Polenfahrten
E i n d r ü c k e v o n P o l e n r e i s e n i n d e n J a h r e n 1 9 7 6 b i s 1 9 8 5
aufgeschrieben im Jahr 1985
Der Modellgermane
Erste Beziehungen zu einem Land müssen nicht unbedingt höchstpersönlich sein. Jeder Mensch geht ja auch ein Stück in den Fußstapfen seiner Vorfahren. Gibt es da nicht auch familiäre Beziehungen zu Polen ?
In den ersten Schuljahren hatten wir auch Rassekundeunterricht. Da lernten wir, wie ein richtiger Germane aussieht: groß, schlank, rotblondes Haar. Die Lehre rin sah sich um und befand, daß ich eigentlich ein richtiger Germane sei. Mit stolzgeschwellter Brust lief ich nach Hause und erzählte das meiner Mutter. Doch die verletzte mich tief, indem sie einfach lachte. Ich verstand das zunächst nicht und wurde aufgeklärt: „Also, wie heißt du eigentlich ?” „Jürgen Telschow.” „Und der Nachname ist so ein richtiger germanischer Name?” „Hm.” „Nein, das ist er natürlich nicht. Telschow ist ein richtiger, schöner slawischer Name, und die Telschows sind wohl auch richtige Wenden gewesen. Sicher haben sie dann auch deutsche Frauen geheiratet, aber eine ganze Menge slawisches Blut steckt schon in dir. Und dann sind da die Bömbös' (die Familie meiner Mutter). Schon der Name klingt eher ungarisch als germanisch. Aber der Ururgroßvater Schlafke ist mal aus dem Polnischen nach Berlin gezogen.” Ich will das Gespräch hier abbrechen. Für mich hat es damals die ersten Zweifel an dem gebracht, was uns da so in der Schule beigebracht wurde. Heute ist mir meine eigene Familiengeschichte ein deutlicher Beweis dafür, was für eine Torheit es ist, östlich der Elbe Menschen auf eine Rasse oder Nationalität festlegen zu wollen.
Viel später kam der Wunsch, etwas mehr von jenem Vorfahren zu erfahren, der vor über hundert Jahren aus dem Polnischen nach Berlin gezogen war; als Wirt schaftsflüchtling, wie man heute sagt. Zog ihn doch Berlin an, wo er Arbeit und Auskommen erhoffte. Der Ariernachweis, den mein Vater zusammenstellen mußte, machte es möglich, daß ich heute über einige Urkunden verfüge. „Testimonium baptismi - Swiadectwo chrztu”, ,,Testimonium matrimonin conjunctorum ....” und „Testimonium mortis .....”, steht darüber. Trau-, Heirats- und Todesbescheinigungen sind es, jeweils in lateinischer und polnischer Sprache. Und ausgestellt hat sie das „Archid. Gnesnensis et Posnaniensis (Polonia)”, das Erzbistum Gnesen und Posen, am 20. März 1939. Von daher weiß ich, daß meine Vorfahren mit dem Nachnamen Schlafke in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts in dem da mals preußischen Städtchen Xions südlich von Posen lebten. Und wenn ich die Vor namen Leon, Antonius, Josepha und Helena lese und daß sie katholisch waren, dann vermute ich, daß sie viel polnisches Blut in sich trugen.
Im Sommer 1984 bin ich durch diesen Ort gefahren. Ein kleines Landstädtchen ist das heute. Auf einer Allee, über der sich die Äste der Eichen berühren, so daß man eigentlich durch einen Tunnel fährt, nähert man sich Ksiáz, wie es heute heißt (gesprochen wird es kaum anders als der ehemals preußische Name). Eine lange Hauptstraße kriecht einen Berg hoch. Die Häuser sind flach wie in der Mark Brandenburg, die Geschäfte ohne aufwendige Schaufensterauslagen, aber mit Schlangen vor der Tür. Auf dem Friedhof findet man zwar den Namen Schlafke nicht, wohl aber Schlafkich. Sind das noch ferne Verwandte ? Ein alter Mann ohne Zähne, aber mit deutschen Sprachkenntnissen, erinnert sich noch an den letzten Schlafke im Ort. Uhrmacher ist er gewesen, ein guter und zuverlässiger Mann. Als er vor 10 Jahren starb, wurde er auswärts beerdigt.
Das war es. Ein Polenstädtchen, in dem einmal die eigenen Leute gelebt haben. Und da sollte man nicht warme Gefühle für dieses Land und seine Leute hegen dürfen ?
Die unverletzliche Grenze
Viele Wege führen nicht nur nach Rom, sondern auch nach Polen. Fährt man von Frankfurt aus in das südliche Polen, bietet sich der Weg über den Grenz übergang Görlitz an. Etliche Male sind wir dann am Nachmittag in Frankfurt gestartet, in der Nacht durch die DDR gefahren und am frühen Morgen in Gör litz angekommen. Immer wieder waren es dieselben Eindrücke: die alte Autobahn hinter Dresden, auf der der Spalt hinter jeder Betonplatte dem Wagen, dem Fahrer und der Ladung einen Stoß versetzt; die in der Dunkelheit spärlich beleuchtete Burg- und Zuchthausanlage in Bautzen; die Landstraße hinter Bautzen, an der die HO-Gaststätte „Alter Fritz" noch an die Schlacht bei Hochkirch er innert; die Industriegebäude am Rande von Görlitz; die vom nahen Bahnhof rußgeschwärzten Häuser der Gründerjahre mit den nicht reparierten Löchern von Gewehr - und Granattreffern in den Fassaden; eine kleine Grünanlage und dann bergab hinter einer Rechtskurve der Grenzübergang. Geradezu tot liegt er da. Man hält und wartet. Die Kälte kriecht die Beine hoch, dann den Rücken. Eine halbe Stunde vergeht, eine ganze, eine zweite. Keine Anzeichen von Abfertigung, aber Grenzer sind da. Sie gehen von einer Baracke zur anderen. Fertigen auch mal einen Pkw ab. Was Wichtiges sie abhält, unsere Lkw ´s abzufertigen, ist nicht deutlich. Dann endlich kommt einer und sammelt die Pässe ein. Formulare sind auszufüllen. Wieder warten. Dann kommt vielleicht der Zoll. Interessiert sich für die Ladung. Läßt ausladen. Sieht sich um. Läßt wieder einladen. Wieder Warten. Dann kommt die Paßabfertigung. Mit der DDR ist man fertig. Dann beginnt das gleiche Spiel auf der anderen Seite der Grenze. Sicher nicht schneller. Mal etwas wohlwollender, wenn man mit Zigaretten, Kaffee oder Schokolade schmiert. Mal auch viel genauer. Dann wird man vom Zoll nicht auf der Westseite der Neiße oberflächlich kontrolliert, sondern darf über die Brücke nach Zgorzelec (so heißt der östliche Teil von Görlitz) auf den Zollhof fahren. Dort wird dann gründliche Arbeit geleistet. Vier Stunden oder mehr kann so eine Prozedur dauern.
