Ostdenkschrift

Die Ostdenkschrift der EKD aus deutscher Sicht

Vortrag anläßlich der Mitgliederversammlung von Zeichen der Hoffnung am 18. Juni 2005

 

I. Am 1. Oktober 2005 wird es 40 Jahre her sein, daß die Evangelische Kirche in Deutschland die Denkschrift „Die Lage der Vertriebenen und das Verhältnis des deutschen Volkes zu seinen östlichen Nachbarn” veröffentlicht hat. Wenn wir uns heute daran erinnern, dann zunächst aus einem sehr formalen Grund. In unserer Satzung haben wir nämlich formuliert, daß wir an die „Aktivitäten, die vor und seit der Ostdenkschrift im Raum der evangelischen Kirche entstanden sind,” anknüpfen wollen. Ist es da nicht notwendig, sich ins Gedächtnis zu rufen, was diese Denkschrift zum Inhalt hatte, wie sie zustande gekommen ist und welche Wirkungen sie hatte? Es gibt aber noch einen anderen Grund. Die evangelische Kirche hatte damals in unserer Gesellschaft eine Vorreiterrolle übernommen. Doch wieder einmal ist so etwas schnell vergessen worden. Dabei sind doch damals Gedanken in die öffentliche Diskussion gebracht worden, die bis heute aktuell sind. Die, abgekürzt „Ostdenkschrift” genannte, Denkschrift wendete sich ja in zwei Richtungen. Sie machte einerseits auf die Situation der Vertriebenen aufmerksam und betrachtete andererseits das Verhältnis zu den östlichen Nachbarn Deutschlands kritisch. Im ganzen Text kamen unterschiedliche Auffassungen zu Wort, wurde genau und differenziert erörtert und abgewogen, ohne daß auf einen eigenen Standpunkt verzichtet wurde. Und es spiegeln sich in ihr die Positionen der offiziellen deutschen Politik wie der Vertriebenenverbände. Also lassen wir sie doch zunächst selbst zu Wort kommen.

II. Aus dem Vorwort: „Die Evangelische Kirche in Deutschland beobachtet mit wachsender Sorge, daß die Wunden, die der Zweite Weltkrieg im Verhältnis des deutschen Volkes zu seinen östlichen Nachbarn geschlagen hat, bis heute, 20 Jahre nach seinem Ende, noch kaum ange ­fangen haben zu verheilen. Ein wesentlicher Grund dafür ist auf deut ­scher Seite, daß die Besetzung der deutschen Ostgebiete jenseits der Oder-Neiße-Linie durch Sowjetrußland und Polen und die Vertreibung von Millionen deutscher Menschen aus diesen Gebieten und aus den alten deutschen Siedlungsgebieten in der Tschechoslowakei sowie im übrigen Osten und Südosten Europas Probleme aufgeworfen haben, die bisher nicht zureichend gelöst worden sind .... Die öffentliche Erörterung dieser Probleme nimmt in der Bundesrepublik Deutschland und in Berlin (West) einen breiten Raum ein.”

Aus Abschnitt I. „Umfang und Zusammenhang der Probleme”: „Jede Betrachtung zur Lage der Vertriebenen und zum künftigen Verhält ­nis des deutschen Volkes zu seinen östlichen Nachbarn muß damit begin ­nen, den Umfang der menschlichen Seite der Katastrophe des deutschen Ostens bewußt zu machen. In Millionen von Einzelschicksalen wieder ­holte sich mit dem Verlust der Heimat der Verlust beinahe jeglichen äußeren Besitzes und in den meisten Fällen auch der Verlust von nahen Angehörigen. Millionenfach wiederholte sich mit den Strapazen der Ver ­treibung und mit dem Kampf um die nackte Selbsterhaltung eine totale Lebenskrise, die auch die seelische, geistige und geistliche Substanz er ­faßte. ... Die Vorgänge wären unangemessen verkürzt dargestellt, würde nicht von Anfang an auch das menschliche und geschichtliche Schicksal der östlichen Nachbarn Deutschlands mit ins Auge gefaßt. Sie haben den Krieg und den Kriegsausgang ebenfalls als menschliche und nationale Katastrophe erfahren. Dabei hatte das deutsche Volk schwere politische und morali ­sche Schuld gegenüber seinen Nachbarn auf sich geladen. Die den Deut ­schen angetanen Unrechtstaten können nicht aus dem Zusammenhang mit der politischen und moralischen Verirrung herausgelöst werden, in die sich das deutsche Volk vom Nationalsozialismus hat führen lassen.”

