Vortrag über Propst Dieter Trautwein
Propst Dr. theol. Dieter Trautwein
Vortrag vor dem Evangelisch-lutherischen Predigerministerium Frankfurt am Main am 4. November 2021 von Jürgen Telschow
1. Das Propstamt
Der Titel Propst ist in vielen Kirchen und mit unterschiedlicher Bedeutung zu finden. Gemeinsam ist allen Bedeutungen, dass er den Inhaber eines kirchlichen Leitungsamtes bezeichnet. Die Evangelische Kirche in Hessen und Nassau ist seit ihrer Gründung zur Wahrnehmung der geistlichen Leitung in Propsteibereiche gegliedert. Bis 2010 bildeten die Pröpste zusammen mit dem Kirchenpräsidenten und seinem Stellvertreter ein kollegiales Bischofsamt, das „Leitendes Geistliches Amt“ genannt wurde und das sich zu einer Art Nebenkirchenleitung entwickelte. Nach dem Ausscheiden der Kirchenkampfgeneration begegnete das LGA deshalb mehr und mehr der Kritik. So wurde das LGA 2010 in die Kirchenleitung integriert. Die Funktion der Pröpste blieb weitgehend erhalten, aber es gab nun nur noch eine Kirchenleitung. Von 1970 bis 1988 war Dieter Trautwein Propst für Frankfurt a. M.
2. Ein Steckbrief
Dieter Trautwein wurde 1928 in einer Pfarrerfamilie in Holzhausen Kr. Biedenkopf geboren. 1944 wurde er Luftwaffenhelfer, legte er 1946 das Abitur ab und studierte dann Theologie in Marburg, Mainz, Heidelberg und an der Ökumeni-schen Hochschule Bossey bei Genf. Dem Pfarrdienst in Bad Nauheim, Breidenbach/Breidenstein und Limburg a. L. folgte 1963 die Berufung als Stadtjugendpfarrer nach Frankfurt. Der Tätigkeit als Propst von 1970 bis 1988 folgten noch fünf Jahre als Bibelpfarrer der EKHN. Er starb am 9. November 2002, einem Tag von symbolischer Bedeutung: Revolution 1918, Novemberprogrom 1938, Fall der Mauer 1989. Und nun starb Dieter Trautwein, der Brückenbauer im christlich-jüdischen Verhältnis und Freund Oskar Schindlers, des Gerechten der Völker, genau an einem 9. November. Verheiratet war er mit Ursula Brezger, uns allen als Ursula Trautwein bekannt. Sie ist hatte ihre Ausbildung im Burckhardthaus erfahren und war an der Seite ihres Mannes, aber auch auf vielfältige andere Weise in der evangelischen Kirche aktiv: in der Pfadfinderinnenarbeit, in der Jugendarbeit der EKHN, im Deutschen Entwicklungsdienst, in der Pfarrfrauenarbeit und beim Arbeitskreis „Frau im Beruf“.
Für sein Leben geprägt war Dieter Trautwein durch die BK-Mitgliedschaft seines Vaters und die Erfahrungen als Luftwaffenhelfer. Trautwein gehörte zu der Generation Pfarrer, die als Kinder zwar nicht formell aber faktisch als Soldaten eingesetzt wurden.1 Er war in Sindlingen und Sossenheim, bei Kaiserslautern, Mannheim und Mainz und sogar in den Niederlanden eingesetzt.Wie auch andere ließ ihn das nicht mehr los und war noch viel später Gesprächsstoff. Auch sein Engagement gegen die Wiederbewaffnung und den Vietnam-Krieg hatte hier seine Wurzeln. Zwischen den Einsätzen hatten die Luftwaffenhelfer Schulunterricht in ihrer Stellung. Sowohl beim Einsatz in Frankfurt-Sossenheim wie auch in Kindsbach bei Kaiserslautern wurde der Unterricht von Lehrern aus Gießen und vom Frank-furter Lessing-Gymnasium gehalten. Dabei erwähnte Trautwein in seinen Erinnerungen besonders Professor Dr. Otto Schumann und Studienrat Dr. Karl Ringshausen. „Besonders unter den Lehrern des Frankfurter Lessing-Gymnasiums waren Persönlichkeiten, die sich nicht angepasst verhielten, Lehrer, von denen wir indirekt in unserer Geisteshaltung beeinflusst wurden.“ 2 Schumann war übrigens Mitglied der Bekennenden Kirche, Ringshausen später Leiter des Katechetischen Amtes Frankfurt der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau.
4. Neue Lieder für den Gottesdienst
Während er sich nach dem Krieg auf das Abitur vorbereitete, entdeckte er auch seine Liebe zur Musik. Über Kirchen- und Posaunenchor wie über die Teilnahme an Singewochen mit Kantor Philipp Reich, später Landeskirchenmusikdirektor, entwickelte er Fertigkeiten, die ihn bald befähigten, einen Kirchenchor zu leiten. Im Studium sang er weiter in verschiedenen Chören und gehörte 1948 zu den Mitbegründern der „Hessischen Kantorei“, der er von da an angehörte. Dort übernahm er auch solistische Aufgaben und nahm Gesangsunterricht. Im Studium waren Rudolf Bultmann3 und Ernst Käsemann4 seine wichtigsten theologischen Lehrer. In dem halben Jahr in Bossey sammelte er seine ersten ökumenischen Erfahrungen.
