Das Ende des 1. Weltkrieges als Epochenumbruch für die Frankfurter Kirche (2018)
Das Ende des 1. Weltkrieges als Epochenumbruch für die Frankfurter Kirche
Vortrag vor dem Evang.-lutherischen Predigerministerium Frankfurt am Main
1. Vorwort
In diesen Tagen jährt sich zum 100. Mal das Ende des 1. Weltkrieges. Sein Anfang brachte uns vor vier Jahren eine Fülle historischer Veröffentlichungen. Für das Ende gilt das nicht, was ja auch verständlich ist. Es wurde am Anfang mit abgehandelt. Aber hätte dann nicht wenigstens der Neuanfang nach dem Kriege ein ebensolches Echo verdient? Immerhin entstanden hier doch die erste deutsche Demokratie und eine vom Staat erstmals unabhängige evangelische Kirche. Konnten sich jetzt politische Kräfte und kulturelle Entwicklungen frei entfalten, die es seither schwer gehabt hatten, Chancengleichheit zu erhalten; etwa unter dem preußischen Dreiklassenwahlrecht oder angesichts der Kunstauffassung Kaiser Wilhelm II., der alle Malerei außer der Historienmalerei als Kunst der Gosse diffamierte, um nur zwei Beispiele zu erwähnen. Im Folgenden möchte ich diese Wendezeit aus Frankfurter Perspektive und mit dem Blick auf die evangelische Kirche in Frankfurt betrachten.
Was damals ablief, hat der Frankfurter Historiker Hans Drüner knapp formuliert: „Man kann, was sich in Deutschland abspielte, auch als eine große Vertrauenskrise bezeichnen; zuerst verlor das Volk das Vertrauen zu der wirtschaftlichen Führung, als es nicht gelang, die Lebensmittelversorgung auch nur einigermaßen dem wirklichen Bedürfnis anzupassen; dann verschwand das Vertrauen zu der politischen Führung dahin, je mehr man einsah, daß das Steuer des Reiches in unsicheren Händen ruhte; unerschüttert blieb noch bis in den Sommer 1918 das Vertrauen auf die militärische Führung. Wenn aber auch dies zusammenbrach, was dann?“ 1
2. Veränderungen im Denken
Wie sich das Denken im Verlauf des Krieges veränderte, kann man an den Theaterprogrammen ablesen. Zunächst brachte das Schauspiel vor allem Stücke auf die Bühne, die an die nationale Gesinnung appellierten: Lessings „Minna von Barnhelm“, Goethes „Götz von Berlichungen“ oder Kleists „Prinz von Homburg“. In der Oper standen Wagner-Opern hoch im Kurs. Das Schumann-Theater zeigte Volksstücke im Soldaten-Milieu. Schon bald kehrten aber deutsche und französische Lustspiele wieder auf den Spielplan zurück.2 Sie sollten die Stimmung aufhellen. Zu denen, die das kritisch sahen, gehörte die lutherische Stadtsynode, in der im Februar 1915 zumindest ein Einspruch gegen diese „leichtfertigen“ Theaterstücke verlesen wurde.3 Dann aber brachten die städtischen Bühnen mehr und mehr Gegenwartskritik. Hier pflegte man ab 1917 vor allem das expressionistische Schauspiel. Der Pazifist Fritz von Unruh, der Satiriker Karl Sternheim, Georg Kaisers „Die Bürger von Calais“ und Paul Kornfelds „Verführung“ wurden jetzt gespielt.4 Unruh wohnte von 1924 – 1932 im Rententurm, Kornfeld ebenfalls zeitweise in Frankfurt und Kaiser in Seeheim.
In der SPD, in der es schon im Mai 1915 Forderungen nach einer Friedensagitation gegeben hatte, wurde in der Generalversammlung am 28. Juni 1916 die Erkenntnis geäußert: „Die Fortsetzung des Krieges bedingt eben den noch größeren Hunger.“ 5 Der Bischof von Limburg ordnete für den 3. und 10. September 1916 eine Wallfahrt zur Bergkapelle der Mutter Gottes in Hofheim an, wo für einen ehrenhaften Frieden gebetet werden sollte. Auch viele Frankfurter nahmen daran teil.6 Vor allem die Sozialdemokratie forderte in Großveranstaltungen Friedensverhandlungen. Am 1. Oktober 1916 kamen 20. bis 25.000 Menschen im Ostpark zusammen und hörten prominenten Sozialdemokraten zu. Diese betonten, dass Deutschland einen Verteidigungskrieg und keinen Eroberungskrieg führe. Sie forderten, dass die Reichsregierung sich zu dieser Auffassung bekenne und deshalb ihre Bereitschaft zu Friedensverhandlungen erkläre.7 Im Jahr 1917 gab es im Juni, im August, im September, im Oktober und im Dezember sowie am 13. Januar 1918 Veranstaltungen, in denen die Redner für einen Verständigungsfrieden eintraten. Zunehmend äußerten sich hier nun nicht mehr nur Sozialdemokraten, sondern auch Zentrumspolitiker. Auf der Gegenseite standen durchaus Frankfurter Theologen, die in Predigten und Vorträgen auch 1917 an die vaterländischen Gefühle appellierten und weiter äußerten, dass es sich lohne, hierfür auch sein Leben aufs Spiel zu setzen.