Aus Abschnitt II. „Die Vertriebenen in Gesellschaft und Kirche”: „Bei allem, was man in Kirche, Staat und Gesellschaft zu Problemen der Vertriebenen sagt, muß bedacht werden, daß die Vertreibung eine Unsicherheit in der Umweltbeziehung, ein verletztes Rechtsgefühl und ein Mißtrauen gegenüber der Zukunft bei den Betroffenen zur Folge hat. Allerdings wäre der Zweck einer solchen Untersuchung verfehlt, würde man sie auf die Frage beschränken, wie weit die wirtschaftliche Eingliederung der Vertriebenen im Sinne einer Sicherung der äußeren Lebensbedingungen gelungen ist. .... In Wahrheit haben das Zerstörungswerk des Nationalsozialismus, der Zusammenbruch des Reichs im Jahre 1945 und die über die deutschen Ostgebiete hereingebrochene Katastrophe das ganze deutsche Volk in seinen geistigen und sittlichen Grundlagen erschüttert. ......Vor dem deutschen Volk stand und steht noch immer die Aufgabe, zu einer neuen Gemeinschaft aus Einheimischen und Ver ­triebenen zusammenzuwachsen.”

Aus Abschnitt III. „Zur gegenwärtigen Lage in den Gebieten jenseits der Oder-Neiße-Linie”: „Der Publizist und Historiker Walter Görlitz erinnert in einem Vortrag an die geradezu verzwei ­felte Ausgangsposition, in der sich Polen nach dem Kriege befunden habe: ,,Nun sollten wir nicht immer nur auf das sehen, was sich damals in den deutschen Ostgebieten vollzog, die nationalistische Orgie der Mas ­senaustreibung der Deutschen, auf alle diese Handlungen des Hasses und der Unvernunft von polnischer Seite. Wir müssen, wenn wir die polnische Politik von heute verstehen wollen, uns ganz nüchtern klar ­machen, daß die polnische provisorische Regierung ... Herr geworden war über ein weithin verwüstetes, ausgeplündertes, zerrüttetes Polen wie über ein ausgeplündertes, zerrüttetes Ostdeutschland. Es ist für diese Regierung . . . zweifellos eine fürchterliche Situation gewesen. Man kann damit rechnen, daß (einschließlich der ermordeten polni ­schen Juden) Polen einen Bevölkerungsverlust von 6,5 Millionen Menschen durch Kampfhandlungen, Mord, Hunger, Elend, Verschlep ­pung usw. im Zweiten Weltkrieg erlitten hat. Alle alten Formen sozialer Ordnung waren umgestürzt, was regierte, waren Not und Elend, war eine vernichtete Wirtschaftskraft. Dazu kamen die Auf ­gaben der Aussiedlung, die ja schon rein verwaltungsmäßig ein Riesenproblem gewesen wäre. Dazu kam die Aufgabe der Umsiedlung, d.h. der Umsetzung von Polen und Ukrai ­nern aus den abgetretenen Ostgebieten in die Westgebiete. Es fehlte an geschulten Beamten. Die ganze polnische Intelligenzschicht war ent ­weder vernichtet, oder saß im Ausland, oder sie kam mühsam aus dem Untergrund, aus ungeordneten Verhältnissen wieder hervor." ...In dieser Kriegs- und Nachkriegszeit ... , so urteilt Görlitz, liege noch heute der Grundbestand aller polnischen Probleme beschlossen. Dies ist auch der Hintergrund für die große Empfindlichkeit, mit der das polnische Volk seinerseits auf eine Infragestellung seines territorialen Besitzstandes von deutscher Seite reagiert.”