Während seiner Zeit als Pfarrvikar in Bad Nauheim fand in Frankfurt der Evangelische Kirchentag 1956 statt. Trautwein hielt hier Morgenandachten in englischer Sprache und besuchte im Volksbildungsheim die Uraufführung des Musicals „Halleluja-Billy“ mit Texten von Ernst Lange und der Musik von Helmut Barbe. Vielleicht erinnert sich unter Ihnen auch noch jemand an dieses Musical. Ich erlebte es 1956 oder 1957 in Berlin und war begeistert. Dieter Trautwein erinnerte sich: „Im Lied 'Diesen Weg, Herr, diesen Weg lass uns gehen …!', sah ich das Beispiel eines neuen geistlichen Liedes für unsere Zeit. Nicht die direkte Übernahme von Spirituals und Gospelgesängen, sondern ein im ähnlichen Geist von uns selber gewagtes, neues Lied tauchte im 'Halleluja-Billy' auf.“5
1962 kam er dann in Limburg mit der Musik des Modern Jazz-Quartetts in Berührung. Er war fasziniert von dieser Mischung aus konzertantem Jazz und europäischer Kammermusik und von dem Gedanken, solche Variationen auch von Kirchenliedern im Gottesdienst zu verwenden. Als er im Herbst des gleichen Jahres den Komponisten und Musiker Gerhard Kloft kennenlernte, begann eine mehrjährige Zusammenarbeit mit diesem (Vibraphon), Peter Grzeschik (Gitarre) und Manfred Noll (Bass) zur musikalischen Gestaltung neuer Gottesdienste. Die Beteiligung der Instrumente bei der Gestaltung des Gottesdienstes sah Trautwein als einen Ausdruck des Allgemeinen Priestertums.6
Als Dieter Trautwein 1963 Stadtjugendpfarrer in Frankfurt wurde, entwickelte sich die gemeinsame Gestaltung von Gottesdiensten mit jungen Menschen bald zu einem Schwerpunkt seiner Tätigkeit. Aus seiner Vorstellung in der Pfarrkonferenz des Dekanates Höchst entwickelte sich unter Mitarbeit von Pfarrer Roman Roessler die „Arbeitsgemeinschaft Jugendgottesdienst im Dekanat Höchst“. Mit der Zeit wurde diese geradezu eine Werkstatt für gemeinsames Gestalten von Gottesdiensten. 1968 veröffentlichten Trautwein und Roessler die hier gemachten Erfahrungen in einem Werkbuch für den Gottesdienst. Die Grunderkenntnis formulierte Roessler so: „Im Gottesdienst der versammelten Gemeinde führt Christus Menschen zusammen. Mit ihren vielfältigen Gaben sollen sie sich gegenseitig bereichern. Alles, was im Gottesdienst geschieht, rückt daher unabdingbar unter das Kriterium der Kommunikation. Kommunikation aber geschieht im Wechsel von Hören und Reden, Rede und Gegenrede, Frage und Antwort. Ein so verstandener Gottesdienst hat daher prinzipiell dialogische Struktur. Wir werden unser Zutrauen zu den vielfältigen Gaben Gottes und unser Ernst-Nehmen des Mitmenschen daran zu erweisen haben, dass wir im Gottesdienst vielfältigem Reden und Handeln Raum geben.“7 Trautwein aber verarbeitete seine Erfahrungen zu einer Dissertation „Lernprozess Gottesdienst“.
Schon 1963 hatte Trautwein zur Ökumenischen Christmette in der St. Katharinenkirche, die sein Vorgänger als Stadtjugendpfarrer, Hermann Strohmeier, begonnen hatte, eines seiner bis heute am meisten gesungenen Lieder verfasst: „Weil Gott in tiefster Nacht erschienen...“
Allerdings war es nicht leicht, sich damit in der Kirche durchzusetzen. Der Widerstand von Pfarrern, Kirchenmusikern und Gemeinden war zunächst stark. Als Beispiel dafür zitierte Trautwein in seinen Erinnerungen einen anonymen Brief: „Sehr geehrter Herr Stadtjugendpfarrer! Wie in früheren Jahren laden Sie auch diesmal wieder ein zum Huthparktreffen der Ev. Jugend unserer Stadt. Der Gottesdienst soll, wie Sie mitteilen, in moderner Gestalt gehalten werden. Das heißt wohl: Sie werden auch in diesem Jahr wieder mit Ihrer Combo erscheinen und hüftenverrenkend wie ein Clown – mit Freizeitjacke statt Talar – auf dem Huthpark herumgaukeln. Glauben Sie wirklich, Sie könnten auf solch alberne Weise junges Volk für Christus gewinnen? Sie werden mit solchen Mitteln und Mittelchen – um nicht zu sagen: Mätzchen – nur den Abfall, der sich leider mehr und mehr vom Evangelium vollzieht, noch beschleunigen und sich dadurch mitschuldig machen an der zunehmenden Gottlosigkeit unserer Zeit.“8 Wie solche Vorbehalte bis in die Gegenwart wirken, sieht man daran, dass Michael Heymel in seiner „Geschichte der Kirchenmusik in der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau“ von 2016 (Umfang 552 Seiten) dem „Sacropop“ nur wenige Seiten widmet.
Dabei kam doch die Musik auch bei den normalen Gemeindegliedern gut an. Als ich 1968 erstmals eine Fortbildungsfreizeit für die Mitarbeiter des Gemeindeverbandes in Mauloff organisierte, war Dieter Trautwein einer der Referenten. Er führte in diese neue Musik ganz praktisch ein und begeisterte die Teilnehmer. Etwas später wurde in Niedererlenbach das neue Gemeindehaus eingeweiht. Den Festgottesdienst gestaltete Trautwein mit seiner Combo. Im kleinen Kirchlein saßen vor allem ältere Gemeindeglieder und ich mittendrin. Als ich so die Situation bedachte, fragte ich mich, ob Jugendpfarrer und Senioren wohl zueinander finden würden. Doch weit gefehlt. Die Gemeinde ging so mit, dass man meinte, die ganze Kirche würde im Rhythmus der Musik mitschwingen. Auch als Propst setzte er das fort. Seinem Einfluss war es zu verdanken, dass in Frankfurt die „Beratungsstelle für Gestaltung von Gottesdiensten und anderen Gemeindeveranstaltungen“ geschaffen wurde. Als gesamtkirchliche Einrichtung gedacht, kam sie aber nur in der Trägerschaft des Regionalverbandes zustande. Frankfurt wurde zu einem Zentrum des modernen Kirchenliedes und der modernen Gestaltung von Gottesdiensten.
Es gibt 220 Lieder, zu denen Dieter Trautwein Text, Melodie oder beides beigetragen hat. Die eine Hälfte waren originär eigene Lieder, die andere Übertragungen aus der Ökumene. Damit hat er auch eine wichtige Rolle bei der Vermittlung ökumenischen Liedgutes nach Deutschland gespielt.