Die Frankfurter Pfarrerschaft stand eben noch lange treu zu Kaiser und Reich. Einige Passagen aus den Lebenserinnerungen von Erich Foerster, Pfarrer und Professor mit guten Kontakten in die verschiedensten Richtungen, lassen erahnen, was so mancher damals dachte. „Ich war bei seinem Beginn überzeugt von der Unschuld der deutschen Regierung am Kriege … Von den großen Fehlern der deutschen Politik seit Bismarcks Sturz hatte ich nur ganz unzulängliche Vorstellungen. Allerdings war ich im letzten Jahrzehnt immer stärker oppositionell geworden … Nun beeindruckte mich aufs stärkste der glänzende Anfang des Feldzugs und die stolze Zuversicht des deutschen Offizierskorps, und ich teilte ganz und gar die Begeisterung der riesigen Mehrheit der Nation und die Entrüstung besonders über England. In dieser Stimmung hat mich auch weder der Einmarsch in Belgien noch der Rückschlag an der Marne, dessen Bedeutung ich nicht verstand, irre gemacht, sie hat ungefähr bis Herbst 1915 angehalten. Erschüttert wurde sie zuerst durch die genaueren Nachrichten über die entsetzliche Menschenschlächterei unter Armeniern … Greuliches über die Mängel der Militärseelsorge und ihren Leutnantsjargon, ... es gelte (an der serbischen Front, d. Verf.) gegenüber der Bevölkerung allmählich alles für erlaubt. ... Gespräche von Soldaten (auf einer Eisenbahnfahrt, d. Verf.), die mich entsetzten: Unverhohlene Abneigung gegen die Dienstpflicht ... In diesem Kreise (Mitglieder des Reichstages in Berlin, d. Verf.) wurde der Gedanke, England auf die Knie zu zwingen, verlacht ... Auf der letzten Lazarettweihnachtsfeier in dem Bahnhofsheim Gutleutstraße hatte ich den deutlichen Eindruck von einer unter den Leuten schwelenden Verbitterung. Die Revolution war ein Zusammenbruch in völliger Erschöpfung.“8
3. Die Frankfurter Ereignisse
Dies war die Situation, als Ende September 1918 die militärische Führung zugeben musste, wie katastrophal die militärische Lage wirklich war, und die neue Regierung unter Prinz Max von Baden Waffenstillstandsverhandlungen einleiten wollte. Am 1. Oktober wurde in der Stadtverordnetenversammlung geäußert: „Die Stunde ist ernst, wir sitzen auf einem Vulkan.“9 Im Laufe des Monats Oktober ließ die Disziplin der Soldaten deutlich nach. Der Respekt vor den Offizieren nahm ab. Die Stimmung war gedrückt, denn man fürchtete Schlimmes von den Waffenstillstandsverhandlungen. Am 17. Oktober setzte die Stadtverordnetenversammlung deshalb für den Notfall einen „Ordnungs-Ausschuß“ mit den beiden Bürgermeistern und sieben Stadträten ein. Anfang November wurde er durch Vertreter der Industrie und der Gewerkschaften erweitert. Am 5. November erreichten die ersten Nachrichten von den Ereignissen in Kiel Frankfurt. Hier blieb zunächst alles ruhig.10 Am 7. November kamen abends 250 bewaffnete Matrosen mit dem Zug nach Frankfurt.11 Der Versuch, sie auf dem Hauptbahnhof zu entwaffnen, scheiterte. Ähnlich ging es mit einer zweiten Gruppe von 80 Mann am 8. November in Ginnheim. Als die Reichsregierung den Befehl gab, kein Blut zu vergießen, gab man den Einsatz des Militärs auf. Der nun „Wohlfahrts-Ausschuß“ genannte „Ordnungsausschuß“ trat zusammen, löste sich aber nach der ersten Sitzung faktisch auf, weil eine Zusammenarbeit der verschiedenen politischen Richtungen nicht möglich war. Am 9. November 1918 rief Philipp Scheidemann in Berlin die Republik aus und der Kaiser dankte ab. Am 10. November konstituierte sich der Rat der Volksbeauftragten unter der Leitung Friedrich Eberts. Am 11. November wurde der Waffenstillstand von Compiégne geschlossen. Es folgten vielerorts schlimme innenpolitische Auseinandersetzungen.
In Frankfurt konnten so die Matrosen ohne Schwierigkeiten das Heft in die Hand nehmen. Sie sorgten dafür, dass in allen Frankfurter Truppenteilen Soldatenräte gewählt wurden. Parallel dazu begannen die Belegschaften von Industriebetrieben, Arbeiterräte zu wählen. Wie zu Beginn des Krieges hielten sich auf den Straßen Menschenmengen auf, um Neuigkeiten zu erfahren. Es herrschte ein großes Durcheinander. Da ergriff ein 21 ½ Jahre alter Vizewachtmeister Moser, Student aus Freiburg, die Initiative. Er holte sich aus einer Versammlung der „Unabhängigen“ die Soldaten heraus, marschierte mit ihnen zum „Frankfurter Hof“ und errichtete dort aus Vertretern verschiedener Truppenteile einen Achter-Ausschuss. Moser und sein Soldatenrat genossen schnell Autorität und konnten im Laufe der Nacht auf den 9. November die Macht an sich reißen. Stadtverwaltung und Militär erklärten sich zur Zusammenarbeit bereit. Parallel dazu bildete sich ein Arbeiterrat, der zunächst nur aus Vertretern der unabhängigen Sozialdemokraten bestand. In öffentlichen Erklärungen zeigte sich, dass der Soldatenrat zunächst militärische Fragen regeln wollte, während der Arbeiterrat das Kapital und den Militarismus als verantwortlich für den Niedergang bezeichnete und die Herrschaft des Proletariats anstrebte. Beide Räte zeigten sich besonnen und an der Herstellung einer Ordnung interessiert. Sie schlossen sich auch alsbald zusammen.