Es folgen dann Ausführungen zur Vorgeschichte der „Westverschiebung” Polens, zu denen ich nur weniges erwähnen möchte: Den deutschsowjetischen Nichtangriffspakt vom 23.8. 1939, der in einem geheimen Zusatzabkommen die beiderseitigen Interessensgebiete in Polen und im Baltikum abgrenzte und der 4. Teilung Polens gleichkam; die Konferenz von Jalta vom 4.-12.2.1945, auf der Polens Ostgrenze entsprechend der Curzon-Linie, festgelegt wurde, während die Westgrenze einem Friedensvertrag vorbehalten sein sollte; Churchills Rede im Unterhaus am 22.2.1944, wo er öffentlich von der Einigung mit Stalin berichtete, daß Polen auf Kosten Deutschlands im Norden und Westen entschä ­digt werden müsse - auch wolle man die bedingungslose Kapitula ­tion Deutschlands, damit die Atlantik-Charta als Rechtsgrund, der die Abtretung von Gebieten verhindert, nicht in Be ­tracht käme; die Potsdamer Konferenz vom 17.7.-2.8.1945, die das alles festklopfte. Polen verlor von 388.000 qkm 160. 000 qkm und erhielt 103.000 qkm. Verbliebene Deutsche waren bis Ende 1948 umzusiedeln. Deutsche im polnischen Verwaltungsgebiet waren : 1939 8,5 Mio, Mai 1945 3.4 Mio, Juni 1945 4,5 Mio.

Aus Abschnitt IV. „Völkerrechtliche Fragen”: „In der deutschen wie in der internationalen Diskussion über das Schicksal der deutschen Ostgebiete und ihrer Bevölkerung spielen völkerrechtliche Argumente eine wesentliche Rolle. Die Eingliederung der Gebiete östlich der Oder-Neiße-Linie in den polnischen und den sowjetrussischen Staatsverband wird von diesen Staaten als endgültig und rechtmäßig bezeichnet, während die Regierung der Bundesrepublik Deutschland auf die Notwen ­digkeit einer Regelung durch einen künftigen Friedensvertrag verweist. ... Die Wiederherstellung der Grenzen des Deutschen Reiches von 1937 wird darum aus Gründen nationaler Ehre und um der Erhaltung des geschichtlichen und kulturellen Bestandes unseres Volkes willen, aber auch als Verwirklichung eines klaren Rechts ­anspruches gefordert ... kann soviel mit Sicherheit festgestellt werden, daß das spezielle Vertragsrecht, in diesem Falle das Potsdamer Protokoll der vier Alliierten vom 2. August 1945, nur von polnischer Verwaltung der Gebiete spricht und die Entscheidung über einen endgültigen Hoheitswechsel einem künftigen Friedensvertrag überläßt, der der Zustimmung einer deutschen Regierung bedürfte. Ein Recht auf Annexion durch einseitigen Akt, wie es Polen für sich in Anspruch nimmt, hat nur das ältere Völkerrecht dem Sieger gegenüber dem im Krieg unterlegenen Gegner zugestanden .... Der von der Regierung der DDR gegenüber Polen ausgesprochene Verzicht kann dazu völkerrechtlich schon deshalb nicht ausreichen, weil es sich um Gebiete des alten Deut ­schen Reiches handelt. Auf völkerrechtlich sicherem Grund steht man auch, wenn man weiter feststellt, daß einem Staat, der fremdes Staatsgebiet besetzt oder verwaltet nicht erlaubt ist, im Wege gewaltsamer Massendeportation die dort ansässige Bevölkerung zu vertreiben oder ihr, soweit sie aus Furcht vor Gewaltmaßnahmen geflohen ist, die Rückkehr in ihre Heimat und zu ihrem dort zurückgelassenen Hab und Gut zu verwehren. ... muß sich das deutsche Volk aber die kritische Frage gefallen lassen, ob es sich nur dem Gefühl verletzten eigenen Rechtes hingeben darf und will. Nachdem in seinem Namen im letzten Krieg den Völkern des Ostens und im beson ­deren den Polen, die die Gebiete heute besetzt und neu besiedelt haben, schweres Unrecht zugefügt worden ist, muß das deutsche Volk zugleich daran denken, welchen Ausgleich das von ihm selbst verletzte fremde Recht gebietet. Die leidvolle Geschichte deutscher Unterdrückungsmaß ­nahmen gegenüber dem immer wieder seiner politischen Selbständigkeit beraubten polnischen Volk und die völkerrechtswidrige Behandlung, die dieses Volk während des Zweiten Weltkrieges auf Anordnung der natio ­nalsozialistischen Staatsführung erfuhr, stellt uns heute unausweichlich vor die Frage, ob sich daraus nicht politische, vielleicht aber auch völker ­rechtliche Einwendungen gegen einen deutschen Anspruch auf unvermin ­derte Wiederherstellung seines früheren Staatsgebietes ergeben. ..... Darum muß eine deutsche Regierung heute zögern, einen Rechtsanspruch auf die Rückgabe von Gebieten zu erheben, deren Besitz wegen des Verlustes von Ostpolen zu einer wirt ­schaftlichen Lebensnotwendigkeit für Polen geworden ist.