5. Strukturreform
Geprägt durch die 68er Generation gab und gibt es ein verbreitetes Bild von einer in den 50er und 60er Jahren durch Restauration, Wohlstandsdenken und mangelnde Reformbereitschaft geprägten bundesrepulikanischen Gesellschaft. Die 68er seien es dann gewesen, die frischen Wind hineingebracht hätten. Dieses Bild trifft auf die evangelische Kirche nur sehr bedingt zu. Natürlich war sie zunächst durch den Wiederaufbau gefesselt, und es gab starke konservative Kräfte. In der Kirchensynode standen sich zwei große Gruppen gegenüber: diejenigen, die aus der BK herkamen und deren Erbe pflegten, und diejenigen, die dem konservativen Evangelischen Bund anhingen. Zu ihnen traten dann die jungen Reformer, zu denen Trautwein gehörte. Es gab ja auch verschiedenste Initiativen, Neues auszuprobieren und sich den Herausforderungen der Gegenwart zu stellen; geprägt nicht von den „alten Kämpfern der BK oder DC“ und auch nicht von den Wohlstands-Revoluzzern. Es waren die ehemaligen jungen Soldaten und die Flakhelfer-Generation. Interessanter Weise begannen sie mit Gottesdienstformen.
Seit Anfang der 60er Jahre beschäftigten sich viele Autoren, Arbeitsgruppen und Tagungen zunehmend mehr mit Fragen der Kirchenreform; Strukturreform nannte man das. In diesem Zusammenhang ist der Frankfurter Theologische Arbeitskreis zu erwähnen.9 Er wurde 1964 von Wolfgang Kratz, Hermann Raiß, Roman Roessler und Dieter Trautwein gegründet. In der Folgezeit kamen u. a. auch Dieter Stoodt, Helmut Hild, Gerhard Wendland, Horst Bühler, René Leudesdorff und Hermann Strohmeier hinzu. Unter dem Aspekt der Mitbeteiligung befasste man sich mit Detailfragen der Kirchen- und Gemeindereform: Gottesdienstgestaltung, die Ämter in Kirche und Gemeinde, Reform der Kirchenordnung, Fort- und Weiterbildung kirchlicher Mitarbeiter. Aber auch über Krieg und Frieden, Vietnamkrieg, Wiederaufrüstung, Wehrdienst und Wehrdienstverweigerung dachte man nach und diskutierte man. Manches davon ging ein in gesamtkirchliche Entscheidungen ein. Eine Frucht dieser Arbeit war auch der von Hermann Raiß initiierte, aber bald gescheiterte, Modellversuch der „Integrierten Gesamtgemeinde Nordweststadt“. Nach 1970 fiel der Arbeitskreis auseinander. Helmut Hild war Kirchenpräsident geworden und Dieter Trautwein Propst. Roman Roessler wurde Personalreferent und Wolfgang Kratz Ausbildungsreferent der Kirchenverwaltung. Da passte eine solche Arbeitsgruppe nicht mehr.
Im Frankfurter Kirchlichen Jahrbuch für das Jahr 1966 erfuhr der Leser an unscheinbarer Stelle von einer bemerkenswerten Neuerung für das gottesdienstliche Leben. Wurde da doch berichtet,10 dass Stadtjugendpfarrer Dieter Trautwein gemeinsam mit seinem Kölner Kollegen und einer Gruppe von 35 Jugendlichen aus Frankfurt auf dem Kölner Kirchentag 1965 zwei Gottesdienste in neuer Gestalt ausgerichtet hatte, einen zur Eröffnung und einen zum Ende. Wesentliche Merkmale dieser neuen Gottesdienste waren:
„1. Die Gestaltung der Predigt: in Gruppen erarbeitet, wird sie vom Pfarrer bzw. von Jugendlichen gesprächsweise gehalten, z. B. als 'Tischgespräch'. Ein weiteres Kennzeichen sind die Lichtbild-Meditationen. Sie stehen – mitverkündend- im Zusammenhang mit der Predigt oder diese selbst wird durch Bilder eindringlicher gemacht: ...
2. Jungen und Mädchen sprechen im Gottesdienst Gebete, die sie vorher – oft in langer Arbeit – selbst formuliert haben (auch das Glaubensbekenntnis, in anderen Worten gefaßt).
3. Neue Lieder für die Gemeinde, unter Begleitung einer Combo (Band) gesungen von Einzelstimme, Chor, Gemeinde.“11
Im nächsten Jahr berichtete Trautwein dann allerdings ausführlich unter dem Stichwort „Gottesdienst der Jugend für die Gemeinde“ darüber, dass das Angebot auf dem Kirchentag aus einer mehrjährigen „Gottesdienstarbeit“ in Frankfurt heraus gewachsen war.12 Von Herbst 1963 bis Sommer 1966 hatte die bereits erwähnte Arbeitsgemeinschaft des Stadtjugendpfarramtes mit Gemeinden aus dem Dekanat Höchst über 20 dieser Gottesdienste vorbereitet und durchgeführt. Dazu kamen 16 solcher Gottesdienste in Gemeinden im übrigen Stadtgebiet, die sich ebenfalls aus der Zusammenarbeit mit dem Stadtjugendpfarramt ergaben. In kurzer Zeit hatte Dieter Trautwein also mit seiner Begeisterung für neue Gottesdienstformen und neue Lieder eine Vielzahl von Menschen und Gemeinden für das Neue gewonnen. Dabei war es ihm darauf angekommen, die Jugend nicht in „Nebenräume“ abzudrängen, sondern sie als Mitgestaltende in das Zentrum der Gemeinde, den Gottesdienst für alle, zu holen. Er bezog sich dabei auf die Entdeckung des Priestertums aller Gläubigen in der Reformationszeit und bei Philipp Jakob Spener. „In den Jugendgottesdiensten nach dem Kriege waren die zahlreichen wiederentdeckten altkirchlichen, reformatorischen und nachreformatorischen Lieder, auch die Lieder nach Texten von Jochen Klepper und anderen das passende neue Lied, das mit Schwung gelernt und gerne einstimmig oder mehrstimmig gesungen wurde. … zu Beginn der 60iger Jahre wurde es vollends offenbar, daß die alten und älteren Lieder des ev. Kirchengesangbuches schon vom Inhalt her oft nicht den Akzent der Glaubensaussage von heute haben konnten; ganze Themenbereiche hatten aus kirchengeschichtlichen Gründen bisher keinen angemessenen Niederschlag im Liedgut unserer Kirche gefunden. (Kirche, Gliedschaft am Leibe Christi, weltweite Kirche, Einheit der Kirche, Zweifel an der Existenz Gottes, Heilung durch Gehorsam in den sozialen Bezügen, Diakonie, politische Verantwortung, Kirche als Mission etc.). Zu wichtigen biblischen Worten fehlte das korrespondierende Lied (z. B. Barmherziger Samariter, Bergpredigt, Einkehr Jesus bei Zachäus etc.).“13Bei allem Zuspruch begegnete Trautwein aber auch massiver Kritik, nicht nur aus den konservativen kirchlichen Kreisen. Joachim-Ernst Behrendt, renommierter Musik-Journalist und Jazz-Experte äußerte: „Ich finde auch, alle diese Versuche mit Jazz-Gottesdiensten sind ein einziger Krampf. Die Musik, die da gemacht wird, ist so schlecht, daß sie einem Volke, das so eine kirchenmusikalische Tradition hat … wie wir, nicht angepaßt ist.“14 Doch letztlich hat Trautwein sich durchgesetzt. Viele dieser neuen Lieder, nicht nur von ihm, gehören heute zum Standardrepertoire in unseren Gottesdiensten und die musikalische Begleitung durch moderne Musik-gruppen ist eine willkommene Ergänzung der herkömmlichen Kirchenmusik. Dazu hat sicher auch beigetragen, dass Trautwein mit seinen Gottesdiensten und anderen Veranstaltungen über Jahrzehnte ein wesentlicher Mitgestalter der evangelischen Kirchentage war.