In der Frankfurter Bevölkerung machte sich Erleichterung und eine gewisse Zufriedenheit breit. Nach Streitigkeiten im Soldatenrat fuhr Moser bald nach Berlin weiter. Die Verwaltung konnte weiterarbeiten. Es schien so, als hätte Frankfurt die Revolution glimpflich überstanden. Doch zwei Problemfelder gab es offenkundig. Zum einen wusste man nicht, was der Waffenstillstand bringen würde. Zum anderen war klar, dass die Demobilisierung des Heeres Frankfurt vor große Aufgaben stellen würde, und das angesichts der weiter bestehenden kritischen Versorgungslage. Und so kam es dann auch. Zwischen 13. November und 1. Dezember kamen über 700.000 Soldaten auf dem Weg in die Heimat nach Frankfurt, einzeln oder in Gruppen, ohne jede Ordnung. Über 200.000 davon mussten Verpflegung und Löhnung erhalten. Zwischen 4. Dezember und 20. Januar 1919 wurden die Kriegsgefangenenlager im Rhein-Maingebiet aufgelöst. Ende November zog die 5. Armee durch das Rhein-Maingebiet. Zwei Divisionen (die 115. und die 213.) wurden in Frankfurt untergebracht. Anschließend folgte noch das Infanterie-Regiment 439. Übten diese geschlossenen Verbände Disziplin, so galt dies überhaupt nicht für die anderen Heimkehrer. Anfang Dezember kam es denn auch zur Plünderung von Magazinen und zu Raubzügen durch die Stadt auf der Suche nach allem Brauchbaren. Trotzdem versuchten die Frankfurter, wieder zum normalen Leben zurückzukehren.
4. Die Frankfurter Kirche in der Revolutionszeit
Auch Frankfurt hatte unter dem Krieg gelitten; die Menschen hatten gehungert und 10.753 Kriegstote waren zu beklagen. In einer ungewissen Situation fand die zentrale Reformationsfeier am 3. November 1918 zum Thema „Reformation oder Revolution" statt. Dann ging der Krieg zu Ende und Frankfurt wurde von der Revolution erreicht. Das weitere Geschehen und die Gefühle der Menschen beschrieb Senior Wilhelm Bornemann im Frankfurter Kirchenkalender für 1920, d. h. im Sommer 1919:12„Wie ein schwerer Traum, voller Unruhe und stürmisch wechselnder Bilder, steht die Entwicklung der Dinge seit dem letzten Herbst vor unserer Seele. Wohl ist nunmehr der 'Friede' geschlossen. Was aber kommen wird im Innern unseres Reiches und von außen her, bleibt dennoch unsicher, unklar und völlig unberechenbar. … Nicht, wie man hätte denken können, mit viel Gewalttat und Blutvergießen, mit Barrikaden und Bürgerkrieg, sondern rasch schleichend und geheimnisvoll still, wie der erste Frost plötzlich alles welke Laub abfallen läßt. Fast geräuschlos, in unheimlicher Schnelligkeit vollzog sich in wenigen Tagen die Abdankung des Kaisers und aller deutschen Fürsten und damit der Zusammenbruch der bisherigen Ordnung und Verfassung des deutschen Reiches. Die höheren Militärbehörden und Zivilbehörden verschwanden oder veränderten sich von Grund aus. Die Arbeiter- und Soldatenräte zogen überall ein. … Die Stimmung unseres Volkes dem allen gegenüber ist menschlich durchaus begreiflich. Nach vierjähriger höchster Anspannung aller Kräfte trat mit dem Waffenstillstand und der Revolution eine plötzliche Erschlaffung ein. Stumpf und mürbe, fassungslos und hoffnungslos stand man dem Neuen gegenüber. Man begriff das Unerwartete, Ungeheure nicht gleich. Man war wie vor den Kopf geschlagen, zugleich aufgepeitscht durch die Ereignisse und doch wie gelähmt. … Ueber die moralischen Schäden des Kriegstreibens, über Gewalttätigkeit und Verrohung, Wuchergeist und Selbstsucht, Unredlichkeit, Unzucht und Leichtsinn war man empört gewesen. Aber die langen Monate des Waffenstillstandes haben diese Schäden nicht zu beseitigen vermocht, sondern Charakterlosigkeit und sittliche Schwachheit noch vermehrt. Weder eine tiefgreifende sittliche, noch eine religiöse Erneuerung ist vorläufig zu merken.“
Zu all' dem kam, dass die wirtschaftliche Mangellage weiter bestand. Das wirkte sich auch auf die kirchliche Arbeit aus. Gebäude, wenn auch teilweise vom Militär zurückgegeben, waren häufig wegen mangelnder Heizung und Beleuchtung nicht benutzbar. Nun rächte sich auch die enge Verbindung mit dem Staat, denn ohne funktionierende kirchliche Oberbehörden war die Kirche in ihrer Handlungsfähigkeit eingeschränkt. War doch das eigentliche kirchliche Leitungsorgan in Frankfurt das Konsistorium, die staatliche Kirchenbehörde mit vom König berufenen Mitgliedern. Über ihm stand das preußische Kultusministerium. Diese Behörden existierten weiter, aber es fehlte der Kopf, der König, in dessen Auftrag alle gehandelt hatten. Zudem hatten nun politische Kräfte das Sagen, die die Trennung der Kirche vom Staat propagierten und schnell umsetzten wollten. Das wurde besonders deutlich bei der Frage, ob es noch Religionsunterricht in den Schulen geben dürfe. Das führte dazu, dass einerseits auf einmal Kirchenvertreter gefordert waren, in politischen Versammlungen die Sache der Kirche zu vertreten. Andererseits bestand ein großes Bedürfnis der Gemeindeglieder, über die politischen Vorgänge informiert zu werden und Orientierung zu erhalten, wie sie aus evangelischer Sicht zu bewerten seien.