Friedensgrenze heißt diese Grenze im Sprachgebrauch der DDR. Unverletzlich ist sie für die Bundesrepublik nach dem Grundlagenvertrag zwischen der Bundes republik Deutschland und Polen vom Jahre 1970. Eine harte Trennungslinie ist sie trotzdem in Europa. Man fragt sich, wie das mit den Grenzen zwischen Deutschland und Polen früher war. Seit über tausend Jahren sind Polen und Deutsche Nachbarn. Doch diese Nachbarschaft ist nicht immer friedlich gewesen. Neben Zeiten eines gutnachbarlichen Assimilationsprozesses hat es auch immer wieder solche kriegerischer Ausein andersetzungen oder der Unterdrückung gegeben. Das hat Wunden hinterlassen, auf beiden Seiten. Aber wir Deutschen sollten dabei nicht übersehen, daß wir meistens die Nehmenden und die Polen die Gebenden waren. Die Wunden bei unserem Nachbarn sind zwangsläufig tiefer als unsere eigenen.
Am Beispiel der deutschen Ostgrenze kann man sehr schnell sehen, wie sich das Verhältnis von Polen und Deutschen gestaltet hat. Deutscher Expansionsdrang im Osten (Ostkolonisation, Volk ohne Raum), europäische Politik (Wiener Kon greß, Versailles) oder auch polnischer Nationalismus (in der Zeit zwischen beiden Weltkriegen) haben dazu beigetragen, daß die Grenze zwischen Deutschland und Polen über Jahrhunderte eine der instabilsten europäischen Grenzen war. Nicht zu verges sen auch, daß diese Grenze ja bis zum Jahre 1945 nie eine Volkstumsgrenze war, sondern immer nur eine Territorial- oder Staatsgrenze.
Ein Blick auf diese Geschichte zeigt uns aber auch, daß viele Gebiete, die wir Deutschen einfach als die ehemaligen deutschen Ostgebiete betrachten, gar nicht so lange Zeit deutsch waren, ja gemessen an einem Zeitraum von tausend Jahren nur recht kurze Zeit. Andererseits waren Grenzen über Jahrhunderte auch nicht das, als was wir sie heute in Osteuropa erleben. Hier zeitigt das Jahrhundert der Nationalstaaten späte Folgen. Grenzen waren einmal durchlässig, und beson ders die zwischen Deutschland und Polen.
Als im Jahre 966 der Piastenfürst Mieszko Christ wurde, begann auch die Chri stianisierung des Gebietes östlich der Oder. Gleichzeitig entstand ein polnischer Staat, der bald neben dem Kerngebiet um Posen und Krakau die Marken Meißen und Lausitz, Schlesien, Böhmen und Mähren sowie Pommern und Teile der Ukrai ne umfaßte. Mieszkos Sohn Boleslaw erhielt im Jahre 1026 die Königswürde. In der Folgezeit zogen viele deutsche Siedler nach Polen. Viele Städtegründungen sind ohne sie nicht vorstellbar. Verwandtschaftliche Beziehungen zwischen dem polnischen und dem deutschen Adel waren selbstverständlich. Ein friedlicher Angleichungsprozeß kam in Gang. Die deutsche Ostgrenze deckte sich fast mit der Oder-Neiße-Grenze.
Dies alles änderte sich, als im 13. Jahrhundert der Deutsche Ritterorden ins Land gerufen wurde, um Preußen zu christianisieren. Mit kaiserlicher und päpst licher Unterstützung, mit seiner straffen militärischen Organisation und einem nicht geringen Maß an Rücksichtslosigkeit gelang es ihm, den Ordensstaat aufzu bauen. Dieser brachte das Christentum mit dem Schwert, zugleich aber auch ein beträchtliches Maß abendländischer Kultur. Städtegründungen, Entwässerungs kanäle im Weichseldelta oder Bauwerke wie die Marienburg erinnern noch heute an diese kulturellen Taten. Für Polen und Litauer aber wurde der Orden, und mit ihm die Deutschen, zum Inbegriff der Grausamkeit, zum Feind schlechthin. Gemeinsam schlugen sie den Orden 1410 bei Tannenberg und nahmen blutige Rache.
Vom 15. bis zum 17. Jahrhundert war Polen eine europäische Großmacht. Für viele Europäer war es der Inbegriff der Toleranz. Preußen, Sachsen und Habsbur ger flohen in das verhältnismäßig freiheitliche Polen. Für die Juden galt Polen als das „Asylum Judaeorum". Die Staatsverfassung beteiligte den Adel in einer Form an der Regierung, daß man von frühen demokratischen Elementen sprechen kann. Unter der Führung des polnischen Königs Jan Sobieski schlugen die Europäer 1683 in der Schlacht auf dem Kahlenberg die Türken und retteten Wien. Das polnische Reich erstreckte sich bis kurz vor Moskau und bis zur Krim. Trotz dem verlor es nach und nach Gebiete an Deutschland. Das aufstrebende Branden burg-Preußen griff immer weiter nach Osten und gewann Preußen und Pommern. Habsburg errang Schlesien.
Im 18. Jahrhundert verfiel der polnische Staat mehr und mehr. In den drei polnischen Teilungen von 1772, 1793 und 1795 wurde Polen zerstückelt und auf Preußen, Rußland und Österreich aufgeteilt. Erst Napoleons Siege führten 1807 zu einem kleinen polnischen Staat, dem Herzogtum Warschau. Der Wiener Kon greß schuf das Königreich Polen (Kongreß-polen), das aber Rußland einverleibt wurde. Lediglich in der Republik Krakau fanden die Polen die Erinnerung an die große Zeit der Selbständigkeit. Eine polnischdeutsche Grenze gab es praktisch nicht mehr. Schlesien, das Wartheland, Pommern, West- und Ostpreußen ge hörten zu Preußen.
Nach dem Ersten Weltkrieg wurde Polen im November 1918 unter Pilsudski eine autonome Republik. Außer den alten polnischen Kerngebieten erhielt es ehemals preußische Teile von Westpreußen (Korridor), vom Warthegau und von Oberschle sien zurück. Im Osten erstreckte es sich auch über Teile von Masowien, Litauen, Wolhynien und Galizien. Die für einige Grenzgebiete vorgesehenen Abstimmungen der Bevölkerung, ob sie für Deutschland oder für Polen votierten, brachten erhebliche neue Spannungen. Auch fand sich die Weimarer Republik nur schwer mit der Existenz eines polnischen Staates überhaupt ab. Im Jahre 1925 (Vertrag von Locarno) erkannte Deutschland die neue deutsche Ostgrenze nicht an, sondern verpflichtete sich lediglich, sie nicht mit Gewalt zu verändern. Polen seinerseits betrieb gegenüber der schwachen Weimarer Republik eine Einschüchterungspolitik. So schaukelten sich die Ressentiments gegen seitig hoch. Als Hitler an die Macht kam, schloß er zunächst (1934) mit Polen einen Nicht angriffspakt. Er kündigte den Vertrag jedoch wieder auf, als Polen nicht bereit war, die Korridorfrage im Sinne Deutschlands zu lösen und der Eingliederung Danzigs in das Reich zu zustimmen. Am 23. August 1939 schloß Hitler mit Stalin einen Nichtangriffspakt und vereinbarte in einem geheimen Zusatzprotokoll die vierte Teilung Polens. Am 1. September 1939 wurde Polen überfallen und nach dem Sieg zwischen Deutschland und Rußland aufgeteilt.