6. Propst Trautwein
Mit der Wahl zum Propst für Frankfurt übernahm Trautwein die zuvor beschriebenen Aufgaben des Propstamtes in dem Propsteibereich Frankfurt. Nicht nur für das Protokoll der Stadt Frankfurt war dabei bedeutsam, dass er kein Frankfurter Kirchenamt inne hatte, sondern Repräsentant des gesamtkirchlichen kollegialen Bischofsamtes in Frankfurt war. Andererseits sollen war er mit seinen vielfältigen Interessen und seinem vielfältigen Engagement wohl einer der wirkungsmächtigsten Pröpste der EKHN und für die Frankfurter Kirche von überragender Bedeutung war. Dabei blieben gewisse Interessenkollisionen und auch latente Spannungen mit den Vorsitzenden des Gemeinde- und dann Regionalverbandes nicht aus. Dies behinderte jedoch nicht eine enge Kooperation zum Wohl der evangelischen Kirche in Frankfurt. War doch allen Beteiligten klar, dass der Verband bei allem Eigenständigkeitsstreben nicht aus den Bindungen der Gesamtkirche ausbrechen konnte und wollte. Und der Propst brauchte letztlich die Ressourcen des Verbandes für so manche seiner Aktivitäten.
Wie schon erwähnt. gehörten die Sorge für die rechte Verkündigung, die Einhaltung der Kirchenordnung, aber auch die Mitwirkung bei der Besetzung der Pfarrstellen in Frankfurt zu den wichtigsten Aufgaben des Propstes. Das bedeutete für den Propst viel Koordinationsarbeit unter Gemeinden und Pfarrern, Dekanen und übergemeindlichen Arbeitsstellen, aber eben auch für und mit dem Verband. Trautwein hatte hierfür mehrere „Institutionen“ zur Verfügung. Es gab die Dekanekonferenz, die sich auch in Abständen, aber regelmäßig, mit den katholischen Kollegen traf. Man tauschte sich aus, sprach sich ab und besuchte z. B. auch gemeinsam die Partnerstädte von Frankfurt. Dann gab es die Propstei-AG. Ihr gehörten außer dem Propst die Dekane, ausgewählte übergemeindliche Pfarrer und Einrichtungsleiter sowie der Vorstandsvorsitzende und der Leiter der Verwaltung des ERV an. Auch hier gab es Austausch, Absprachen und durchaus auch gemeinsame ökumenische Besuche. Der Regionalverband seinerseits lud den Propst satzungsgemäß zu allen Sitzungen der Regionalversammlung und des Vorstandes als Gast ein, was Trautwein auch, wann immer möglich, wahrnahm. So konnte er auch, vor allem im Vorstand, zu Tagesordnungspunkten Stellung nehmen, was er auch behutsam wahrnahm. Schließlich war es Tradition, dass der Propst einmal im Monat die Mitarbeiterandacht am Freitag hielt. Ebenso wurde es zur Tradition, dass es anschließend eine gemeinsames Frühstück mit Propst, Vorsitzendem und Leiter der Verwaltung gab. In dieser kleinen Runde konnte man sich informell austauschen und auch vertrauliche Probleme beraten und einer gemeinsamen Lösung zuführen. Ich denke, dass dies eine gute Umgangsweise miteinander war, die leider von den Nachfolgerinnen langsam nicht mehr praktiziert wurde.