So fand bereits am 7. November eine Pfarrerversammlung statt, in der zwei öffentliche Erklärungen verabschiedet wurden. Die eine, formuliert von Pfarrer Erich Foerster, galt der Allgemeinheit und versuchte, die politische Lage vom evangelischen Standpunkt aus zu beleuchten. Die andere, von Senior Wilhelm Bornemann formuliert, wandte sich an die Gemeinden und versuchte die „rechte religiös-sittliche Gesinnung“ der Gemeinde zu beschreiben. Beide waren im Druck, als am 9. November der Kaiser abdankte und die Texte verändert werden mussten. Die gemeindliche Erklärung wurde nach den Gottesdiensten verteilt. Die andere wurde in verschiedenen Zeitungen veröffentlicht. Als besonders bedrängend wurde es angesehen, dass die evangelische Kirche im Angesicht der Trennung von Staat und Kirche nicht einmal über zuverlässige Gemeindegliederzahlen verfügte. Zwar kannte man die Kirchensteuerzahler, aber auch nicht mehr. So gingen die Gemeinden daran, in mühsamer Arbeit ihre Gemeindeglieder zu ermitteln. Als Reaktion auf die Ereignisse erschien am 16. November 1918 ein Aufruf der Frankfurter Pfarrer, mit dem diese sich grundsätzlich zur Mitarbeit an Veränderungen bereit erklärten. Am Bußtag gab es eine Kanzelabkündigung zur aktuellen Situation. Am 1. Dezember 1918 fanden in der Pauls- und in der St. Katharinenkirche große Versammlungen statt, in denen insbesondere über die kirchenfeindliche Haltung des neuen preußischen Kultusministers Adolph Hoffmann gesprochen wurde. Es wurde dabei deutlich, dass viele Protestanten sich gegen staatliche Eingriffe in die Kirche wehren wollten. Ärger verursachte auch die Tatsache, dass die Paulskirche ohne Rücksichtnahme auf die Kirchengemeinde für politische Veranstaltungen genutzt wurde.
Am 4. Dezember 1918 lud der Bezirkssynodalvorstand zu einer Versammlung ein, in der man sich mit der Rechtslage befasste, sich aber z. B. nicht über den Wortlaut eines Formulars einigen konnte, mit dem sich die Gemeindeglieder in Gemeindelisten eintragen sollten. Viel Unbeholfenheit spricht hieraus. So war es vielleicht auch wichtiger, dass in der Folgezeit eine Fülle von gemeindlichen Veranstaltungen stattfand, in denen die Gemeindeglieder über die Situation informiert wurden und diskutieren konnten. Dabei war die Haltung verbreitet, dass man eine Trennung vom Staat begrüßte, sie aber nicht gewaltsam, sondern behutsam umgesetzt sehen wollte. Tatsächliche Veränderungen aber gingen von den Gemeindeverbänden aus. Nachdem die Reformierten vorangegangen waren, beschloss beispielsweise am 10. März 1919 die lutherische Stadtsynode, dass die Frauen das Wahlrecht erhalten sollten, und gab diesen Beschluss an die Bezirkssynode weiter.13
Am 15. Dezember 1918 wurde die „Deutsche evangelische Volksvereinigung“ gegründet, die alle Freunde der evangelischen Kirche sammeln wollte. Auf Grund der Äußerungen Hoffmanns befürchtete man eine Kirchenaustrittswelle. Deshalb verteilten die meisten Frankfurter Gemeinden Formulare mit einer Erklärung, dass der Unterzeichner im Falle einer Trennung von Staat und Kirche dieser treu bleiben werde. Ein besonderes Thema war die Zukunft des Religionsunterrichts. Am 29. Dezember 1918 fanden deshalb auf Anregung der Volksvereinigung 23 Versammlungen statt, die 11. bis 12.000 Teilnehmer verzeichnen konnten. Hier wurde eine Petition an die künftige Nationalversammlung in Weimar unterstützt. Am 12. Januar 1919 veranstalteten Protestanten und Katholiken eine Demonstration auf dem Römerberg. Von der Alten Nikolaikirche herab sprachen Vertreter beider Konfessionen. Ein katholischer Redner forderte die Menge auf, zuerst „Ein feste Burg“ zu singen und dann „Großer Gott, wir loben dich“.14
5. Die preußische Kirchenpolitik