Die rechtlichen Positionen begrenzen sich gegenseitig; Recht steht gegen Recht oder - noch deutlicher - Unrecht gegen Un ­recht. In solcher Lage wird das Beharren auf gegensätzlichen Rechtsbe ­hauptungen, mit denen jede Partei nur ihre Interessen verfolgt, unfrucht ­bar, ja zu einer Gefahr für den Frieden zwischen beiden Völkern. Auf dieser Ebene ist der Konflikt nicht zu lösen. Daher gilt es, einen Ausgleich zu suchen, der eine neue Ordnung zwischen Deutschen und Polen herstellt Damit wird nicht gerechtfertigt, was in der Vergangenheit geschehen ist, aber das friedliche Zusammenleben beider Völker für die Zukunft ermög ­licht.”

Aus Abschnitt V. „Theologische und ethische Erwägungen”: „Ohne Zweifel gehört die irdische Heimat zu den Gaben, mit denen Gott die Menschen ihr Leben in einer möglichst guten Ordnung der Welt füh ­ren lassen will. ... Die Heimat ge ­hört zu den Elementen des Lebens, die in Verantwortung zu gebrauchen und zu gestalten sind. Diese Verantwortung schließt auch die Möglichkeit einer Entscheidung gegen die Heimat und einer Lösung von ihr nicht aus. Eine Überhöhung des Heimatverständnisses entspricht in der mobilen Gesellschaft von heute weithin nicht mehr der Lebenswirklichkeit .... In unserem Zusammenhang geht es um Fragen einer politischen Neuordnung im Verhältnis zwischen den Völkern, namentlich zwischen Deutschland und seinen östlichen Nach ­barn. Die hier anzustrebende internationale Friedensordnung ist ohne Wahrheit und Gerechtigkeit, ohne gegenseitige Berücksichtigung berech ­tigter Interessen und ohne den Willen zum Neuanfang auf der Grundlage der Versöhnung nicht denkbar.... Es muß möglich sein, daß dabei das Unrecht, das sich beide Seiten gegenseitig angetan haben, nicht übergangen wird. Nur so kann es einen Weg für ein neues Verhältnis zwischen den Völkern geben.

Vom Unrecht der Vertreibung kann aber nicht gesprochen werden, ohne daß die Frage nach der Schuld gestellt wird. Im Namen des deutschen Volkes wurde der Zweite Weltkrieg ausgelöst und in viele fremde Länder getragen. Seine ganze Zerstörungsgewalt hat sich schließlich gegen den Urheber selbst gekehrt. ... Wir müssen aber daran festhalten, daß alle Schuld der anderen die deutsche Schuld nicht erklären oder auslöschen kann.”

Aus Abschnitt VI. „Die deutschen Ostgrenzen als politische Aufgabe”: „Die Überprüfung der völkerrechtlichen und der theologischethischen Aspekte hat gezeigt, daß die Frage der deutschen Ostgrenzen sich nicht mit absoluten Argumenten des Rechtes und der Ethik, mit den Mitteln einer Theologie der Schöpfung und der Geschichte lösen läßt. ...Die in dieser Denkschrift dazu aufgeführten rechtlichen, ethischen und theologischen Überlegungen, die auch in politisches Handeln eingehen müssen, sollen dahin wirken, eine neue Bewegung in die politischen Vorstellungen des deutschen Volkes hineinzubringen und auch den Nachbarn im Osten einen Dialog auf neuer Ebene anzubieten.”

Soweit die Zitate aus der Denkschrift.

III. Die Denkschrift traf eine deutsche Öffentlichkeit, die seit Kriegsende verschiedenste politische Entscheidungen wie z. B. die Wiederbewaffnung oder die atomare Rüstung sehr streitbar diskutiert hatte, und in der auch die Frage nach Wiedervereinigung und den Grenzen des künftigen Deutschland virulent war. Mit der Auffassung, wo Recht gegen Recht und Unrecht gegen Unrecht gestellt wird, gibt es keine friedliche, gemeinsame Zukunft, und mit der Forderung, daß Deutschland um des Friedens willen unter Umständen in der Grenzfrage nachgeben müsse, brachte sie jetzt Positionen ins Spiel, die nicht nur der Regierungskoalition sondern auch der Mehrheit der Deutschen völlig inakzeptabel erschienen. Entsprechend heftig und kontrovers waren auch die Reaktionen in den Medien.