In den Konferenzen von Jalta und Potsdam legten die Alliierten im Jahre 1945 die Grundlagen für das Polen nach dem Zweiten Weltkrieg. Polen verlor im Osten etwa 40 Prozent seines Staatsgebietes an Rußland und erhielt im Westen nicht ganz so viel als Ausgleich von Deutschland. Flucht und Zwangsaussiedlung der Polen von Ostpolen in die ehemaligen deutschen Gebiete waren die Folge. Die neue deutsche Ostgrenze wurde von den Deutschen nur schwer akzeptiert. Mit dem Görlitzer Vertrag von 1950 erkannte zwar die DDR diese Grenze als Friedens grenze offiziell an. In der Bundesrepublik begann aber erst nach der Ostdenk schrift der EKD von 1965 ein Prozeß, mit dem man sich den Realitäten stellte. Er führte schließlich zum Warschauer Vertrag von 1970. In Artikel 1 dieses Vertrages wurde die Unverletzlichkeit der jetzigen polnischen Westgrenze bekräftigt und erklärt, daß beide Seiten keine Gebietsansprüche gegeneinander haben. Mit dem Ausreiseprotokoll von 1975 schließ lich wurde die Grundlage dafür geschaf fen, daß jene Polen, die nähere Verwandte in der Bundesrepublik haben, in diese ausreisen dürfen. Damit haben die letzten Menschen, die in früheren deutschen Gebieten leben und sich den Deutschen zugehörig fühlen, ihre jahrhundertelange Heimat verlassen.
Die Grenze zwischen Deutschland und Polen verläuft also wieder da, wo sie vor tausend Jahren verlief, aber sie trennt heute nicht nur zwei Staaten, sondern zwei Völker. Hoffentlich ist dies die Grundlage für eine bessere gemeinsame Zukunft beider.
Lemberger Kaffee
Die erste Nacht im fremden Nachbarland Polen hatte ich im Mai 1976 in Breslau verbracht. Das Hotel Europejski, schräg gegenüber dem Hauptbahnhof, hatte auch schon einmal bessere Zeiten gesehen Jetzt war es in die Kategorie 2 einge stuft. Das Essen war nicht schlecht, das Zimmer ging und die Toilette benutzte man besser nicht. Doch das hatte den Schlaf nicht beeinträchtigt. Aufgewacht war ich am frühen Sonntag Morgen von dem Lärm auf der Straße; verursacht nicht durch starken Autoverkehr, sondern durch die quietschenden Straßenbahnen und die vielen, vielen Fußgänger. Wo sie alle hingingen, habe ich den ganzen Tag nicht in Erfahrung gebracht. Natürlich besuchten viele die Morgenmesse. Natürlich sah ich später immer wieder die jungen Männer mit dem Nelkenstrauß in der Hand, die ihre Angebetete mit einem Handkuß begrüßten. Aber sie waren einfach da: Oma und Opa vom Land, Vater und Mutter, die Kinder, junge Männer in Uniform, Priester und Nonnen, die Miliz, sie waren einfach da, am Sonntag in der Stadt. Und ich erlebte zum ersten Mal, wie viel Leben sich in Polen auf der Straße abspielt.
Zwischen ihnen ging ich etwas später die Swidnicka entlang zur Innenstadt. Diese frühere Schweidnitzer Straße war eine große Geschäftsstraße gewesen. Jetzt, im Jahre 1976, waren von den Geschäften nur noch Reste zu sehen. Viele Häuser waren noch nicht wieder aufgebaut. Vor einem dieser freien Grundstücke, mehr zur Innenstadt hin, stand eine Vitrine: braunes Holzgestell und vorne, rechts und links Glas. Archäologische Funde waren hier ausgestellt. Eine Zeichnung im Hintergrund zeigte die Siedlung, deren Reste man ausgegraben hatte. Der Text bezeich nete die Funde als Beleg dafür, daß an der Stelle Breslaus schon längst eine Slawen siedlung gelegen hatte, bevor die Deutschen dorthin gekommen waren. Für den, der sich ein wenig in der Geschichte auskennt, war das fürwahr ein jäm merlicher Versuch, Heimatrechte geltend zu machen. Aber er war auch kenn zeichnend für die Zeit. Gerade in Breslau konnte man den Eindruck nicht los werden, daß die Einwohner sich hier ihres Aufenthalts noch nicht sicher waren. Der Aufbau hinkte beträchtlich hinter dem her, was man in anderen polnischen Städten sehen konnte. Die Einheimischen wirkten auch im Gespräch oft unsicher, und unter den Deutschen, die zu Besuch kamen. waren nicht wenige, die nur sehen wollten, wie es in ihrer alten Heimat zur Zeit aussieht; nicht wenige, die sich überhaupt nicht vorstellen konnten, daß die jetzigen Bewohner Schlesiens auch Heimatrechte geltend machen konnten.
Das alles im Hinterkopf gab es dann am Nachmittag ein Gespräch im „Klub der katholischen Intelligenz". In meiner kleinen Gesprächsgruppe war unsere Partne rin eine wissenschaftliche Assistentin von der Breslauer Universität. Ihren Namen weiß ich heute wieder. Es war Dr. Ewa Unger. Und ich sehe die Frau vor mir: zweite Hälfte vierzig, mütterlicher, schlichter Typ, einfach und doch nicht ohne Schick gekleidet, eine Gesprächspartnerin mit entwaffnender Offenheit und Herzlichkeit. Alles übrigens Eigenschaften, die mir später noch häufig in Polen begegnet sind. Im Gespräch bedurfte es keiner langen Zeit und wir waren beim Thema. „Wie fühlen sie sich als Polin in Breslau ?” Doch sie ließ sich nicht provozieren, sie erzählte einfach. Wie sie als junge Frau mit ihrer Mutter nach Breslau gekommen war; gleich nach dem Krieg, als Heimatver triebene aus dem jetzt zur UdSSR gehörenden Ostpolen. Sie schilderte auch, wie sie aufgewachsen sei in dieser Stadt und daß das nun ihre Heimatstadt sei. So wie wir ja auch irgendwo aufgewachsen seien und so wie wir auch heimat liche Gefühle zu diesem Ort hin hatten. Deshalb könne sie auch verstehen, daß jemand, der in früheren Jahrzehnten in Breslau aufgewachsen sei, die gleiche Heimatverbundenheit hierher habe wie sie. Energisch wurde sie dann aber, als sie jedermann das Heimatrecht absprach, der hier nicht wie sie aufgewachsen sei und jetzt auch gar nicht hier wohne. Ja, und dann erzählte sie noch die Ge schichte von ihrem Professor, jenem alten Herrn, der aus dem jetzt russischen Lemberg nach Breslau umgesiedelt worden war. Wie er jedes Jahr einmal nach Lemberg fährt und was er bei seiner Rückkehr erzählt, alljährlich dasselbe: die Stadt sei doch nicht mehr die alte, alles sähe so russisch aus, und wohnen möchte er dort auch nicht mehr. Aber die Luft, die sei viel besser und gesünder als in Breslau. Und der Kaffee, der schmecke eben doch ganz anders als hier in der Fremde. So wie damals, als er noch jung gewesen sei, in der guten alten Zeit.
