedrückt: „Der Kübel” und „Der Dechent”. Gemeint waren „Das evangelische Kirchenrecht von Frankfurt” von Johannes Kübel und „Die Kirchengeschichte von Frankfurt am Main” von Herrmann Dechent. Das eine enthielt das frühere Frankfurter Kirchenrecht und kommentierte mancherlei Regelungen aus alter Zeit, die damals noch galten. Das andere erzählte die Geschichte der Frankfurter evangelischen Kirche. Dechents Werk ist nach wie vor die einzige umfassende Darstellung dieser Geschichte. Auch wer sich heute mit ihr befasst, kommt nicht ohne „den Dechent” aus. Schon deshalb gehört Hermann Dechent in eine Vortragsreihe wie die unsrige.

Dechents Wurzeln

Seine Vorfahren waren um 1570 aus den spanischen Niederlanden nach Rheinhessen eingewandert. Sein Vater Johannes Dechent (1789-1873) hatte in Utrecht studiert und  dann  in Westhofen eine  Pfarrstelle erhalten, die er nicht mehr verließ. Vorher hatte er 1815 mit den holländischen Jägern gegen Napoleon gekämpft. Während der Revolution 1848/49 entkam er knapp zwei Mord-Anschlägen und einem Attentat (was der Unterschied ist, konnte ich nicht ergründen).  Seine  Frau, Marie Wilhelmine (1817-1901) war eine Tochter des Frankfurter Arztes und Sammlers von Inkunabeln (Erstdrucken) Georg Kloß. Die Familie Kloß besaß das Frankfurter Bürgerrecht und war u. a. mit den Goethes verwandt. So hatte  Johannes Dechent mit der Eheschließung das Frankfurter Bürgerrecht erworben, war also ein echter Eingeplackter, auch wenn er hier gar nicht lebte. Um bei Hermann Dechents historischen Wurzeln zu bleiben, springen wir zunächst zu seiner eigenen  Heirat. Am 17. September 1878 heiratete er Rosa Finger, ebenfalls ein Frankfurter Bürgerstochter. Unter deren Vorfahren findet man die traditionsreichen Frankfurter Namen Textor, Staedel, Starck und ebenfalls Goethe. Die Fingers hatten ein umfangreiches Familienarchiv, das eine unerschöpfliche Quelle für Hermanns Forschungen wurde.

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Dechents Zeit

Dechents Leben fällt in eine Zeit der Umbrüche. Das Jahr 1866, in dem er nach Frankfurt kam, war das Jahr des Krieges zwischen Preußen und Österreich, d.h. eigentlich dem Deutschen Bund. Frankfurt wurde von Preußen annektiert und verlor seine Selbständigkeit. Aus dem Sitz des Deutschen Bundes wurde eine preußische Provinzstadt. Die Frankfurter konnten das lange nicht verwinden. Allerdings profitierte Frankfurt von den folgenden Gründerjahren und wurde die reichste Stadt Preußens. Erkauft wurde das mit Industriealisierung und Proletariat. Auch die politische Landschaft änderte sich, aber nur langsam, gemessen an den sozialen Veränderungen.In Preußen galt das Dreiklassenwahlrecht, also ein an Besitz und Einkommen orientiertes Wahlrecht. Ein Frauenwahlrecht gab es noch nicht.  Die Folge war, dass ein Großteil der Frankfurter Bevölkerung  politisch nicht vertreten war. Von 1870 bis 1876 gab es in 11 von 14 Wahlbezirken keine Wahlberechtigten, 1878-1894 in 7 von 14 Wahlbezirken. In diesen städtischen Bezirken gab es also niemanden, der soviel besaß, dass er wählen durfte. 1884 schickte Frankfurt erstmals einen Sozialdemokraten in den Reichstag, erst 1902 einen in die Stadtverordnetenversammlung. Politisch dominierten die verschiedenen Fraktionen der Liberalen. Die Frankfurter Gesellschaft war eine des Besitzbürgertums. Hier lebte Dechent und passte mit seinen Interessen  hinein. Über die großen sozialen Probleme oder aktuelle politische Fragen findet man aber nicht viel. Kirchlich gab es neben den reformierten Gemeinden immer noch eine lutherische Stadtgemeinde mit 6 Kirchen und schließlich 12 Pfarrern. Jedes Gemeindeglied suchte sich seinen Pfarrer aus. Erst 1899 wurden Ortsgemeinden geschaffen und 1904 die Kirchensteuer eingeführt. Die Frankfurter Kirche war also im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts weder strukturell noch finanziell den gesellschaftlichen Veränderungen gewachsen. Der 1. Weltkrieg war eine Belastung für Bevölkerung und Kirche in einem nicht gekannten Ausmaß. Die Abschaffung der Monarchie stellte das bisherige Weltbild auf den Kopf. Neue, noch ganz andere, Belastungen ergaben sich durch die diversen Wirtschafts- und politischen Krisen der Weimarer Republik. 1933, zwei Jahre vor Dechents Tod ergriffen die Nationalsozialisten die Macht.