Hierzu ist in Erinnerung zu rufen, daß die Denkschrift an eine Reihe von Äußerungen evangelischer Christen oder an kirchliche Aktivitäten anknüpfen konnte.

So das Stuttgarter Schuldbekenntnis, das der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland im Oktober 1945 auf Druck einer Delegation des Ökumenischen Rates der Kirchen formuliert hatte. Hier hatte es unter anderem geheißen: ,,Wohl haben wir lange Jahre hindurch im Namen Jesu Christi gegen den Geist gekämpft, der im nationalsozialistischen Gewaltregime seinen furchtbaren Ausdruck gefunden hat; aber wir klagen uns an, daß wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben."

So das schnell vergessene ,,Darmstädter Wort" des Bruderrates der Bekennenden Kirche vom 8.8.1947. Dem Bruderrat war das Stuttgarter Schuldbekenntnis nicht weit genug gegangen. Seine Kernaussagen waren nun: Wir sind in die Irre gegangen, als wir begannen, den Traum einer besonderen deutschen Sendung zu träumen, als ob am deutschen Wesen die Welt genesen könne Wir sind in die Irre gegangen, als wir meinten, eine Front der Guten gegen die Bösen im politischen Leben und mit politischen Mitteln bilden zu müssen.”

So die Aktivitäten des früheren hessennassauischen Kirchenpräsidenten Martin Niemöller, insbesondere seine Moskau-Reise 1952, aber auch sein Besuch beim Polnischen Ökumenischen Rat im Jahre 1957. Zu letzterem hatte man in der polnischen Kirchenzeitung lesen können, daß er die erste wichtige und offizielle Begegnung des deutschen Volkes mit dem polnischen Volke gewesen sei.

So im Jahre 1958 die Gründung der Aktion Sühnezeichen. Nicht, daß es Friedensdienste nicht auch vorher gegeben hatte, z. B. die Quäker und die Mennoniten als ,,Friedenskirchen". Aber nun bekam Friedensdienst eine andere Bedeutung: Schuld - Umkehr - Versöhnung.

So im Jahre 1963 die vom „Bielefelder Arbeitskreis der kirchlichen Bruderschaften” zur Diskussion gestellte Thesenreihe „Die Versöhnung in Christus und die Frage des deutschen Anspruches auf die Gebiete jenseits von Oder und Neiße”, die den Verzicht auf die verlorenen Gebiete gefordert hatten. Aber auch die „Lübecker Thesen” aus kirchlichen Kreisen der Vertriebenen vom Januar 1965 mit der entgegen gesetzten Position.