Mir ist die Geschichte mit dem Lemberger Kaffee nicht mehr aus dem Sinn gegangen. Sie enthält für mich eine wunderschöne Beschreibung des Vertriebenenschicksals . Eine kluge Frau hat aufgezeigt, daß selbst die Vertreibung Polen und Deutsche nicht trennen muß, sondern verbinden kann.
Friedenskirchen - Gnadenkirchen
Auch wer noch nicht in Polen war, weiß, welche großen Anstrengungen die Polen unternommen haben, um ihre im Krieg zerstörten Städte wieder aufzubauen. Unter den restaurierten Gebäuden ist auch so manches, das deutschen Ursprungs ist, so daß man sich als Deutscher manchmal fragt, ob wir wohl in der Bundes republik nach dem Zweiten Weltkrieg trotz unseres Wohlstands nicht viel sorg loser mit dem uns Überkommenen umgegangen sind; ob wir nicht in den ehemaligen Ostgebieten manches als Ruine gelassen oder ganz abgerissen hätten, was die Polen restauriert haben. Könnten wir wohl die Marienburg noch so schön vor Augen haben, wenn wir selbst ihren Wiederaufbau hätten verantworten müs sen ?
Das Erstaunliche an Polen ist aber, daß man in diesem Land, über das ja viele Kriege hinweggezogen sind, immer wieder auf Baudenkmäler stößt, die diese Kriege unversehrt überstanden haben. Ein Beispiel dafür ist die Friedenskirche in Schweidnitz. Nur unvollkommen kann der Reiseführer zum Ausdruck bringen, mit welcher Pracht diese große evangelische Fachwerkkirche ausgestattet ist. Eine Wohltat für die Augen des Kunstbeflissenen, Ausdruck des Reichtums und der Opferwilligkeit der kleinen evangelischen Gemeinde.
Immer wieder stößt man in Schlesien auf Friedenskirchen und Gnadenkirchen, also Kirchen, die Zeugnis ablegen von der Geschichte der Evangelischen in diesem Lande. Sie erinnern daran, daß die Evangelischen in dieser Gegend nicht erst seit der großen Fluchtbewegung der letzten Kriegszeit und der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg in der Diaspora leben. Schlesien hatte im 10. Jahrhundert eigene Herzöge aus dem polnischen Geschlecht der Piasten erhalten und damit eine enge Verbindung zu Polen. Durch einen Vertrag zwischen Böhmen und Polen wurde es dann aber im Jahre 1335 von der polnischen Krone gelöst und zu einem Lehen der böhmischen Krone gemacht. Dadurch wurde es ein Teil des Deutschen Reiches. Im Jahre 1526 erbten die Habsburger Schlesien. Sie holten viele Deutsche ins Land. In den schlesischen Kriegen 1740 - 1763 nahm Preußen den Habsburgern große Teile Schlesiens ab. Nicht jedoch das Teschener Gebiet, das bis zum Ende des Ersten Weltkrieges österreichisch blieb. Im Jahre 1920 wurde dieses Gebiet dann zum größeren Teil dem neugebildeten polnischen Staat zugeschlagen. Ein kleinerer Teil fiel an die Tschechoslowakei. Nach dem Zweiten Weltkrieg fiel auch das jenseits von Oder und Neiße liegende Schlesien an Polen.
In der Reformationszeit war das Land zu neun Zehnteln evangelisch. Ab 1620 setzte sich mit der Gegenreformation aber der Katholizismus wieder durch. Trotz der großen Grausamkeit, mit der dabei vorgegangen wurde, hielten sich evange lische Gemeinden. Sie feierten vor allem im Süden des Landes ihre Gottesdienste heimlich, wurden zum Teil auch der Form halber katholisch, blieben aber ihrem Glauben treu. Noch heute kennt man beispielsweise in den Wäldern der Beskiden die Stellen, wo die heimlichen Gottesdienste stattgefunden haben. So mancher evangelische Pole führt auch gerne seine Gäste aus dem Westen dorthin. Als der Westfälische Frieden im Jahre 1648 den Dreißigjährigen Krieg beendete, erhielten die protestantischen Reichsstände endgültig die Gleichberechtigung mit den katho lischen. Glaubensfreiheit für den Einzelnen gab es aber noch nicht. Der Landes herr bestimmte auch weiterhin die Konfession in seinem Territorium. Deshalb besserten sich die schweren Zeiten für die Evangelischen im habsburgischen Schlesien kaum. Lediglich in Schweidnitz, Jauer und Glogau durften drei evan gelische Kirchen gebaut werden. Zur Erinnerung an den Westfälischen Frieden wurden sie ,,Friedenskirchen” genannt. Nach dem Frieden zu Altranstädt im Jahre 1706 und auf Vermittlung König Karl XII. von Schweden gelang es den Teschener Lutheranern, dem Kaiser den sogenannten Executionsrezeß abzukaufen. Für 300.000 Gulden wurde 1709 gestattet, sechs ,,Gnadenkirchen" vor den Städten Freistadt, Sagan, Hirschberg, Landshut, Militsch und Teschen zu bauen. In größerem Umfang konnten kirchliche Gebäude jedoch erst nach dem Jahre 1781 errichtet werden. Erst das Toleranzpatent Joseph II. aus diesem Jahre gestattete den Lutheranern in den habsburgischen Landen den Bau von Bethäusern dort, wo 100 Familien oder 500 Personen dieses Bekenntnisses an einem Ort waren.