Der Hintergrund hiervon war folgender. In einigen Ländern verfolgten die neuen Regierungen sofort eine Kirchenpolitik, die auf die strikte Trennung von Staat und Kirche hinauslief. Das galt ganz besonders für die vorläufige preußische Regierung („Rat der Volksbeauftragten“), die vom 14. November 1918 bis 25. März 1919 regierte. Frankfurt betraf das insofern, als es weiterhin dem preußischen Staat angehörte. So entfachte zum Beispiel der eine der beiden Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung (Kultusminister), Adolph Hoffmann, aus kirchlicher Sicht geradezu einen Kulturkampf. Er war ein energischer Vertreter der Kirchenaustrittsbewegung. Schon am 16. November 1918 ordnete er in einer Konferenz der geistlichen Abteilung seines Ministeriums an, dass die Trennung von Staat und Kirche im Wege der Verordnung ohne Verzug durchzuführen sei.15 Am 29. November 1918 wurde durch einen sogenannten Schulerlass der Religionsunterricht als ordentliches Lehrfach aufgehoben.16 Und am 13. Dezember 1918 erließ die preußische Revolutionsregierung ein Gesetz zur Erleichterung des Kirchenaustritts. Höhepunkt der antikirchlichen Maßnahmen der Revolutionsregierung war am 5. Dezember 1918 die Ernennung des Berliner Pfarrers Dr. Wilhelm Wessel zum „Regierungsvertreter für die kirchlichen evangelischen Behörden in Preußen“.17 Wessel durfte jederzeit an den Sitzungen der Kirchenleitungen in den preußischen Provinzen teilnehmen und deren Vorsitz führen. Sämtliche Beschlüsse des Evangelischen Oberkirchenrates und der Konsistorien bedurften seiner Gegenzeichnung, um Rechtskraft zu erlangen. Das war nicht nur ein rechtswidriger Eingriff in die Rechte der Kirchen, sondern auch der Versuch, die Kirche unter Staatsaufsicht zu stellen, wie ihn die Nationalsozialisten dann 1933 ebenfalls unternahmen. Die evangelische und die katholische Kirche protestierten dagegen. Hoffmann verlor schon am 4. Januar 1919 sein Amt, weil er in der SPD, der er angehörte, den Rückhalt verlor. Sein Ministerkollege Konrad Haenisch hatte sich zunächst den Maßnahmen Hoffmanns nicht entgegengestellt. Als Hoffmann Ende Dezember erkrankte, schränkte Haenisch am 28. Dezember 1918 den Schulerlass auf die Bereiche ein, wo es keinen Widerstand gab.18 Am 13. Januar 1919 nahm er auch die Ernennung Wessels zurück.19 Diese ersten Erfahrungen mit der neuen Regierung konnten die Vorbehalte in der evangelischen Kirche gegen die neue Republik nur verstärken.
6. Weimarer Verfassung und preußischer Staatskirchenvertrag
Am 19. Januar 1919, schon gut zwei Monate nach dem politischen Zusammenbruch, fanden Wahlen zur Weimarer Nationalversammlung statt bei denen Frauen erstmals das Wahlrecht hatten. Am 31. Juli 1919 wurde die Weimarer Verfassung angenommen.20 Sie enthielt Regelungen für die Religion und die Kirchen, wie sie erstmals in der Paulskirchenverfassung und dann auch in der Preußischen Verfassung von 1850 enthalten waren. So genossen jetzt alle Bewohner des Reichs volle Glaubens- und Gewissensfreiheit. Es wurde die ungestörte Religionsübung gewährleistet und unter den Schutz des Staates gestellt. Allerdings blieben die allgemeinen Staatsgesetze hiervon unberührt. Die das Verhältnis von Staat und Kirchen regelnden Vorschriften der neuen Verfassung begannen mit der Feststellung "Es besteht keine Staatskirche" (Art.137 Abs. 1). Wichtigste Regelung für die Kirchen aber war daneben die Garantie des kirchlichen Selbstverwaltungsrechts innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes. Nun konnten die Kirchen ihren Auftrag eigenverantwortlich formulieren und verwirklichen sowie sich eine eigene Ordnung geben, die ihre Grenzen nur in dem "für alle geltenden Gesetz" fand. Die Kirchen blieben Körperschaften des öffentlichen Rechts und erhielten das Besteuerungsrecht. Allerdings hatte das Ganze auch einen Pferdefuß. Art. 137 Abs. 8 überließ weitere Regelungen zur Durchführung dieser Bestimmungen der Landesgesetzgebung.