7. Kirche und Stadt
In den ersten fünfundzwanzig Jahren nach dem Krieg hatten den Propst für Frankfurt Fragen des sachgerechten Wiederaufbaus und einer modernen Gemeindestruktur in Anspruch genommen. Sein Nachfolger Dieter Trautwein richtete danach den Blick stärker auf die Probleme der Entwicklung der Stadt und die Rolle, die Kirche dabei spielen sollte. Über Jahrzehnte hatte sich die Entwicklung der Stadt Frankfurt ohne einflussnehmende Beteiligung der Kirchen vollzogen. Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre änderte sich das. Einerseits wurde mit dem Bundesbaugesetz ein Planungsrecht entwickelt, das bei der Erstellung von Bebauungsplänen eine breitere gesellschaftliche Beteiligung vorsah. Andererseits aber wuchs innerhalb der Kirchen die Erkenntnis, dass sie sich im Interesse der Menschen gerade auch in Stadtplanungsfragen einmischen müssten. Sie wollten nicht einfach nur zum Beispiel mit ihrer Diakonie als der barmherzige Samariter in vielfältigen sozialen Nöten gefragt sein, sondern auch, wenn es um die Gestaltung der unter Umständen krank machenden Verhältnisse ging. Entsprechend dem Bibelwort „Suchet der Stadt Bestes“ war Trautwein das ein wichtiges Thema, das seine Amtszeit durchzog. Er verstand sich auch als Vertreter einer Kirche, für die die biblische Botschaft im Leben der Menschen konkret werden muss. Das bedeutete auch, sich für die Menschen in gesellschaftliche und auch politische Prozessen einzumischen. Eine Möglichkeit boten die in den siebziger Jahren begonnenen regelmäßigen Gespräche von Vertretern der evangelischen und der katholischen Kirche mit Vertretern der politischen Parteien, zunächst mit der SPD, dann auch mit der CDU und den Grünen. Und doch wurde den Kirchen von Politikern gerne das Recht bestritten, sich in die Politik einzumischen. Das führte 1986 zu einem grundsätzlichen Disput. Deshalb legten Protestanten und Katholiken ein Thesenpapier vor, in dem sie ihr Recht zu solchen Stellungnahmen begründeten, aber auch auch die Grenze benannten. Dieter Trautwein und Klaus Greef formulierten den theologischen Teil, Jürgen Telschow und Norbert Schäffer den juristischen. Gerhard Bars und Franzwalter Nieten formulierten die Grenzen und Michael Frodien und Heiner Ludwig die volkskirchliche Seite. Ein konkretes Beispiel war die Stadtentwicklung. Im Jahre 1971 begann Trautwein dem Vortrag "Pfarrer und Gemeinden in der kommunalen Herausforderung". Auch referierte er 1971 auf den Pfarrertagen der Frankfurter Dekanate über das Thema „Kirche – wozu? Pfarrer – wozu?“ und veröffentlichte die Gedanken dann im Kirchlichen Jahrbuch.15 Dabei stand ihm die negative Entwicklung amerikanischer Städte vor Augen und die Sorge, dass es den deutschen Städten ähnlich gehen könnte. So fragte er, was denn dieses Thema die Kirche angehe. Die Antwort leitete er aus dem Bibelwort „Und das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns“ (Joh. 1, 14) her. „Ist Christus Einwohner unserer Städte, dann ist die kommunale Herausforderung seine Herausforderung. Wie wohnen Menschen? Wo wohnten sie gestern und wo werden sie morgen wohnen? Das sind dann Fragen nicht nur für die Städteplaner, für ein paar Architekten und Politiker, das ist eine Grundfrage für Pfarrer und Gemeinden. Christus wohnt unter uns oder er ist nicht da. Es gibt kein Evangelium, das nicht mit der Wohnungsfrage und damit auch mit dem kommunalen Zusammenleben zu tun hätte!“16Deshalb müsse sich die Kirche z. B. mit dem Stadtplanungskonzept „Jedem Funktionsbereich das Seine“ beschäftigen. Dessen Grundgedanke sei, dass der Mensch zum Wohnen die Wohnstadt, zum Arbeiten die die Arbeitsstadt sowie die besondere Geschäftsstadt und die Stadt der Dienstleistungbetriebe benötigt. Damit verliere aber die Stadt ihre Bedeutung als Lebensraum für die Menschen.
„Wir können den Tendenzen der Rettung Raum geben. Das heißt praktisch: Wo wir nur können, für die Mischung plädieren, daß Wohnen, Schlafen, Arbeiten, Kaufen nicht oder so wenig wie möglich auseinanderdividiert werden. Dafür kämpfen, daß bei Sanierungen gute alte Infrastrukturen nicht zerstört werden. Für Mieten sorgen, die den alten Mietern möglich sind. Menschen Mut machen, in der Stadt zu bleiben, ja wiederzukommen, sie neu zu entdecken. Bürobauten ohne Wohnungsneubauten im gleichen Gebiet sind als Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu kennzeichnen. Wohngebiete dürfen weder durch Verwaltungsgebäude noch durch Kulturzentren ersetzt werden. Letztere werden sonst doch nur einer privilegierten Minderheit zugutekommen. Die im Zentrum oder den Stadtzentren verbleibenden Geschäfte dürfen nicht zuerst nach den Erfordernissen der Profitmaximierung ausgewählt sein.17 … Die Stadt müsse lebendig bleiben, muss Ort der Neugier und der Neuerung sein. Paulus habe gewusst, warum er auf die Märkte ging und schließlich auch auf die Agora von Athen. Bedingung dafür sei die Offenheit: für Neuankömmlinge jeder Art, für Jugendliche, die Nachrückenden aus den unteren Schichten, aber auch für Arme, für Andersdenkende und für alle jene, die das Tabu bisher geltender Vorstellungen, Verhaltensweisen, Gruppen, Mächte durchbrechen, die gängigen Mythen entmythologisieren. „Wenn das keine Herausforderung für uns Pfarrer ist.“18
Passend hierzu organisierte die Evangelische Erwachsenenbildung unter Dr. Klaus Würmell eine ökumenische, d. h. evangelisch-katholische, Stadtentwicklungskommission. Diese Kommission beschäftigte sich mit den theoretischen Grundlagen von Stadtentwicklung und mit ganz konkreten Frankfurter Problemen. Ich erinnere mich noch, wie wir nach Berlin fuhren und uns dort über kirchliche Arbeit in Problemvierteln und großen Neubaugebieten informierten. Dabei stellten wir fest, dass es durchaus gleichartige Planungen in Frankfurt gab.Was Am Bügel gebaut werden sollte, gab es in etwa so bereits in Berlin, mit großen sozialen Problemen. Unsere Intervention in Frankfurt kam aber zu spät. Der Bau war nicht mehr zu stoppen. Anderseits konnten wir aber mit dazu beitragen, dass eine große Trabantenstadt am Heiligenstock nicht errichtet wurde.
8. Ökumene
Im Herbst 1952 gehörte Dieter Trautwein zu den ersten Studenten der gerade errichteten Ökumenischen Hochschule in Bossey. Seitdem spielte die Ökumene in seinem Leben eine wichtige Rolle. Die Andachten in englischer Sprache beim Kirchentag 1956 wurden bereits erwähnt.1967 besuchte er Indien.1983 nahm er an der Vollversammlung des Ökumenischen Rates in Vancouver teil und gehörte dort zum Gottesdienstvorbereitungsteam. Bei der Übertragung von Liedern aus der Ökumene gab es Verbindungen zu Doreen Potter, der Frau des Generalsekretärs des Ökumenischen Rates, ebenso wie zu Anders Frostenson, der das viel gesungene Lied „Herr Deine Liebe ist wie Gras und Ufer“ geschaffen hat. Über einen jungen Mann seiner Bad Nauheimer Gemeinde, der Herrmannsburger Missionar in Südafrika geworden war, erfuhr er früh vieles über die dortigen Verhältnisse. So war es kein Wunder, dass er sich auch an Aktionen der Evangelischen Frauenarbeit und des Frauenpfarramtes im Hinblick auf Südafrika beteiligte. Besonders umstritten war die Aktion „Kauft keine Früchte aus Südafrika“.