„Rote Ohren”
Im Laufe der letzten Jahre bin ich recht oft in Polen gewesen, mit Studienreise gruppen, mit Hilfstransporten, zu Verhandlungen für die Evangelische Initiative „Znaki Nadjiei - Zeichen der Hoffnung”. Ich war in Polen, wenn auch der brave Bildzeitungsleser aufgrund seiner Informationsmöglichkeiten nichts dabei finden konnte. Ich war aber auch in Polen zu Zeiten, da mancher Verwandte, Bekannte oder Freund, je nach Mentalität mehr warnend oder mich für ein bißchen verrückt haltend, empfahl, dieses schöne Land zu meiden. Und doch habe ich weder im Dezember 1980 nach dem Aufbruch der Solidarnoscz noch am 13. Dezember 1981 nach Ausrufung des Kriegsrechts noch im April 1982 unter dem Kriegsrecht jenes Gefühl der Unfreiheit oder des Ausgeliefertseins gehabt, das mich etwa in der DDR befiel. Damit will ich die Rechte des Einzelnen, die dieser in Polen hat, keineswegs auf eine Stufe mit den Grundrechten der Bundesrepublik Deutschland stellen. Aber die Art des Umgangs mit anderen Menschen, die ich in Polen erlebt habe, kann einen angstfrei machen, zur Irritation polnischer Freunde und zur Verwunderung vieler Bundesbürger.
Doch ,Rote Ohren", eine polnische Umschreibung für Spitzel, gibt es auch in Polen überall. Da weiß der Pfarrer auf der Kanzel nie ganz genau, ob nicht jemand, der ihm zu Füßen sitzt, vielleicht jedes Wort weiter berichtet. Da ist es im Gespräch mit Menschen, die man nicht ganz genau kennt, durchaus angebracht, nicht mit der bei uns üblichen Offenheit zu reden; auch wenn sich der Gesprächspartner sehr offen gibt Und schließlich ist in jedem Fall Vorsicht angebracht, wenn man über Dritte redet.
Jede Reisegruppe, die nach Polen fährt, kann hier, wenn sie sensibel genug ist, ihre Beobachtungen machen. Erhält sie doch vom polnischen staatlichen Reisebüro Orbis einen Reisebegleiter, den Piloten, verordnet. Offiziell ist er ein Reise begleiter, der der Reisegruppe den Weg ebnen soll. Daß diese Hilfe sehr nützlich ist, bemerkt man als Reiseleiter spätestens dann, wenn es am ersten Abend im Hotel die ersten bürokratischen Schwierigkeiten an der Rezeption gibt. Als verwöhnter Westeuropäer ahnt man ja gar nicht, wie schwierig es sein kann, eine Reisegruppe in den seit mindestens einem halben Jahr gebuchten Einzel- und Doppelzimmern unterzubringen. Dann erweisen sich Kasimierz oder Wanda, oder wie immer er oder sie heißt, geradezu als ein Geschenk des Himmels. Auch in der Folge wird er, hoffentlich, die Straßen kennen und die Hotels, wird wissen, wo man gut ißt und sich wundern, daß die kirchliche Gruppe kein Interesse am Striptease hat; wird wenn auch nicht immer, Geld zum Schwarzmarktkurs oder knapp darunter (damit der Reisende kein Risiko auf der Straße hat und sein eigenes Ge schäft blüht) umtauschen und kurz vor der Grenze auf der Rückreise noch das günstigste Bernsteinangebot unterbreiten, das der Reisende je gesehen hat. Er wird dabei freundlich, charmant und hilfsbereit sein. Vielleicht interessiert es ihn auch gar nicht, was die Gruppe in ihrer freien Zeit macht oder wenn sie, natürlich offiziell angemeldet, bei einer Kirchengemeinde oder nichtstaatlichen Institution zu Gast ist.
Es kann aber auch anders sein. Da wohnt vielleicht die Gruppe in Kattowitz im Hotel und hat sich den Abend freigehalten. Man will ihn in Gruppen verbringen. Eine Gruppe lädt den Piloten zum Wodka ein. Man trennt sich. Nicht ganz zufällig treffen sich dann die anderen Gruppen wieder. Man fährt mit der Straßenbahn in einen anderen Stadtteil und will hier in einem Studentenklub einmal ganz offen diskutieren. Auf die erste Frage, wo der Pilot sei, kann man ruhig antworten, der sei abgehängt und in guten Händen. Ja, und dann nach anderthalb Stunden taucht er auf einmal auf. Ganz harmlos, „er fühlt sich ja unter Studenten so wohl". Schnell werden die Gesprächspartner gewarnt. Aber die offene Stimmung ist hin und das Vertrauen für den Rest der Reise auch.
Noch ist Polen nicht verloren
Es ist schon merkwürdig. Da drängen sich viele gläubige Polen in und vor der berühmten Kapelle, die im Kloster Jasna Gora von Tschenstochau die Schwarze Madonna birgt. Ergriffen, gerührt, schluchzend, in Exstase. Weite Wege sind sie mit Bussen oder auch zu Fuß gewallfahrtet an diesen Ort und zu der Stunde, wo sich nach Fanfarenklängen, zu Gebeten und Liedern die Silber-Jalousie hebt und den Blick auf die Schwarze Madonna freigibt. Und dann stehe ich, der nüch terne Protestant als bevorzugter Gast oder Tourist, unmittelbar neben dem Altar; schaue den inbrünstig Betenden ins Gesicht, sehe die uninteressierten oder abge lenkten Blicke der zelebrierenden Priester und habe für dieses ,,Schauspiel" kaum Verständnis.
Aber in Polen ist halt alles anders. Patriotismus, Vaterland, Freiheit, Kultur, Kirche, Glaube sind heilige Begriffe, habe ich mir sagen lassen. Hier erlebe ich etwas davon. Wir Deutschen, und speziell wir Protestanten, haben ein recht säku lares Verhältnis zu diesen Begriffen und den Ideen, die sie beschreiben. In Polen habe man ein sakrales Verhältnis zu ihnen. Die Begriffe haben dort etwas emotionalnational Heiliges. Die Polen sind schließlich doch ein slawisches Volk mit einer lateinischen Kultur. Und wenn ich mich frage, wie kommt dieses Land zu einer Nationalhymne, die mit den Worten „Noch ist Polen nicht verloren” beginnt, hier finde ich Antwort. Staat und Kirche haben in Polen den gleichen Ursprung. 966 trat Mieszko I. zum Christentum über und gründete zugleich den polnischen Staat. Seitdem gehören Staat und Kirche in Polen eng zusammen. Seitdem gibt es das traditionell enge Bündnis von Staat und katholischer Kirche. Das hat hin und wieder Probleme gebracht. Nur zu oft gab das den Polen aber die Kraft zur Lösung von Schwierigkeiten, ja zum Überleben.
Hinzu kommt der Marienkult, der im Osten schon immer intensiver gepflegt wurde als im Westen. Sicher hängt das mit der Rolle der Frau und Mutter in der slawischen Kultur zusammen. Die Anrede der Mutter in vielen polnischen Familien auch heute noch in der dritten Person. Der Handkuß und der Blumenstrauß für die Dame sind Zeichen dafür auch im gegenwärtigen Polen. Aber dann das Jahr 1655. Die Schweden hatten Polen besiegt und erobert. Alles lag danieder. Da gelang es verhältnismäßig wenigen Mönchen von Jasna Gora und ihren Knechten, die Schweden in einem Scharmützel vor ihrem Kloster zu besiegen. Keine große Schlacht war das, aber ein Wunder in der Zeit der Niederlagen. Allen Polen gab es Mut und nun folgten weitere Siege. Ein Wunder also, nicht anders konnte man es sich erklären, das dem unmittelbaren Eingreifen der Gottesmutter, der Schwar zen Madonna. zugeschrieben wurde. Aus Dankbarkeit rief König Kasimierz Maria zur ,,Königin der Krone Polens" aus. Von nun an bekam die Marienverehrung in Polen erst ihre richtige Bedeutung. Im Jahre 1717 wurd die Madonna von Tschen stochau mit einer goldenen Krone gekrönt, natürlich mit Genehmigung des Papstes. Der Marienkult wurde zum Staatskult.