Die große gesellschaftliche Sprengkraft solcher Äußerungen und Aktivitäten ist wiederum nur auf dem Hintergrund der politischen Situation zu verstehen. Die Großmächte USA und UdSSR hatten sich Europa nach dem 2. Weltkrieg aufgeteilt. Je ein Teil Deutschlands gehörte zu je einem der beiden Blöcke. Was man heute atlantische Partnerschaft nennt wuchs erst langsam, denn auch die West-Allierten waren ja nicht als Freunde sondern als Sieger gekommen. So hatten sie nicht nur deutsche Kriegsgefangene an die Sowjet-Union ausgeliefert sondern auch besetztes deutsches und tschechisches Gebiet der Sowjetunion übergeben. Und tief saß in den Deutschen immer noch die Angst vor „den Russen”. Groß war also ihre Verunsicherung. Konnte man sich auf den Westen wirklich verlassen? Auch die sozialen Probleme waren groß. So sprach Konrad Adenauer in einer seiner ersten Ansprachen als Bundeskanzler auch vom „Triebsand der Millionen Flüchtlinge, die ohne rasche Verbesserung der wirtschaftlichen Lage eine Gefahr für ganz Westeuropa darstellten”. Adenauers Innenpolitik war dementsprechend auf wirtschaftlichen Aufbau, seine Außenpolitik auf die konsequente Westintegration ausgerichtet. Hätte es Alternativen gegeben? Immer wieder auch war den Deutschen vor Augen geführt worden, wie gefährdet die neu gewonnene Freiheit war. Vom 24.6.1948 bis 12.5.1949 waren die 2,5 Mio Einwohner West-Berlins durch die Sowjets von jeder Versorgung abgeschnitten worden, die sog. „Blockade”. Ganze Teile West-Europas hatten Angst gehabt, die Amerikaner würden nachgeben und sich aus Europa zurückziehen. Am 18.10.1951 war die Westberliner Enklave Steinstücken besetzt worden. Im Dezember 1952 waren die Grenzsperren in Berlin verschärft worden. Trotz des Viermächte-Statuts von ganz Berlin hatten die Westmächte am 17. Juni 1953 nicht eingegriffen, als Arbeiterdemonstrationen niedergewalzt worden waren. Immer wieder waren Viermächtekonferenzen über Deutschland ohne Ergebnis geblieben. Am 25.3.1954 war die DDR von der Sowjetunion als souveräner Staat anerkannt worden. Auch beim Ungarnaufstand im November 1956 hatte man kaum verstanden, daß vor allem die Amerikaner, die sich doch überall als Kämpfer für die Freiheit gebärdeten, nicht eingriffen. Im Oktober 1958 hatte Ulbricht das ganze Berlin für einen unteilbaren Bestandteil der DDR erklärt. Am 10.11.1958 hatte die Sowjetunion ein Berlin-Ultimatum verkündet, das den Ablauf des Viermächte-Statuts für Berlin, den Abzug der West-Alliierten aus Berlin und die Schaffung einer „Freien Stadt West-Berlin zum Inhalt gehabt hatte. Im Februar 1959 hatte Chruschtschow den Abzug fremder Truppen aus Mitteleuropa gefordert. Am 13.3.1061 dann hatte Kennedy Brandt ein Garantie-Versprechen für die Freiheit West-Berlins, die erste Erklärung dieser Art nach 15 Jahren Kaltem Krieg. Es waren am 3.6.1961 die erneute Forderung Chruschtschows nach einer Freien Stadt West-Berlin gefolgt, am 13.8.1961 der Mauerbau, am 26.6.1963 Kennedys Erklärung: „Ich bin ein Berliner” und im November 1963 erneute Behinderungen des Berlin-Verkehrs.

Dies waren die Existenzbedingungen der West-Berliner und die Erfahrungen der Deutschen in der Bundesrepublik. Wundert es da, daß besonnene Überlegungen wie sie dann in der Denkschrift zu Worte kamen, von der Mehrheit nicht gehört wurden, nicht gehört werden wollten?

Sicher ist dies rückblickend bedauerlich, und nur wenige fanden es damals bedauerlich.

Bedauerlich ist auch, daß bei dieser Polarisierung verschiedenste Aktivitäten polnischer Politik nicht in ihrem wirklichen Gehalt geprüft und abgewogen wurden. Man sah sie nur als von der UdSSR eingefädelte Finten im Kalten Krieg. Dabei hatte es doch 1954 Polens Verzicht auf deutsche Reparationen gegeben, 1955 Polens Erklärung des Endes des Kriegszustandes mit Deutschland und 1957 den Rapacki-Plan, mit dem Polen eine kernwaffenfreie Zone BRD, DDR, Polen vorgeschlagen hatte. Dem hatte die CSSR sofort zugestimmt, während der Westen und die Sowjetunion abgelehnt bzw. blockiert hatten. Bonn hatte be ­zweifelt, daß es ein eigener polnischer Plan sei, und die verbleibende Stärke der konventionellen sowjetischen Streitkräfte kritisiert. Zu erinnern ist auch an Gomulkas Rede 1961, mit der er die friedliche Koexistenz unterschiedli ­cher Systeme für möglich gehalten hatte. 1962 hatte es den veränderten Rapacki-Plan als Stufenplan gegeben, den immerhin Kennedy wohlwollend betrachtet hatte; und 1963 den Gomulka-Plan als 3.Version des Rapacki-Planes mit dem Ziel, die Atomrüs ­tung einzufrieren und einen Handelsvertrag Polen - BRD abzuschließen.

Soviel zur Situation, aus der heraus die Bedeutung der Denkschrift, aber auch ihre höchst umstrittene Aufnahme verständlich werden. In dem erbitterten öffentlichen Streit gab es allerdings auch Hilfestellungen. So den Brief der polnischen Bischöfe auf dem Konzil vom 18.11. 1965 an die deutschen mit der schönen Formulierung: „Wir gewähren Vergebung und bitten um Vergebung”, und den Antwortbrief der deutschen Bischöfe vom 5.12.1965; beide aber, ohne die klare politische Zielrichtung der Denkschrift aufzunehmen. Deutlicher dann das „Memorandum deutscher Katholiken zu den polnischdeutschen Fragen” vom Bensberger Kreis von 1968.