Davon machte Preußen, zu dem Frankfurt ja weiter gehörte, Gebrauch. Das lag zum einen daran, dass die Durchführung der Trennung mit komplizierten rechtlichen Problemen zu tun hatte. Hierzu gehörte die Frage, wer denn nach der Revolution das Landesherrliche Kirchenregiment Inne hat. Die Kirche stand auf dem Standpunkt, dass es an die Kirche zurückgefallen sei, da der Landesherr es nicht als Teil der Staatsgewalt, sondern als vornehmstes Kirchenmitglied innegehabt habe.21 Andererseits gab es in den politischen Parteien auch unterschiedliche Vorstellungen vom Umgang mit der evangelischen Kirche. Dies wurde in den Verhandlungen der Preußischen Landesversammlung deutlich, die die neue preußische Verfassung erarbeiten sollte.22
In den Wahlen hierzu hatten die SPD 36,38 %, das Zentrum 22,22 %, die DDP 16,20 %, die DNVP 11,22 %, die USPD 7,42 % und die DVP 5,69 % der Stimmen erhalten. Die DDP, in der der evangelische Theologe Martin Rade eine wichtige Rolle spielte, sah die Frage des Verhältnisses von Staat und Kirche als eine Kernfrage der Verfassungsverhandlungen an. Ihre Sorge war, dass bei falschen Entscheidungen viele Menschen entwurzelt würden. Der Staat dürfe deshalb die Kirche nicht ins Dunkle springen lassen, sondern müsse sie finanziell so ausstatten, dass sie ihre Aufgaben wahrnehmen könne. Andererseits dürfe man die Kirche auch nicht aus dem Staat in die Hände einer Partei entlassen, denn sie stehe in der Gefahr, politisch zu einem Hort der Reaktion zu werden. Deshalb müsste für demokratische Strukturen in Form von allgemeinen Wahlen für eine Kirchenversammlung gesorgt werden. Diese müsse die Kirchenverfassung und damit auch den Träger des obersten Bischofsamtes bestimmen. Damit die Konservativen nicht zu sehr dominieren, müsse es einen Minderheitenschutz geben. Die SPD teilte diese Positionen. Dabei griff man auf Ferdinand Lassalle, Karl Marx und Friedrich Engels mit ihrer Auffassung zurück, dass Religion Privatsache sei. Die USPD schloss sich inhaltlich, wenn auch nicht in der „gesitteten Form des Vortrags“, der SPD an. Die DNVP lehnte eine staatliche Einmischung in kirchliche Angelegenheiten ab. Die DVP trat für die Eigenständigkeit der Kirche, für eine Anerkennung der Leistungen der Kirche am Volksganzen und für deren ausreichende finanzielle Ausstattung ein. Angesichts dieser unterschiedlichen Auffassungen wundert es nicht, dass der preußische Staat sich Zeit ließ mit der Anerkennung der Kirchenverfassungen, die erst 1924 erfolgte. Hierin waren aber auch Aufsichtsrechte begründet, die erst mit dem Preußischen Staatskirchenvertrag von 1931 ein Ende fanden.
So konnte man das preußische Staatsgesetz betreffend die evangelischen Verfassungen vom 8. April 192423 durchaus als Einschränkung der Regelungen der Reichsverfassung verstehen. Da wurden zwar zunächst jene Vorschriften aufgehoben, nach denen Änderungen früherer kirchengesetzlicher Regelungen der staatlichen Genehmigung bedurften. Zugleich wurden die Kirchen jedoch verpflichtet, alle Gesetze und Satzungen der Staatsbehörde vor der Verkündigung vorzulegen. Diese konnte ihrerseits hiergegen Einspruch aus im Einzelnen aufgeführten Gründen einlegen. Auch bedurfte die Neubildung und Veränderung von Kirchengemeinden und kirchlichen Verbänden der staatlichen Genehmigung. Beschlüsse kirchlicher Organe bedurften der Genehmigung etwa bei der Veräußerung von Gegenständen, die einen geschichtlichen, wissenschaftlichen oder Kunstwert hatten, bei der Aufnahme von Anleihen, bei der Anlage oder Veränderung von Friedhöfen, bei Sammlungen anlässlich kirchlicher Veranstaltungen oder der Verwendung kirchlichen Vermögens zu anderen als den bestimmungsgemäßen Zwecken. Schließlich war die Staatsbehörde berechtigt, in die kirchliche Vermögensverwaltung Einblick zu nehmen und die Rechte der Organe der Kirchengemeinden und der kirchlichen Verbände auf vermögensrechtlichem Gebiet auszuüben. Die Aufsichts- und Eingriffsrechte, die der preußische Staat sich mit diesem Gesetz sicherte, schufen also eine Abhängigkeit der evangelischen Kirche, die daran zweifeln ließ, dass man hier noch davon sprechen konnte, dass die evangelische Kirche ihre Angelegenheiten selbständig ordnet und verwaltet. Ulrich Stutz nannte das 1926 die „hinkende Trennung“ von Staat und Kirche, eine geradezu beschönigende Formulierung. Deshalb strebten die Kirchen auch nach einem Staatskirchenvertrag, der dem Konkordat mit der katholischen Kirche ähneln sollte, schließlich am 11. Mai 1931 geschlossen und auch von Vertretern der der Frankfurter Landeskirche unterzeichnet wurde.24
Der Vertrag nahm den Wortlaut der Weimarer Verfassung auf und gewährte der Freiheit, den evangelischen Glauben zu bekennen und auszuüben, seinen Schutz. Sodann verpflichtete er die Kirchen, Gesetze und Notverordnungen über die vermögensrechtliche Vertretung der Kirche und über die Ordnung ihrer Vermögensverwaltung dem Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung vorzulegen. Von besonderer Bedeutung für die Kirchen war eine Dotation für kirchenregimentliche Zwecke in Höhe von 4.950.000 Reichsmark. Umstritten war Art. 7, demzufolge die Kirchen zum Vorsitzenden einer Kirchenleitung oder einer höheren kirchlichen Verwaltungsbehörde sowie zum Inhaber eines kirchlichen Amtes, mit dem der Vorsitz oder die Anwartschaft auf den Vorsitz einer Behörde verbunden war, niemand ernennen, von dem nicht die zuständige kirchliche Stelle durch Anfrage bei der preußischen Staatsregierung festgestellt hatte, dass keine Bedenken politischer Art bestehen. Eine solche Regelung war neu. Unterzeichner für die Frankfurter Kirche waren Richard Schulin, Präsident des Evangelischen Landeskirchenrates, und Johannes Kübel, Kirchenrat.