Doch was bedeutet das? Nun, als Königin Polens war Maria quasi verpflichtet, den Polen in allen Nöten zu helfen. Auf diesem Hintergrund wird dann im 19. Jahrhundert die Geschichte Polens von Dichtern und Schriftstellern nationalromantisch und zugleich theologisch interpretiert. Der Leidensweg Christi mit Kreuzweg, Tod und Auferstehung wird als Gesetzmäßigkeit auf den Leidensweg des polnischen Volkes übertragen. Ja, das Verhältnis des polnischen Volkes zu Gott wird ähnlich gesehen wie das Verhältnis des Volkes Israel zu Gott im Alten Bund. Polen ist der ,,Gekreuzigte Christus der Nationen". Den Polen gab das viel Kraft zum Durchhalten in Zeiten nationaler Ohnmacht. Wann immer es ihnen schlecht ging, wußten sie, es kommt der Tag der ,,Auferstehung".
Diese Tradition wird bis in die Gegenwart gepflegt. Als man 1966 das tausend jährige Bestehen Polens und der polnischen Kirche feierte, wurde eine Marien novene anberaumt. Neun Jahre lang wurde in der katholischen Kirche ein besonderes Pastoralprogramm durchgeführt. Dazu gehörten auch Wallfahrten und eine Prozession mit einem Bildnis der Schwarzen Madonna durch das ganze Land. Das mißfiel dem Staat ebenso wie die große Zahl der Gläubigen, die an diesen Wallfahrten und Prozes sionen teilnahmen. Deshalb beschlagnahmte er das Bildnis. Für die frommen Polen bedeutete dies, daß ihre Madonna im Gefängnis war. Also wurden die Prozessionen und Wallfahrten mit dem leeren Rahmen fortgeführt, mit noch mehr Teilnehmern, bis der Staat schließlich nachgab.
Auch als 1978 eine Pole zum Papst gewählt wurde, war diese Wahl für die pol nischen Katholiken nur dem unmittelbaren Eingreifen der Gottesmutter und ihres Sohnes zu verdanken. Ein Hirtenbrief des polnischen Episkopats sprach es deutlich aus: ,, ... die Wahl eines Polen zum Papst ist nach allgemeiner Überzeugung das Werk der Allerheiligsten Mutter. Christus hat dies für seine Mutter getan". So ist auch der Papstbesuch im Jahre 1979 und, ihm folgend, der Aufbruch der ,,Soli darität" nur auf diesem Hintergrund zu verstehen. Noch ist Polen nicht verloren, denn es hat ja die Gottesmutter auf seiner Seite und das zeigt sich immer wieder.
Wohl nirgendwo in Polen kann einem das so deutlich werden wie in Tschenstochau. Man gehe durch das Kloster Jasna Gora, dann begegnet einem diese enge Ver bindung von Glaube und Nationalbewußtsein auf Schritt und Tritt: Fahnen be rühmter Regimenter, die in Heimat und Fremde gekämpft haben; das Bild von der polnischen Legion bei Monte Cassino; vielfältigste Bilder der Schwarzen Madonna in Holz und Stroh, als Ölgemälde und Metallarbeit; Pater Maximilian Kolbe; der polnische Papst; die ,,Solidarnocz"; Pater Popieluszko; Kardinal Wyszinski; historische Gemälde; Waffen und Schmuckstücke usw. usw. Es gehört eben alles zusammen.
Der Devisenchor
Wie das mit richtigen Freundschaften so ist; man ist ja nicht nur miteinander verbunden, wenn die Sonne scheint, sondern auch wenn es regnet. Das gilt auch für Freundschaften über Grenzen hinweg. Ja, manchmal ist es da noch problema tischer. Ich habe das erst lernen müssen. Doch gehen wir der Reihe nach. Seit vielen Jahren lädt der Evangelische Regionalverband Frankfurt am Main jährlich über den Bischof der lutherischen Kirche zwei lutherische Pfarrerehe paare zum Urlaub nach Hessen ein. Einmal waren das Pfarrer Dorda und Frau aus Ustron. Freundschaftliche Beziehungen zu einigen Frankfurtern ergaben sich hieraus. Gegenbesuche folgten und schließlich im Spätsommer 1980 der Be such des Kirchenchores aus Ustron in Frankfurt und Umgebung. Neue Freundschaften wurden geschlossen und eine Vielzahl von persönlichen Verbindungen zwischen polnischen und deutschen Familien kamen zustande. Kein Wunder, daß dann auch von 1982 ab Hilfstransporte vor allem nach Ustron gingen. Man kannte sich und man wußte, wer die Sachen bekam. Auch als im Juli 1982 die Ustroner Kirchengemeinde ihr zweihundertjähriges Bestehen feierte, fuhren die Frankfurter mit sieben Wagen und einer weiteren Delegation zum Feiern nach Ustron.
Groß war die Überraschung, als wir bei der Ankunft in Ustron erfuhren, daß Pfarrer Dorda versetzt sei und daß der Jubiläumsgottesdienst zugleich der Abschiedsgottesdienst für ihn und seine Kollegen war. Noch größer war die Überraschung als mir der Durchschlag eines Schreibens des Warschauer Konsistoriums präsen tiert wurde, demzufolge die Hilfsgüter beim Senior in Bielsko-Biala abzuliefern seien. Das erste konnten wir betroffen zur Kenntnis nehmen. Das zweite habe ich abgelehnt, weil wir ja Spenden für Ustron gesammelt und gebracht hatten. Der Brief selbst ist übrigens nie in Frankfurt angekommen. Doch ich habe selten so beklemmende Tage verbracht wie die folgenden. Da wollte man eigentlich fröhlich zusammen sein. Dann war man einfach in diese peinliche Situation hineinmanövriert worden. Gründe erfuhr man nicht. Hatte sich Dorda etwas zu Schulden kommen lassen? Von den einen dunkle Andeutungen, von den anderen Empörung. Spielten die Westkontakte eine Rolle? Vielleicht. Waren die Evangelikalen am Werk, die ihm vorhielten, in seine Gottesdienste gingen sogar die Atheisten? Und so weiter und so weiter. Richtige Klarheit habe ich bis heute nicht. Auf der anderen Seite hatten wir doch bisher freundschaftliche Beziehungen gepflegt, und zwar mit Billigung der Kirchenoberen. Die wollten wir jetzt nicht abbrechen, nur wegen der internen polnischen Querelen. Und so hielten wir es dann auch für die Zukunft. Unser Partner ist die Gemeinde, ganz gleich, wer dort Pfarrer ist; ganz gleich, wer dort singt, der Dorda-Bocek-Chor (der uns in Frankfurt besucht hatte) oder der ,,Devisenchor" (von der Opposition und mit dem Wunsch, auch einmal in den Westen zu dürfen). Daneben wollten wir uns aber die Kontakte zu den Menschen, die wir schätzen gelernt hatten, auch nicht nehmen lassen. Gegenüber dem Bischhof, dem Senior und dem Nachfolger im Pfarramt habe ich das verschiedentlich vertreten. Doch ich habe den Eindruck. daß seitdem die Beziehungen zu Polen getrübt sind. Niemand wird das zugeben. Ich möchte das auch nicht und hoffe sehr, daß wieder ungetrübte Beziehungen möglich sind; vor allem, wenn uns demnächst der neue Kirchenchor auch in Frankfurt besucht.