IV. Was waren die Folgen der Denkschrift? Ohne Zweifel hatte sie Erfolg mit ihrem Vorhaben, einer veränderten deutschen Politik den Boden zu bereiten. Nach provozierenden evangelischen Stimmen in den Jahren zuvor, vorsichtigem Taktieren der Katholischen Kirche und zaghaften Versuchen in der Politik und den Ministerien platzte der Knoten, und es konnte in den Folgejahren die Verständigungspolitik betrieben werden, die mit dem Namen Willy Brandts verbunden ist.

1970 begannen Wirtschaftsverhandlungen. Ein Vertrag über die Grundlagen der Normalisierung der gegenseitigen Beziehungen einschließlich der Anerken ­nung der Grenze wurde erarbeitet. Aber auch die Ratifizierung des Grundlagenvertrags durch den Bundestag mit Einschränkun ­gen bezüglich der Grenze brachte keine endgültige Sicherheit für Polen. Ja, das Bundesverfassungsgericht stellte am 31.7.1973 fest, daß das Grundgesetz das Wiedervereinigungsgebot enthalte und deshalb kein Verfassungsorgan dieses Ziel aufgeben dürfe. Das Deut ­sche Reich habe den Zusammenbruch überdauert. Eine schon damals angesichts der Vorgeschichte absurde Position. 1975 veränderte die Konferenz für Zusammenarbeit und Entspannung in Helsinki die europäische Situation. In ihrem Schutze konnten nun Oppositionelle in vielen osteuropäischen Staaten aktiver werden. Am 9.10.1975 wurden polnischdeutsche Vereinbarungen getroffen, die das Eis brachen: Ausreise für 125.000 Deutsche, der Jumbo-Kredit in Höhe von 1 Mia DM wurde gewährt, 1 Mia DM wurde in das polnische Rentensystem gegeben, um Rentenforderungen auszugleichen etc. Die Folge waren neue Reisemöglichkeiten, die die evangelische und katholische Erwachsenenbildung in Frankfurt für eine erste Studienreise nach Polen im Jahr 1976 nutzten. In ihrer Folge wurde „Zeichen der Hoffnung” gegründet und wir sind bei unserer eigenen Geschichte.

V. Wenn ich mir dies alles heute vor Augen halte, frage ich mich natürlich, welche Relevanz das heute noch hat.

Nun, ohne dies alles gäbe es vermutlich die Wende von 1989, eine Europäische Gemeinschaft, zu der auch Polen gehört, und das letztlich gutnachbarschaftliche Verhältnis zwischen Polen und Deutschland nicht.

Angesichts all ´ dessen wundere ich mich sehr, wie leichtfertig heute davon gesprochen wird, daß die Vertriebenen erst jetzt offen über ihre Situation und das ihnen widerfahrene Unrecht reden dürfen.

Angesichts all ´ dessen bin ich enttäuscht, daß einzelne deutsche Politiker im Verhältnis zu unseren östlichen Nachbarn auch heute noch Recht gegen Recht und Unrecht gegen Unrecht setzen; sozusagen als die Kamele, die das mühsam gewachsene Gras des Vertrauens wieder abfressen.

Im Hinblick auf heutige Diskussionen in unserem Lande und zur Konfliktlösung in anderen Gegenden auf unserer Erde finde ich die Grundposition der Denkschrift immer noch richtig: Unrecht darf nicht zu Recht gemacht werden, von wem auch immer- Recht gegen Recht und Unrecht gegen Unrecht blockiert den Frieden - hier muß insbesondere der zurückstecken, der angefangen hat,.

Mit großer Sorge erfüllt mich, daß damals, im Kalten Krieg, aber auch heute, in der öffentlichen Diskussion, jederzeit diejenigen, die zur Besonnenheit rufen und sich für friedliche Konfliktlösungen einsetzen, zu den Störenfrieden gemacht werden; in völliger Umkehrung von Ursache und Wirkung. Und ich wünsche mir, daß die Menschen sich das irgendwann nicht mehr gefallen lassen. Manchmal gibt es dafür Hoffnung.

 

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