Vor sich selbst rechtfertigte Kübel den Vertrag mit folgenden Worten: „Soviel Dank auch immer die Kirchen dem vormaligen Königtum Preußen und dem landesherrlichen Kirchenregiment schulden, so sehr auch immer die Herzen vieler treuester Kirchenglieder, auch wie vieler Mitglieder der Kirchenbehörden an der vergangenen Staatsform hängen, so ist doch, evangelisch, religiös betrachtet, die Staatsform kein Glaubensartikel. Nur der Staat selbst ist göttlichen Rechts; die Staatsform ist dem Wandel und Wechsel der Geschichte unterworfen.“25
In seinem Kommentar zum Vertrag26 stellte Johannes Kübel fest, dass durch die Freigabe der Kirchengesetzgebung bis auf zwei Punkte des Vermögensrechts zum ersten Mal die Voraussetzungen für ein eigenes evangelisches Kirchenrecht gegeben seien.27 Eine weitere Bedeutung sah er darin, dass der Staat die Kirche nun als Vertragspartner betrachtete. Damit habe eine Entwicklung ihren Abschluss gefunden, während der seit der Reformation bis ins 19. Jahrhundert der Staat das einseitige Gesetzgebungsrecht innegehabt habe.28 So habe der Vertrag viele positive Aspekte. Als Rückschritt in der Entwicklung betrachtete Kübel die politische Klausel.29 Dem Missbrauch der Klausel habe man mit dem Schlussprotokoll Abs. 2 vorbeugen wollen, demzufolge nur „staatspolitische“ Bedenken geltend gemacht werden könnten. Kübel nannte aber auch die Möglichkeit, dass eine nationalsozialistische Regierung den Stammbaum zu einer solchen Tatsache machen könne.30 Das war eine kluge Sicht auf die damalige politische Situation. In seiner Schlussbetrachtung fragte Kübel, wie lange diese „dauernde Ordnung“ wohl gelten werde. Da äußerte er allerdings keine Sorge vor einer nationalsozialistischen Diktatur, sondern fragte: „Wird sie auch die bolschewistische Flut überdauern, die kommen will?“31 Wir wissen heute, dass sie die faschistische Flut nicht überdauert hat, dass ihr nur zwei Jahre Geltungsdauer beschieden waren und dass sie den Nationalsozialisten die rechtliche Grundlage für die Gleichschaltung der evangelische Kirche in die Hand gab.
7. Die freie Volkskirche
Die geschilderten Ereignisse brachten auch für die Frankfurter Kirche die Notwendigkeit einer rechtlichen Neuordnung. Dabei wurde verschiedentlich die Frage aufgeworfen, ob es angesichts der geringen Größe noch zeitgemäß sei, eine selbständige Landeskirche zu gründen, oder ob nicht der Anschluss an eine größere Kirche richtig sei.32 Dass es dazu nicht kam, hatte mehrere Gründe. Der Weg der Frankfurter Kirche nach dem Anschluss an Preußen war der zu einem eigenen Konsistorialbezirk gewesen, der eigentlich einer Landeskirche entsprach. Auch nach dem Ende des landesherrlichen Kirchenregiments war die Kirche vom preußischen Staat abhängig und bedurfte zu organisatorischen Veränderungen der staatlichen Genehmigung. Schon das Mitschwimmen mit den anderen preußischen Kirchen und deren mühsame Verhandlungen führten zu einem jahrelangen Prozess. Ein Ausscheren hätte eigene Verhandlungen zweifelsohne verlängert. Auch Anschlussverhandlungen mit anderen Kirchen wären mühsam gewesen, da diese sich ebenfalls in einem Selbstfindungsprozess befanden. Trotzdem erschien noch unmittelbar vor dem ersten Zusammentreten der neuen Landeskirchenversammlung am 6. Januar 1925 in der „Frankfurter Zeitung“ ein Artikel mit der Forderung, sofort der seitherigen „ungesunden zwergenhaften Existenz der Frankfurter Landeskirche“ ein Ende zu bereiten. Die Landeskirchenversammlung solle umgehend den Anschluss an die Rheinische Provinzialkirche suchen. Dazu konnte sich die neue Landeskirchenversammlung aber nicht durchringen. Man beschritt den bisherigen Weg weiter. Doch die Frage blieb virulent.
In ihrer Tagung vom 22. bis 27. April 1920 verabschiedete die Bezirksversammlung dann das Wahlgesetz für eine verfassunggebende Kirchenversammlung, das auch das Frauenwahlrecht enthielt.33 Die Versammlung bestand aus je 18 geistlichen und weltlichen Vertretern der Landeskirche, aus 18 weltlichen Vertretern der Kirchengemeinden und aus sechs vom Konsistorium berufenen Vertretern. Die Wahl zur Verfassung-gebenden Kirchenversammlung am 25. September 1921wurde zu einer Richtungswahl gemacht. Die Reformierten warben mit dem Slogan: „Es gilt den Fortbestand der reformierten Eigenart und Kirche“. Auf lutherischer Seite hieß es: „Wir wollen in Frankfurts unklare Kirchlichkeit einen Weckruf erschallen lassen: Wie stehen wir, 'positiv' oder 'liberal'? Welche Bedeutung soll Christus in der Verkündigung der Kirche haben?“ Die reformierten Gemeindeglieder verstanden ihren Ruf, gingen zur Wahl und errangen bei nur 4.500 Gemeindegliedern 11 der 60 Sitze. Die Lutheraner verstanden offenbar die theologischen Feinheiten nicht, hatten eine geringere Wahlbeteiligung und entsprechend weniger Sitze.34
Obwohl spät dran, verzögerten sich die schwierigen Beratungen über eine Verfassung immer wieder. Die Verhandlungen über die neue Verfassung gestalteten sich vor allem deshalb schwierig, weil recht unterschiedliche Vorstellungen und Interessen unter einen Hut gebracht werden mussten.35 Zum einen gab es die alte Frage nach dem Verhältnis der reformierten Minderheit zur lutherischen Mehrheit. Zum anderen standen sich theologisch und kirchenpolitisch die positive Gruppe, die liberale Gruppe und die Mittelpartei gegenüber. Schließlich beschloss dann aber doch die verfassunggebende Versammlung am 12. Januar 1923, gut vier Jahre nach der Revolution die Verfassung der Evang. Landeskirche Frankfurt a. M. Diese Landeskirche hatte als Kirchenparlament die Landeskirchenversammlung, als Leitungsorgan den Landeskirchenrat und ein Landeskirchengericht. Für die Gemeinden änderte sich organisatorisch wenig. Der lutherische und der reformierte Gemeindeverband, Synodalverbände genannt, behielten ihre starke Stellung. Welche Bedeutung das hatte, wird beim Vergleich mit dem vorherigen Konsistorialbezirk deutlich. Auf einem vergleichsweise winzigen Kirchengebiet hatte es bisher die Bezirkssynode, eine lutherische Stadtsynode, eine lutherische Kreissynode, eine reformierte Stadtsynode und eine vereinigte lutherische und reformierte Stadtsynode gegeben. Die eigentliche Leitung hatte jedoch in den Händen des Konsistoriums gelegen. Dessen Mitglieder waren vom König ernannt worden. Präsident war ein Staatsbeamter, der im Hauptamt Konsistorialpräsident in Wiesbaden war.