Hierüber berichtete Ursula Trautwein:19 „Am 19. Oktober 1977 wurden in Südafrika 18 Organisationen des gewaltfreien Widerstands gegen das Apartheidregime gebannt. Dazu gehörte die Black Women Federation (Vereinigung Schwarzer Frauen), zu der die Evangelische Frauenarbeit in Deutschland (EFD) gute Beziehungen hatte. Dem Leitwort20 des Weltgebetstages der Frauen folgend beschloss wenige Tage später die EFD, zum Boykott südafrikanischer Waren aufzurufen. Boykott – z. B. von Brot, Kartoffeln oder Busfahren war in Südafrika häufig ein Mittel des Protests. Wir verstanden unseren Boykott als Zeichen der Solidarität mit den Frauen in Südafrika und die Möglichkeit, über ihre Situation zu informieren. Zu den Hauptinitiatorinnen des Boykotts gehörte Ursula Merck von der Evangelischen Frauenhilfe in Hessen und Nassau. Sie arbeitete jahrelang mit in der Südafrika-Projektgruppe der EFD. … Der Aufruf 'Kauft keine Früchte aus Südafrika – baut nicht mit an der Mauer der Apartheid' fand Gehör. Überall in der Bundesrepublik und auch in Hessen entstanden Gruppen, die aktiv wurden. … Die 'Brutstätte' für diese Arbeit war die Frankfurter Propstei; dort traf sich die Projektgruppe und die lokale Gruppe, der auch Jutta Jürges-Helm, Frauenpfarramt, und Elisabeth Hanusch, Evangelische Erwachsenenbildung, angehörten. Dort führten wir viele Gespräche mit Gästen aus Südafrika und hier. Unsere Arbeit hätten wir nicht tun können ohne enge Verbindungen mit Partnerinnen und Partnern aus Südafrika. Vor allem zu Black Sash (eine vorwiegend weiße Frauenorganisation), dem Südafrikanischen Kirchenrat sowie der Abteilung Gerechtigkeit und Versöhnung21. Durch Besuche, Dokumente und Briefe erhielten wir aktuelle und wichtige Informationen.“
9. Ökumene vor Ort
Im Jahr 1982 beschrieb Walter Adlhoch die evangelisch-katholische Ökumene, als er in den Ruhestand ging. Daraus möchte ich zitieren:
Seit 1972 feiert Frankfurt jedes Jahr am 31. Oktober einen ökumenischen Gottesdienst, dem sich ein Vortrag anschließt, für die ganze Stadt abwechselnd im Dom und in St.Katharinen. Er ergänzt gemeinsame Gottesdienste zum Reformationsfest in verschiedenen Stadtteilen. 'Die stets zu reformierende Kirche' (Ecclesia semper reformanda) bietet das gemeinsame und nicht auszuschöpfende Thema des Tages. Nicht mehr verzichten wollen die Frankfurter und die Besucher der Stadt auf das Große Stadtgeläut. 8 Kirchen der Innenstadt läuten am Heilgen Abend, am Karsamstag, am Samstag vor Pfingsten und vor dem 1. Advent eine halbe Stunde lang die Feste ein. Ein schönes Symbol der 'Abstimmung auf einander' zum gemeinsamen Gotteslob! Selbstverständlich ist es auch seit Jahren, daß evangelische Brüder und Schwestern bei der Fronleichnamsfeier auf dem Römerberg ein Grußwort sagen, andere Sitten gehören der Vergangenheit an. …
Im Laufe der Jahre bildeten sich Instrumente der ökumenischen Willensbildung und Zusammenarbeit in der Stadt. Der 'Ökumenische Dekanekonvent' versammelt zweimal im Jahr die evangelischen, methodistischen und katholischen Dekane zusammen mit den 'Spitzen' und den Ökumene- bzw Öffentlichkeitsbeauftragten der Kirchen. 1975 machte dieser Kreis zum erstenmal eine mehrtägige Reise, und zwar, während des Heiligen Jahres, nach Rom ... Im Abstand von 2 Jahren folgten Begegnungs- und Bildungsfahrten nach Birmingham (Partnerstadt), Genf (Weltrat der Kirchen) und in die Partnerstädte Lyon und Mailand. Kontakte vermitteln auch das 'Ökumenische Frühstück', ein Spitzengespräch mehrere Male im Jahr, und vor allem eine Kontaktkommission der gewählten Gremien der Kirchen. …
Zum 17. Juni 1980 schlossen sich die beiden christlichen Kirchen mit der jüdischen Gemeinde, dem Deutschen Gewerkschaftsbund und dem Frankfurter Jugendring zusammen. Unter der Devise 'Demokratie verpflichtet' demonstrierten sie gegen den Rechtsradikalismus. Im folgenden Jahr nahmen dieselben Gruppen gegen Ausländer- und Judenfeindlichkeit Stellung. ...
Die wachsende Bedrohung von Arbeitsplätzen in Frankfurt weckte in den christlichen Gemeinden Betroffenheit mit den Betroffenen. Die gravierenden Entlassungen bei VDM in Heddernheim und bei Adler im Gallusviertel riefen 1981 auch die Kirchen zur Teilnahme an Demonstrationen und Unterschriftenaktionen sowie besonders zusammen mit den Gewerkschaften zur Kundgebung auf dem Römerberg, bei der u. a. Weihbischof Pieschl aus Limburg und Propst Dr. Trautwein sprachen. Solche Stellungnahmen sind in den Kirchen und Gemeinden umstritten. Es ist eine ökumenische Aufgabe, in den Gemeinden und mit den Tarifpartnern wie in der weiten Öffentlichkeit das Recht und die Pflicht sowie die Grenzen der Kirche deutlich zu machen. ...“22
Zu den Veranstaltungen am 17. Juni ist anzumerken, dass sie nach einem vorangegangenen ökumenischen „Gebet für den Frieden“ auf dem Römerberg stattfanden, um zu verhindern, dass rechte Gruppen um die NPD diesen Platz an diesem Tag für eine eigene Veranstaltung nutzen. Man nannte sich „Römerbergbündnis“ und war auch in der Folgezeit bei verschiedensten Gelegenheiten aktiv. Am 14. November 1982 wurde in der Nachfolge von Walter Adlhoch der 52jährige Pfarrer Klaus Greef als katholischer Stadtdekan eingeführt.23 Mit ihm konnte die partnerschaftliche Zusammenarbeit fortgesetzt werden.