Aber nachdenklich stimmt das ganze schon. Da leben die Brüder und Schwestern in der Diaspora und in einem sozialistischen Land. Statt daß sie zusammenhalten, spielen Richtungskämpfe, persönliche Animositäten, Neid und viele menschliche Schwächen eine so große Rolle. Da kritisiert man die katholische Kirche und hält das Luthertum hoch. Doch dann benehmen sich nicht wenige Pfarrer genauso autoritär wie ihre katholischen Kollegen. Und noch eines. Ich habe einmal in einem Festbankett des Kontaktausschusses der deutschen und der polnischen Kirchen teilgenommen. Die Freundlichkeit und die zur Schau getragene Brüderlich keit haben mich zunächst beeindruckt. Doch ist das vielleicht nur der Stil auf der oberen Ebene. Da, wo ich in die deutschpolnischen Beziehungen verwickelt bin, wünschte ich mir doch manchmal mehr Offenheit und weniger Taktieren. Andererseits bin ich mir auch bewußt, wie schwer es die polnischen Brüder mit uns haben. Sehen wir ihre Schwierigkeiten immer? Stellen wir sie nicht häufig vor unlösbare Probleme mit unserer Grundeinstellung ,,Hoppla, jetzt komm ich” oder ,,Das muß doch zu machen sein"? Erwarten wir nicht allzu häufig etwas, wo wir warten oder gar geben müßten? Nun, ich denke, wer sich mit Polen befaßt, muß auch diese Seite sehen. Er muß sich darauf einstellen und versuchen, seinerseits so wenig Reibungsfläche zu bieten, wie nur möglich.
Evangelische Kirche in Polen, da denken viele Deutsche auch heute noch, das müßten doch in erster Linie Deutsche sein. Doch das war im alten polnischen Gebiet nicht so und ist auch in den ehemaligen deutschen Gebieten nicht mehr so. Die lutherischen Gemeinden in Polen sind „richtige” polnische Gemeinden. Im Teschener Land sind sie groß und stark und haben einen guten Zusammenhalt. Hunderte von Gottesdienstbesuchern und eine Bautätigkeit, wie wir uns das gar nicht vorstellen können, dokumentieren das. Aber es gibt auch das andere, die kleinen Diasporagemeinden, deren verstreut und vereinzelt lebende Gemeindeglieder mühsam zusammengehalten werden müssen. Auch kleine deutsche Gruppen gibt es, vor allem in den ehemaligen deutschen Ostgebieten. Sie sprechen noch deutsch, halten durchaus auch Gottesdienste in deutscher Sprache, nehmen aber ab und sind Teil der lutherischen Gemeinde. Mir ist nicht bekannt, daß es sich hier um größere Personengruppen handelt, und ich habe auch nie größere Perso nengruppen dieser Art gesehen. Das mindert nicht deren Probleme als deutsche Minderheit. Das läßt mich aber zweifeln an den Zahlen, die von einigen Politikern bei uns seit einiger Zeit im Hinblick auf die deutsche Minderheit in Polen genannt werden. Gerne würde ich einmal wissen, wer hier alles als Deutscher gezählt wird und wo diese Menschen wohnen. Sicher gibt es immer noch Menschen deutscher Abstammung. Doch, wenn es um die Partner der evangelischen Kirche in Polen geht, dann geht es nicht um die deutsche Minderheit, sondern in erster Linie um die Brüder und Schwestern polnischer Nationalität und Abstammung.
Einen alten Baum verpflanzt man nicht
Immer wieder konnte man in den vergangenen Jahrzehnten Erfolgsmeldungen unserer Regierung vernehmen, wenn diese wieder einmal einem Ostblockstaat die Ausreisegenehmigung für Auslandsdeutsche in die Bundesrepublik abgekauft und teuer bezahlt hatte. Ich kenne manchen, der auf diese Weise in den Westen gekommen ist. Ich möchte ihn hier als Bekannten oder Mitarbeiter nicht missen. Ich freue mich auch für ihn, daß er jetzt hier bei uns lebt. Aber ich habe es in Polen auch immer wieder erlebt, welche Spannungen in Familien getragen worden sind, vor welche Probleme einzelne gestellt wurden und wie schwer es ist, sich in der Bundesrepublik einzuleben, wenn man sein ganzes Leben in Polen verbracht hat, vielleicht noch in ländlichen Verhältnissen.
Irgendwo im früheren Oberschlesien war es. Mit unserer Reisegruppe kamen wir an einem Friedhof vorbei. Die hölzerne Friedhofskapelle, ganz im Stil der Stabkirchen, fiel uns ins Auge. Wir hielten an, wollten sehen und photographieren. Eine Beisetzung war gerade beendet, die Kapelle noch offen. Warmes Licht empfing uns und eine alte Frau, die Küsterin. Schnell kamen wir ins Gespräch. Von ihren Nöten erzählte sie und daß sie auch Verwandte im Westen hätte. Und dann wollte sie auf einmal von uns wissen: ,Soll ich umsiedeln?” Die Geschwister waren im Rheinland und hatten sie schon oft eingeladen. Manche Sorge wäre sie dann los, denn da gebe es ja alles. Aber ihre beiden Söhne lebten hier und seien mit Polinnen verheiratet, hätten auch nicht die Absicht umzusiedeln. So trage sie ihr Problem schon länger mit sich herum und niemand könne ihr raten. Ich versuchte, mir vorzustellen, wie es ihr bei uns wohl ergehen würde. Sie brauchte nicht mehr Schlange zu stehen; konnte mit ihrer Rente in einem Wohlstand leben, den sie gar nicht kannte. Sie hätte eine schö-ne kleine Wohnung in einem schrecklichen Hochhaus. Aber sie hätte sicher auch Heimweh; die Söhne fehlten, die Enkel, der Friedhof mit dem Grab ihres Mannes und mit der Arbeit im Freien. Den anderen mag wohl Ähnliches durch den Kopf gegangen sein. Jedenfalls waren wir uns einig: einen alten Baum verpflanzt man nicht. So haben wir ihr dann auch geant wortet. Ob wir ihr geholfen haben, weiß ich nicht. Ob sie unseren Rat berücksichtigt hat, weiß ich auch nicht. Aber ehrlich hätte ich ihr nichts anderes sagen können. Im Laufe der Jahre bin ich des öfteren in eine solche Situation gekommen. Nicht immer fiel die Antwort so leicht, bei dem Rentnerehepaar, wo sie unbedingt in den Westen wollte und er bleiben; bei dem Pfarrersohn, der kaum deutsch sprach, der aber aus Polen weg wollte, weil er endlich nicht mehr der belächelten evangelischen Minderheit angehören wollte, usw. usw.