Dechents Lebenslauf

Am 15. September 1850 wurde in Westhofen  Georg Jacob Friedrich Paulus Hermann Dechent geboren. Der kleine Hermann besuchte zunächst von 1856-1859 die Volksschule in Westhofen, erhielt dann von 1859-1863 Privatunterricht von seinen Eltern und wechselte mit 12 ½ Jahren 1863
in die Untersekunda des Wormser Gymnasiums. Dort legte er 1866 mit 16 Jahren die Reifeprüfung ab, erhielt aber wegen seines niedrigen Alters nicht die Universitätszulassung. Deshalb und, um ein auch in Preußen gültiges Reifezeugnis zu bekommen, folgte dem noch einmal die Oberprima auf dem Frankfurter Gymnasium. Das Abitur legte er als „primus omnium” ab. In diesem einen Jahr wurde ihm, auch durch die verwandtschaftlichen Beziehungen, Frankfurt zur Heimat. Ab 1868 studierte er in Heidelberg und Göttingen Theologie, war Mitglied der nichtschlagenden Burschenschaft „Germania” in Göttingen, legte 1871 in Frankfurt das erste theologische Examen ab und 1872 das zweite. Nach seiner Ordination Weihnachten 1872 war er bis 1879 Prediger am Versorgungshaus in der Hammelsgasse. Wegen der schlechten Bezahlung und weil er seine verwitwete Mutter und eine Schwester im Haushalt hatte, verdingte er sich daneben 1871/72 als Hauslehrer beim Freiherrn von Leonhardi und von 1873 bis 1875 beim Druckereibesitzer August Ostererrieth. 1873 wurde er in Jena zum Dr. phil. promoviert, mit einer philosophischen Arbeit über das I., II. und XI. Buch der sibyllinischen Weissagungen, einer antiken Orakelsammlung. 1875 brachte ihm eine siebenwöchige Italienreise die antike Welt näher, und die Beschäftigung mit der Frankfurter Geschichte wurde immer  intensiver. Früchte dessen waren Vorträge und Veröffentlichungen.

1879 wurde Dechent Pfarrer an der Paulskirche und wechselte 1891 an die Weißfrauenkirche.
Seit 1879 gehörte er dem Vorstand des Frankfurter Vereins für Geschichte und Altertumskunde an.1896 wirkte er an der Gründung eines Kirchenbau-Vereins, der dann die Matthäuskirche als Tochter der Weißfrauenkirche baute. 1897 wurde er Mitglied der Schuldeputation, kam dann in den Bezirkssynodalvorstand  und 1906 in das Konsistorium. 1908 folgte eine zweite Italienreise. Ab 1888 gab er auch den Frankfurter Kirchenkalender heraus. 1909 war er an der Gründung des Jerusalemvereins beteiligt. Er führte in Frankfurt musikalische Abendandachten ein. Seine vielseitigen Interessen schlugen sich auch in den Mitgliedschaften im Gustav-Adolf-Verein, im Wartburgverein (für Jugendarbeit), im Evangelischen Bund, im Sittlichkeitsverein und im Tierschutzverein  (1891 im Vorstand) nieder. Ab 1914 leistete er Seelsorge in Lazaretten.1915 erhielt er den Ehrendoktor der Theologischen Fakultät der Universität Marburg. Er trat 1924 in den Ruhestand und verstarb am 19. November 1935. Dies alles war nicht denkbar ohne seine tatkräftige Ehefrau, die ihm in Familie und Gemeinde vieles vom Halse hielt. Die Dechents hatten zwei Töchter (Johanna * 2.7.1879 und Caroline (* 2.7.1883 + 8.7.1951) und einen Sohn (Friedrich Carl Ludwig * 9.6.1885). Beide Schwiegersöhne fielen im 1. Weltkrieg. Caroline Cornill-Dechent war eine in Frankfurt bekannte Künstlerin, von der einige Werke in Frankfurter Kirchen zu finden waren.. Seit dem Wechsel in die Weißfrauengemeinde wohnte die Familie in der Niedenau 58, im Ruhestand in der Brentanostraße 21.