10. Die Beziehungen zur Jüdischen Gemeinde
Naturgemäß gestaltete sich nach dem Ende des Dritten Reiches das Verhältnis der evangelischen Kirche zur neu entstehenden Jüdischen Gemeinde zunächst schwierig. Deshalb war es hilfreich, dass die amerikanische Militärverwaltung im Rahmen ihres Erziehungsprogrammes für die Deutschen zur Demokratie 1949 die Gründung der „Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit Frankfurt am Main e. V.“ veranlasste. Ebenfalls 1952 wurde in der EKHN der „Evangelische Arbeitskreis für christlichjüdische Gespräche“ gegründet. Auch von hier gingen Impulse für eine Neubesinnung des Protestantismus aus. Dieter Trautwein nahm 1964 erstmals an eine Reise des Stadtjugendringes nach Israel teil und knüpfte hier erste Kontakte mit jüdischen Partnern. Bald lernte er auch Oskar Schindler kennen, mit dem es eine lebenslange Freundschaft gab. Von nun an bemühte er sich intensiv auch um gute Beziehungen zur Jüdischen Gemeinde in Frankfurt.
Dazu gehörte auch, dass im Jahr 1978 erstmals der Versuch gemacht wurde, am 8. November an das vor 40 Jahren geschehene Pogrom von 1938 an historischer Stelle zu erinnern. Damals wurden ja am Abend einige tausend Juden in der Festhalle auf dem Messegelände zusammengetrieben. Der ehemalige jüdische Chefarzt des St. Markus-Krankenhauses hatte dabei sein Leben verloren. Also versuchte ein kleine Gruppe um Propst Trautwein und Pfr. Ernst Schäfer, an diesem Tag in der Festhalle eine kleine Gedenkfeier abzuhalten. Der Zutritt des Innenraumes dazu wurde ihnen verwehrt. Immerhin konnten sie auf der Galerie zusammenkommen und des Ereignisses gedenken. Später fand dann dieses Gedenken regelmäßig am Standort der Synagoge in der Friedberger Anlage statt.
Wie sehr sich im Laufe der Jahre die Beziehungen zur Jüdischen Gemeinde verändert hatten, zeigte sich im gleichen Jahr. Überreichte doch die Gemeinde am 11. Dezember 1978 Propst Dieter Trautwein und Stadtdekan Walter Adlhoch eine Nachprägung des alten Siegels der ehemaligen Israelitischen Gemeinde Frankfurts und ehrte damit ihr Engagement für ein gutes Miteinander der beiden christlichen Kirchen mit der Jüdischen Gemeinde in Frankfurt.
Im Jahr 1987 bewegte der Streit um den Börneplatz die Gemüter.24 Zu der Zeit war das Gelände Kurt-Schumacher-Straße Ecke Rechneigrabenstraße nach den Zerstörungen des 2. Weltkrieges noch nicht wieder bebaut. Jahrelang hatte hier die kleine Blumengroßmarkthalle gestanden. Nun sollte dort das neue Kundenzentrum der Frankfurter Stadtwerke errichtet werden. Bei den Ausschachtungen wurden immer mehr Häuserreste der ehemaligen Judengasse freigelegt. An ihrer Westseite z. B. waren das die Keller der Gebäude „Goldenes Schwert“, „Rindsfuß“ und „Goldener Adler“. Auf der Ostseite die des „Hospital“. Auch eine Mikwe fand man. An der Frage nach dem Umgang entzündete sich ein Konflikt, in dem auf der einen Seite ein Teil der Frankfurter Öffentlichkeit mit der evangelischen und der katholischen Kirche für den Erhalt stritt und auf der anderen Seite die Stadt Frankfurt, die, letztlich im Einvernehmen mit der jüdischen Gemeinde, für die Überbauung stritt. Es begann damit, dass die Schriftstellerin Eva Demski einen Brief an Oberbürgermeister Wolfram Brück schrieb, der auch von Propst Dieter Trautwein, Pfarrer Gerhard Bars (Vorsitzender des Evangelischen Regionalverbandes) und dem katholischen Stadtdekan Klaus Greef unterzeichnet wurde.