8. Schluss
Wenn dieser Vortrag in unserem Jahresprogramm mit dem Stichwort Epochenumbruch angekündigt war, dann war das, was die evangelische Kirche angeht, also nicht übertrieben. Hatte doch um 1918 herum eine vierhundertjährige Epoche ihr Ende gefunden, in der die evangelische Kirche eng mit dem Staat verbunden und von diesem im starken Maße abhängig gewesen war. Dass die Beendigung dieses Verhältnisses nicht einfach war, ist wohl deutlich geworden. Am Ende stand aber, wenn auch nur für wenige Jahre, eine „freie Volkskirche“, wie es im ersten Verfassungsentwurf geheißen hatte.
1Drüner, Im Schatten des Krieges. Zehn Jahre Frankfurter Geschichte 1914-1924. Frankfurt a. M. 1934, S. 108 f, S. 321.
2Drüner, Im Schatten, S. 112 f.
3Drüner, Im Schatten, S. 113, Anm. 91.
4Drüner, Im Schatten, S. 318.
5Drüner, Im Schatten, S. 203
6Drüner, Im Schatten, S. 203 f.
7Drüner, Im Schatten, S. 203 f.
8Foerster, Lebenserinnerungen,Preetz/Holstein 1996, S. 53 f.
9Drüner, Im Schatten, S. 326.
10Drüner, Im Schatten, S 326 f.
11Hierzu und zum Folgenden: Drüner, Im Schatten, S. 329 – 346.
12Bornemann, Frankfurts evang. Kirche in der Revolutionszeit, in: Frankfurter Kirchenkalender 1920, S. 30, 31.
13Chronik, FKK 1920, S. 64.
14Dechent, Frankfurter Kirchengeschichte, Bd. II, S. 563 f.
15Motschmann, Claus: Evangelische Kirche und preußischer staat in den anfängen der Weimarer Republik, Lübeck und Hamburg 1969, S. 28 unter Bezugnahme auf eine Eingabe dieser Abteilung an die Regierung vom 21.12.1918.
16Motschmann: Evangelische Kirche, S. 30, unter Bezugnahme auf Mitteilungen des Vertrauensrates Nr. 2 vom 23.12.1918.
17Motschmann: Evangelische Kirche, S. 30 f.
18Motschmann, Evangelische Kirche, S. 52.
19Motschmann, Evangelische Kirche, S. 52.
20Die Ausführungen folgen Kübel, Johannes: Der Vertrag der evangelischen Landeskirchen mit dem Freistaat Preußen, Berlin 1931.
21Motschmann, Evangelische Kirche, S. 37 f.
22Zum Folgenden: Motschmann, Evangelische Kirche, S. 95 – 103.
23Preuß. Gesetzsammlung 1924, S. 221.
24Vertrag der Evangelischen Landeskirchen mit dem Freistaat Preußen vom 11. Mai 1931, Amtsblatt der Evangelischen Landeskirche Frankfurt am Main 1931, S. 13 ff; Telschow, Rechtsquellen, S. 242 – 251.
25Kübel, Der Vertrag, S. 26.
26Kübel, Der Vertrag der evangelischen Landeskirchen mit dem Freistaat Preußen.
27Kübel, Der Vertrag, S. 21.
28Kübel, Der Vertrag, S. 22 f.
29Kübel, Der Vertrag, S. 24.
30Kübel, Der Vertrag, S. 45 f.
31Kübel, Der Vertrag, S. 75.
32Bornemann, Die Selbständigkeit der Frankfurter Landeskirche, in: Frankfurter Kirchenkalender 1926, S. 30-41.
33Chronik, FKK 1921, S. 22: s. hierzu auch Schwarzlose, Karl: Verfassunggebende Kirchenversammlung. In: Frankfurter Kirchenkalender 1921, S. 27-31.
34Chronik, FKK 1923, S. 19 f.
35Hierzu Kübel, Evangelisches Kirchenrecht für Frankfurt am Main, Frankfurt a. M. 1932, S. 24-26.