Dechents Persönlichkeit

Dechent war ein kleiner, zierlicher Mann, der für den Militärdienst nicht geeignet und im Krieg 1870/71 Lazarettgehilfe in Worms war. Seine Stimme war nicht kräftig genug, um auf Dauer in der akustisch schwierigen Paulskirche zu predigen, weshalb er an die kleinere Weißfrauenkirche wechselte. Johannes Kübel hat ihm in seinen Erinnerungen ein schönes Denkmal gesetzt: „In ganz außergewöhnlichem Maß hatte sich bei ihm der Geist den Körper gebaut. Umgekehrt war der Geist Spiegel und Ausdruck der Körperlichkeit: äußerst fein organisiert, zierlich, empfindsam, manchmal mimosenhaft ängstlich und auf sich selbst bedacht.” Und doch hätten ihn auch schwere Widrigkeiten  nicht umwerfen können. Damit und mit seinem milden, abgeklärten Urteil sei er vielen Menschen Berater und Vorbild gewesen. Seine Fehler  und Schwächen habe er gekannt und gelegentlich gesagt: „meine Fehler tun den anderen nicht weh”. So sei er ein Frankfurter Original im besten Sinne gewesen und die Verkörperung der Frankfurter Tradition von Ende des 18. Jahrhunderts bis zu seinem Todesjahr 1935. 1

Der Theologe Dechent

Hermann Dechent war ein liberaler Theologe. Er war freiheitlich und kritisch gesinnt und hätte nach Kübel sicher der Bekennenden Kirche angehört. Aber er schätzte auch die Mystiker sehr und sah in ihnen „ einen unerschöpflichen Schatz innerer Frömmigkeit”2. Er sah, wie groß die Kluft zwischen Christentum und moderner Bildung war und dass viele meinten, der Glauben passe nicht mehr in die aufgeklärte Gegenwart. Die Ursache lag für ihn darin, dass man den Glauben nur von der erkenntnistheoretischen Seite auffasse, als Annahme gewisser dogmatischer Formeln ohne oder wider alle Vernunft. Dies hielt er für falsch, weil es beim Glauben um den ganzen inneren Menschen gehe. Dabei berief er sich auf Fichte Schleiermacher und andere. Von dort her vertrat er
einen Idealismus mit national-patriotischen Akzenten, wie er dann von Karl Barth und seinen Anhängern strikt abgelehnt wurde.3  Trotz dieser Grundhaltung konnte er beispielsweise in einer Ansprache anlässlich der Sedanfeier am 2.9.1880 die gefallenen deutschen und französischen Krieger wegen ihrer Ideale und ihres Opfermutes gleichermaßen positiv würdigen4. 1914 ließ er sich auch von der vaterländischen Begeisterung mitreißen. In der Interpretation von Römer 12, 11 (Seid nicht träge in dem, was ihr tun sollt. Seid brünstig im Geiste. Schicket Euch in die Zeit)  sah er den Krieg als Erzieher, nach Gottes Willen und auf Gottes Willen hin5. Nach dem Krieg nannte er in einer Predigt am 18.1.1920 (Reichsgründung 1871) den Friedensschluss eine bittere Enttäuschung und Versailles die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln6. Bei der Verfassungsfeier am 11.8.1923 bejahte er die Weimarer Republik von einem vernunft-republikanischen Standpunkt her. Dazu brachte ihn der Vergleich mit dem Chaos vorher und die den Kirchen mit der Weimarer Verfassung eingeräumte Position im Staat7. Dechent ging geistig mit der Zeit mit, er war feinsinnig und doch kritisch. Trotz all dem war Dechent in erster Linie Gemeindepfarrer. Er machte viele Hausbesuche, hatte viele persönliche Kontakte, arbeitete alle Predigten schriftlich aus. Im Kreise der Kollegen trat er für Verständigung, Frieden und Freiheit ein.