Darin hieß es u. a.: „Der Platz hat sich geöffnet und gibt jeden Tag mehr preis, mehr von den Bildern des zusammengedrängten, beengten Lebens der Frankfurter Judenheit, einer Gemeinschaft, der diese Stadt unschätzbar viel zu verdanken hat. An jenem Börneplatz, der nach der Vernichtung seiner Bewohner zu einem der trübsten und abstoßendsten Beispiele neuzeitlichen Städtebaus verkommen ist, gibt die lange versiegelte Erde die Lebensspuren preis. Wir sollten das Gefundene dankbar und respektvoll behandeln und sichern ...“25 In einem Brief von Trautwein, Greef und Bars vom 12. August 1987 an Brück hieß es: „Gemeinsam unterstützen war den Beschluß der Mitgliederversammlung der Jüdischen Gemeinde Frankfurt vom 9. April 1987, die am Börneplatz gefundenen Denkmäler frühen jüdischen Lebens in unserer Stadt angemessen zu schützen.“26
Daraufhin folgte am 19. August auf dem Paulsplatz eine Kundgebung der Bürgeraktion „Rettet den Börneplatz“, auf der auch Dieter Trautwein sprach. Die Kundgebung zog dann zum Börneplatz und besetzte die Baustelle, allerdings ohne dass Trautwein dazu aufgerufen hätte. Im Auftrag des Oberbürgermeisters wurde die Baustelle am 2. September geräumt. Die am gleichen Tage im gegenüberliegenden Dominikanerkloster tagende Evangelische Regionalversammlung unterstützte mit großer Mehrheit die Position von Trautwein und Bars und forderte eine „Pause des Nachdenkens“. Dass es aber auch einen Riss durch die evangelische Kirche gab zeigte sich an den Ausführungen des Versammlungsleiters, Bürgermeister Dr. Hans-Jürgen Moog. Der verteidigte die Entscheidungen der städtischen Gremien. „Mit einer anderen Auffassung würden wir das freiheitlich demokratische System aufgeben.“ 27. Doch die Stadt wollte an dem geplanten Bau nicht rütteln und nur einen Teil in die Schalterhalle des Kundenzentrums integrieren. Im Antwortbrief betonte Brück: „Wir sind der festen Überzeugung, in dem notwendigen Abwägungsprozeß eine Lösung gefunden zu haben, die die Interessen des Bauvorhabens berücksichtigt und zugleich auch der geschichtlichen Bewertung der Bodendenkmalpflege gerecht wird.“28Er bat um Verständnis dafür, „daß wir unangemessenen und unvernünftigen Forderungen entgegentreten und Einhalt gebieten müssen.“29 Die Stadt setzte sich natürlich durch. Dabei war enttäuschend, dass die Jüdische Gemeinde bereits vorher ohne das Wissen der Protestanten und Katholiken ihren Widerstand aufgegeben hatte. Sie hatte verschiedene andere Zusagen von der Stadt erhalten. Immerhin veröffentlichte Salomon Korn in der Jüdischen Gemeindezeitung vom September 1987 folgende Zeilen: „Die bei den Kirchen, politischen Parteien und anderen gesellschaftlich relevanten Gruppen gewachsene Erkenntnis, dass jüdische Geschichte in Frankfurt nicht abgespaltene Geschichte einer Minderheit, sondern Frankfurter Geschichte ist, betrachten wir als ermutigende Entwicklung für die Zukunft. Wir danken all jenen, besonders aber unseren Gemeindegliedern, die durch Wort und Tat unermüdlich versucht haben, die freigelegte Judengasse am Börneplatz in ihrer Gesamtheit zu erhalten.“30
10. Der Bibelpfarrer
In der Nachfolge von Goebels wurde Dieter Trautwein Vorsitzender der Frankfurter Bibelgesellschaft. Da er bei seinem Ausscheiden aus dem Propstamt 1988 noch nicht das Pensionsalter erreicht hatte, war er noch fünf Jahre als Bibelpfarrer der EKHN tätig. Er hatte seinen Sitz in Frankfurt, organisierte Ausstellungen und besuchte viele Gemeinden im Kirchengebiet zu Bibelgottesdiensten. Vor allem seinem Engagement war es zu verdanken, dass das Frankfurter „Bibelhaus-Erlebnismuseum“ entstand.
11. Ausklang
Ich will zum Ende kommen. Manches hätte ausführlicher sein können, anderes wurde überhaupt nicht erwähnt. Aber das Denken und Handeln von Dieter Trautwein war so vielfältig, dass es sich einer Beschreibung in begrenzter Zeit verschließt. Vielleicht wurde aber deutlich, dass Dieter Trautwein sicher der Frankfurter Theologe war, der, einmal abgesehen von Philipp Jakob Spener, von Frankfurt aus am meisten Menschen erreicht hat. Mit seinen Liedern wird er sicher noch lange im Gedächtnis der evangelischen Kirche bewahrt werden. Aber es war auch ein Blick in die Zeitgeschichte, in eine Zeit, die die meisten von uns in Frankfurt miterlebt haben.
1Trautwein, Dieter: Komm Herr segne uns, Frankfurt am Main 2003, S. 28 – 82.
2Trautwein, Komm Herr, S. 34.
3Trautwein, Komm Herr, S. 104.
4Trautwein, Komm Herr, S. 110.
5Trautwein, Komm Herr, S. 128.
6Trautwein, Komm Herr, S. 140.
7Trautwein, Komm Herr, S. 151.
8Trautwein, Komm Herr, S. 166.
9Trautwein, Komm Herr, S. 203 – 206.
10Trautwein, Dieter: Gottesdienst der Jugend für die Gemeinde, in: Frankfurter Kirchliches Jahrbuch 1966, S. 143 f.
11Trautwein, Gottesdienst, S. 143.
12Trautwein, Dieter: Drei Jahre „Gottesdienst der Jugend für die Gemeinde“ in Frankfurt, in: Frankfurter Kirchliches Jahrbuch 1967, S. 12-26.
13Trautwein, Drei Jahre, S. 19 f.
14„Kirchenmusikalische Nachrichten“ der EKHN Mai/Juni 1966, Jahrgang 17, Nr.3, zitiert nach Trautwein, Drei Jahre, S. 22.
15Trautwein, Dieter:Pfarrer und Gemeinden in der Kommunalen Herausforderung, in: Frankfurter Kirchliches Jahrbuch 1972, S. 9-19..
16Trautwein, Pfarrer und Gemeinden, S. 9.
17Trautwein, Pfarrer und Gemeinden, S. 16.
18Trautwein, Pfarrer und Gemeinden, S. 19.
19Trautwein, Ursula, Frauen gegen Apartheid, in: Drewello-Merkel, Christiane/Puchert, Sylvia: 100 Jahre … auf gutem Kurs. Evangelische Frauen in Hessen und Nassau und ihre Geschichte. Darmstadt 2007, S. 110 f.
20Im Jahr 1977: Liebe wird zur Tat.
21… des Ökumenischen Rates der Kirchen.
22Adlhoch, Zwanzig Jahre Ökumene in Frankfurt, in: Frankfurter Kirchliches Jahrbuch 1983, S. 47-52.
23Frankfurter Kirchliches Jahrbuch 1984, S. 30 f.
24Hierzu und zum Folgenden: Eimuth, Kirchen für Schutz jüdischen Erbes, in: Frankfurter Kirchliches Jahrbuch 1988, S. 9-15..
25Nach Eimuth, Kirchen für Schutz, S. 12 f.
26Nach Eimuth, Kirchen für Schutz, S. 13.
27Nach Eimuth, Kirchen für Schutz, S. 15.
28Nach Eimuth, Kirchen für Schutz, S. 13.
29Nach Eimuth, Kirchen für Schutz, S. 13.
30Zitiert nach Trautwein, Komm Herr, S. 339 f.