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einen Idealismus mit national-patriotischen Akzenten, wie er dann von Karl Barth und seinen Anhängern strikt abgelehnt wurde.8  Trotz dieser Grundhaltung konnte er beispielsweise in einer Ansprache anlässlich der Sedanfeier am 2.9.1880 die gefallenen deutschen und französischen Krieger wegen ihrer Ideale und ihres Opfermutes gleichermaßen positiv würdigen9. 1914 ließ er sich auch von der vaterländischen Begeisterung mitreißen. In der Interpretation von Römer 12, 11 (Seid nicht träge in dem, was ihr tun sollt. Seid brünstig im Geiste. Schicket Euch in die Zeit)  sah er den Krieg als Erzieher, nach Gottes Willen und auf Gottes Willen hin10. Nach dem Krieg nannte er in einer Predigt am 18.1.1920 (Reichsgründung 1871) den Friedensschluss eine bittere Enttäuschung und Versailles die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln11. Bei der Verfassungsfeier am 11.8.1923 bejahte er die Weimarer Republik von einem vernunft-republikanischen Standpunkt her. Dazu brachte ihn der Vergleich mit dem Chaos vorher und die den Kirchen mit der Weimarer Verfassung eingeräumte Position im Staat12. Dechent ging geistig mit der Zeit mit, er war feinsinnig und doch kritisch. Trotz all dem war Dechent in erster Linie Gemeindepfarrer. Er machte viele Hausbesuche, hatte viele persönliche Kontakte, arbeitete alle Predigten schriftlich aus. Im Kreise der Kollegen trat er für Verständigung, Frieden und Freiheit ein.

Dechent als Geschichtsschreiber

Dechent war kein gelernter Historiker, aber sehr produktiv als Geschichtsschreiber. Man kann von 1000 aber auch von 400013 schriftlichen Veröffentlichungen, Vorträgen und Ansprachen lesen. Ich möchte allerdings nicht ausschließen, dass in dieser Zahl zumindest ein Teil seiner Predigten enthalten ist; denn diese werden auch gerne zitiert. Geht man unbefangen an Dechents Arbeiten heran, dann fällt der erzählerische Stil auf.  Da ist er ganz Kind des 19. Jahrhunderts. Andere Hobbyhistoriker wie Felix Dahn mit „Ein Kampf um Rom” oder Gustav Freytag mit „Die Ahnen” und „Soll und Haben” entführten eine breitere Leserschaft in die Vergangenheit. Von Freytag stammen auch die „Bilder aus der deutschen Vergangenheit”, die den Alltag schilderten, lange bevor die Historiker vor 30/40 Jahren die Alltagsgeschichte wieder zu entdecken meinten. Dechents historische Arbeiten könnte man so auch „Bilder aus dem alten Frankfurt” nennen. Als Beispiel möchte ich Ihnen den Anfang seines Aufsatzes „Ein Tag zu Frankfurt aus Goethes Jugendzeit ( FKK 1905, S. 21 ff.) vorlesen:

„Wir suchen den Senior des lutherischen Predigerministeriums auf an dem Tage, an dem er seine Abschiedspredigt hier gehalten hat – es war der  16. Juni 1686. Wir komme von Friedberg her in einem bescheidenen Reisewagen, wie ihn einst Dr. Martin Luther benützte, als er 1521 nach Worms zum Reichstage zog. Vor unseren Augen liegt die gefeierte Stadt am Untermain, des Deutschen Reiches Wahl- und Krönungsstadt. Ein schöner Anblick bietet sich uns dar, indem das Weichbilds von Frankfurt hier zum ersten male vor uns auftaucht. Wir sehen die großen Festungsmauern mit ihren über 60 Türmen, die bis auf den Eschenheimer Turm und den Kuhhirtenturm in Sachsenhausen der zeit zum Opfer gefallen sind. Vor allem aber grüßt den Wanderer, damals wie heute4, wenn er von Norden kommt, der Pfarrturm, das ehrwürdige Wahrzeichen der Stadt. Bis zum Eintritt in das Friedberger Tor stoßen wir auf unserem Wege kaum noch auf ein Wohnhaus, denn Frankfurt ist vor den Pforten nach allen Seiten hin nur von Gärten und Äckern umgeben.
Wir treten ein durch das Friedberger Tor, nachdem wir uns genügend legitimiert haben; denn es ist eine unruhige Zeit, in der man sorgfältig auf alle paßt, die aus- und einkehren. Unser Weg nach dem Senioratshause führt uns zunächst über die Schäfergasse nach der Zeil. Diese stattliche Straße bildet die Grenze zwischen der Neustadt, die wir zuerst betreten haben, und der Altstadt, in der wir Spener aufsuchen wollen. Ehe wir durch die Katharinenpforte kommen, bewundern wir noch die neuerbaute Katharinenkirche, die erst seit 6 Jahren an die Stelle einer baufälligen Doppelkapelle gleichen Namens getreten ist. Dieses 1680 eingeweihte evangelische Gotteshaus wurde damals so bewundert, daß Worms und Speyer nach einiger Zeit den Baustil bis in die Einzelheiten nachahmten. Wohl war dieses Gotteshaus nicht die Hauptstätte von Speners Predigttätigkeit, da er als Senior hauptsächlich an der damaligen Hauptkirche, der Barfüßerkirche, predigte. Aber er hat sein Interesse an der Kirche auch dadurch kundgegeben, daß er (aller Wahrscheinlichkeit nach) die eigenartigen Bilderzyklen an den beiden Emporen des Gotteshauses selbst entworfen hat. Wir kommen nun durch die Katharienenpforte in die Altstadt, das heißt den Teil Frankfurts, der mit den sogenannten Graben, dem Hirschgraben, dem Holzgraben, dem Wollgraben und dem Baugraben, bei der ersten Stadterweiterung umgeben worden war. Wir wandern weiter über den Kornmarkt und freuen uns im Vorübergehen an dem prächtigen, im gotischen Stile erbauten Stammhause des Stalburger Geschlechts, das am Ende des 18. Jahrhunderts abgebrochen wurde, um der zu erbauenden Kirche der deutschen Reformierten Platz zu machen. Wir grüßen dann aus einiger Entfernung die Lutherherberge zum Strauß, an der Ecke der Buchgasse, in der Dr. Martin Luther vor und nach dem Reichstage zu Worms (1521) abgestiegen war, und wir treten dann, zur linken Hand abbiegend, in die enge Barfüßergasse ein, an deren Ende sich rechts das Senioratshaus befindet.
Dieses Haus steht dicht an der alten, schon damals ziemlich baufälligen Barfüßerkirche. Sie hatte 1669 eine Erneuerung erlebt, und der Turm war 1685 durch einen größeren ersetzt worden. Diese Kirche hat auch zu Speners Zeit eine neue Orgel erhalten, welche die seltsame Inschrift erhielt: „Dieses Werk setzte die Bürgerschaft nicht sowohl aus Liebe zur Kunst, als zur wahren Religion.” Von ähnlicher Engherzigkeit der Kunst gegenüber zeugt der Widerstand gegen ein jetzt in dem historischen Museum befindliches, damals in der Barfüßerkirche angebrachtes Gemälde des jüngeren Matthaeus Merian, das man als „calvinistisch” bezeichnete, weil bei der Darstellung der Auferstehung Christi die Frauen am Grabe, wie auch das Kreuz und die Fahne fehlten. Die Barfüßerkirche war in jener Zeit die evangelische Hauptkirche, während der Dom, der auch vorübergehend (1533-1549) einmal den Lutheranern zugeteilt war, der katholischen Konfession verblieben war.
Wir betreten nun die Stätte, an der Spener 20 Jahre lang geweilt, die Stätte, von der einst auch jene pia desideria (die frommen Wünsche) ausgegangen sind, die den Anstoß zu der kirchengeschichtlich und kulturgeschichtlich so bedeutsamen Bewegung des Pietismus gegeben haben. Das Senioratshaus besteht heute nicht mehr, so wenig, wie die Barfüßerkirche, an deren Stelle die Paulskirche getreten ist. Als man das Senioratshaus im 19. Jahrhundert niederlegte, wurde an dessen Stelle ein lutherisches Pfarrhaus errichtet, das aber auch in der neuen Zeit dem großzügigen Rathausbau zum Opfer fallen mußte. Wir treten nun mit Ehrfurcht in das Studierzimmer Speners. Wohl ist es noch sehr frühe; allein der unermüdliche Mann ist schon lange an der Arbeit. Wir wollen ihn aber nicht stören, denn er liest eben noch einmal das Konzept seiner Abschiedspredigt, die er nachher in der Barfüßerkirche halten wird. Hat doch Spener im Frühjahr 1686 einen Ruf nach Dresden als Hofprediger angenommen, nachdem er 20 Jahre (von 1666-1686) in Frankfurt als Senior gewirkt hat. So will er denn seiner Gemeinde ein letztes Wort sagen, ehe er die Stadt für immer verlassen wird. Und wenn der Senior schon überhaupt in den Morgenstunden keinerlei Besuch annimmt, so wird er heute gewiß dazu nicht willig sein, sich stören zu lassen. Selbst seine Gattin, die er aus der gemeinsamen Heimat, dem Elsaß, mit nach Frankfurt gebracht hat, würde nicht wagen, ihn zu unterbrechen, da sie in rührender Weise ihrem verehrten Herrn Doktor, den sie mit Sie anredet, alle Sorgen abzunehmen sucht. So müssen wir, wohl oder übel, dem Senior über die Schultern sehen, um einen Einblick zu erhalten in das Manuskript, das vor ihm liegt.
Doch ehe wir die Abschiedsrede einsehen, richten wir den Blick auf den Schreibenden selbst.Wenn wir die Züge, wie sie Johann Georg Wagner uns in Oel dargestellt und Kilian gestochen hat, genauer ansehen, fühlen wir, auch ohne uns auf die Kunst der Physiognomik zu verstehen, wie uns das Wesen dieses Mannes aus seinem Antlitz klar entgegentritt. Der Ausdruck seiner Gesichtszüge ist überaus gütig, ganz der Gesinnung Speners entsprechend. Der Eindruck einer unbedingten Zuverlässigkeit tritt uns bei seinem Anblick entgegen. Daneben aber bemerkt man unschwer in seinem Antlitz einen Zug von Ängstlichkeit, wie er gerade bei gewissenhaften Menschen nicht selten ist und sich aus dem Gefühle hoher Verantwortlichkeit erklärt....”

In der Verbindung von Bildung und Unterhaltung erweist sich Dechent als guter Pädagoge.Dabei arbeitete er wissenschaftlich, d.h. seine Darstellungen ergaben sich aus seinen Forschungen, und die Quellen wurden genannt; allerdings nicht in einem Umfang, wie das heute üblich ist. Dabei hatte er Zugang zu Dokumenten, die heute nicht mehr existieren. Man kann sich auf Dechents Darstellungen verlassen.

Dechents Thema ist Frankfurt. Deshalb behandelte er nicht nur die Geschichte der evangelischen Kirche hier, sondern auch andere Bereiche der Frankfurter Geschichte. Entsprechend groß war die Spannweite seiner Themen.  Als Hauptveröffentlichungen könnte man nennen:

Geschichte der von Antwerpen nach Frankfurt verpflanzten Niederländischen Gemeinden Augsburger Konfession, 1885, begr. Von Senior Georg Steitz.
Goethes schöne Seele. Susanna Katharina Klettenberg, 1896.
Herder und die ästhetische  Betrachtung der Heiligen schrift, 1904.
Kirchengeschichte von Frankfurt am Main, Bd. I 1913, Bd. II 1921.

Als er an der Paulskirche war, beschäftigten ihn vor allem das 17. und 18. Jahrhundert. Das weitete er später aus. Ein besonders  liebes Thema war ihm die Goethezeit, vor allem die Zeit des jungen Goethe. Das führte etwa zu dem umfangreichen Werk über Susanna Katharina Klettenberg, einer dem Pietismus zuneigenden Frau, bei der Goethe nach seiner Rückkehr aus Leipzig Halt fand.

Fazit

Hermann Dechent war Kind einer uns kaum noch bekannten Zeit.Vor allem durch den 2. Weltkrieg kann man von dieser Zeit nicht mehr viel sehen, kirchliche Archivalien jener Zeit gibt es auch kaum noch. So begegnet uns Dechent als ein kostbarer Zeuge des alten Frankfurt, das er noch gesehen hatte. Mit ihm wird eine ferne Zeit lebendig. Um so mehr müssen wir ihm danken, dass er so unermüdlich geschrieben hat.

Hermann Marhold – seit 1922 in Frankfurt, von 1926 1962 Pfarrer in der Johannesgemeinde - meinte 1950, dass Dechents Sache nicht die großen Problematiken der Geschichte gewesen seien, sondern die kleinen Einzelgeschehnisse, insbesondere auch einzelne Menschen. Die habe er aber immer im Rahmen des weiteren Zeitgeschehens gesehen14. Da er Kirchengeschichte als Frömmigkeitsgeschichte15 und als Kulturgeschichte gesehen habe, habe er auch den Blick für Dinge gehabt, die eigentlich nicht unbedingt zur Kirchengeschichte gezählt werden. Alle diese Details seien ihm ein Sinnbild für das Walten Gottes gewesen. So habe er im Besonderen das Gesamte aufleuchten gesehen16.

Lese ich Dechent, dann habe ich den Eindruck, es sei alles mit einer liebenden Feder gezeichnet. Das bedeutet nicht, dass er unkritisch war oder nur in die  Vergangenheit verliebt. So schrieb er 1889 über einen Streit der Frankfurter Gelehrten Anzeigen mit dem lutherischen Predigerministerium und der Stadt. Und kurz vor seinem Tod erschien ein Gedicht in schlichten Reimen gegen die Deutschen Christen, die die Bibel von allem Jüdischen befreien wollen.

Zum Schluß möchte ich noch einmal Hermann Dechent zu Wort kommen lassen. Ich lese aus dem 2. Band S. 496 f.

Damit möchte ich schließen und hoffe, dass auch  Sie mir zustimmen und jetzt sagen können, es lohnte sich die Beschäftigung mit Hermann Dechent.

Literatur

Cornill-Dechent, Caroline: Hermann Dechent 1850-1935. Der Frankfurter Pfarrer und Geschichtsschreiber, in: Dechent, Hermann (Hrsg. Jürgen Telschow): Ich sah sie noch, die alte Zeit. Beiträge zur Frankfurter Kirchengeschichte. Frankfurt am Main 1985, S. 2-8.

Dechent, Hermann (Hrsg. Jürgen Telschow): Ich sah sie noch, die alte Zeit. Beiträge zur Frankfurter Kirchengeschichte. Frankfurt am Main 1985.

Dienst, Karl: Geh. Konsistorialrat Pfarrer D. Dr. Hermann Dechent (1850-1935), in: Fischer, Roman (Hrsg.): Studien zur Frankfurter Geschichte B.d 44, Verlag Waldemar kramer, Frankfurt am Main 2000, S. 265-291.

Marhold, Hermann: Hermann Dechent als Kirchengeschichtsschreiber, in: Jahrbuch der Hessischen Kirchengeschichtkichen Vereinigung, 2. Band, Heft 1, 1950, S. 7-50.

Telschow, Jürgen/Reiter, Elisabeth: Die evangelischen Pfarrer von Frankfurt am Main. Frankfurt a. M. 2. Aufl. 1985

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