Roter Barscht und Bigos
Viele Kilometer bin ich auf polnischen Straßen gefahren. Anfangs waren sie mir fremd, vor allem, wenn ich selbst am Steuer saß. Dann wurden sie immer vertrau ter. Schön ist es, durch das Land zu fahren, wenn mildes freundliches Wetter ist. Der Verkehr ist nicht so stark wie bei uns, nur auf die Pferdefuhrwerke muß man achten. Vor allem nachts ist das wichtig, denn da kann man unbeleuchteten Panjewagen selbst auf der Autobahn begegnen. Und das kann gefährlich werden, wenn man nicht aufpasst. Aber es gibt auch anderes Wetter in Polen; brütende Hitze oder Regen oder strenger Frost und Schnee und Glatteis. Dann wird das Autofahren zur Anstrengung. Nach einer solchen Fahrt aber weiß man ein warmes Heim und gutes Essen und Trinken erst richtig zu schätzen. Dann erfährt man buchstäblich, was es heißt, ,,Essen und Trinken hält Leib und Seele zusammen".
Die Straßen in Polen haben einen ganz unterschiedlichen Charakter. In Pommern ziehen sie sich über ein weites welliges Land. Zwischen Posen und Warschau und weiter östlich schneiden sie schnurgerade durch die flache Ebene. Im Vorland des Riesengebirges oder der Beskiden schlängeln sie sich durch eine hügelige Gegend. Und ganz im Süden sind es Gebirgsstraßen. Natürlich erhalten die Straßen dadurch ihren Charakter. Aber auch durch die einzeln stehenden Häuser und die Ortschaften werden sie geprägt. Da gibt es mehr im Norden in den ehemaligen deutschen Gebieten die flachen, niedrigen Bauern- und Landarbeiterhäuser, wie wir sie etwa aus der Mark Brandenburg kennen. Aber deutlich im Kommen sind die für Polen typischen viereckigen und unverputzten Einfamilienhäuser mit Flachdach oder flachem Zeltdach. Und natürlich werden sie mehr und mehr erdrückt von den vielen unfreundlichen Wohnblocks aus Fertigteilen. Anders ist es in Zentralpolen. Natürlich auch da die neue Architektur. Aber überall noch die kleinen niedrigen hölzernen Bauernhäuser, die an frühere Zeiten erinnern. Manchmal sind sie hellblau angestrichen. Natürlich haben in den größeren Orten überall auch Gebäude der Gründerzeit oder der dreißiger Jahre den Krieg überstanden. So ergibt sich eine ganz spezifische Mischung. So sehr sich die Straßen auch unterscheiden, in der Qualität sind sie alle etwa gleich gut und ihre Funktion gleicht sich auch überall. Polen ist ja verkehrsmäßig vor allem über die Straßen erschlossen. So überwinden die Polen Entfernungen vor allem auf der Straße und weniger mit der Bahn: zu Fuß, mit dem Fahrrad, mit dem Pferdefuhrwerk, mit dem Bus und - in der letzten Zeit aus Treibstoff mangel weniger - mit dem Auto.
Das Leben auf der Straße beginnt mit dem Sonnenaufgang. Dann zuckeln die ersten Hunde an der Straße entlang, auf dem Morgenspaziergang und auf der Suche nach etwas Freßbarem. Es folgen die ersten Früharbeiter, die vereinzelt von abseits gelegenen Gehöften der Bushaltestelle zustreben, verschlafen und fröstelnd. Später strömt es geradezu; Menschen auf demWeg zur Arbeit, Schulkinder, Frauen auf dem Weg zum Einkaufen usw. Erste Schlangen bilden sich an Lebensmittelgeschäften, der Alltag beginnt. Etwas anders ist es sonntags. Da ist mir noch die Straße von Warschau nach Lublin in Erinnerung, an einem warmen Sommer-Sonntag. 170 Kilometer sind es etwa zwischen diesen beiden Städten. Auf der ganzen Strecke war lebhafter Fußgänger verkehr. Im Sonntagsstaat und fröhlich schwätzend zogen Jung und Alt mit uns unbekanntem Ziel die Landstraße entlang. Aber eines war deutlich: es ging zur Kirche oder man kam von der Kirche, manchmal kilometerweit.
Vom Leben und Treiben auf den Straßen wäre noch manches zu berichten, doch ist ja auch das Ankommen wichtig, Nach langer, vielleicht vierundzwanzigstündiger, Fahrt, wie wir sie manchmal erlebt hatten, ist man müde und abgespannt. Vielleicht ist man auch nervös und gereizt vom langen Warten an den Grenzen und den kleinen Schikanen, denen man ausgeliefert war. Was bedeutet dann ein herzlicher Empfang, wie wir ihn in Ustron immer wieder erlebten. Denn die Polen können das, ihre Freude und die Zuneigung zum Ausdruck bringen, viel besser als wir Deutschen. Da gibt es Umarmungen und Küsse, Freudentränen und Geschenke im Überfluß. Und natürlich die Bewirtung. Auch in den schlechtesten Zeiten wird herangeschafft, was nur zu bekommen ist, und wenn es das letzte aus Küche und Keller ist.
Vielleicht fängt man mit einem Wodka an, der so wohlig durch den müden Körper fließt. Aber dann ein heißer roter Barscht, der wärmt und macht munter. Man ahnt ja vorher gar nicht, wie einen das behagliche Schlürfen dieser Suppe aus roten Rüben entspannt. Nun folgt der Bigos, ein Gericht aus Sauerkraut, Weißkohl und Fleisch und natürlich den Gewürzen, die jede Hausfrau als Geheimnis hütet. Ihnen folgen Kuchen und Torte und Kaffee. Natürlich ißt kein Gast dem Gastgeber genug. X-mal wird man aufgefordert, noch etwas zu essen. Das ist polnische Gastfreundschaft. Besonders gut beherrscht sie die alte Frau Bocek aus Ustron. Ihre Worte habe ich immer noch im Ohr: ,Pan Direktor, noch ein Stückchen”.
Ja da fühlt man sich wohl. Und doch wird man von Zweifeln geplagt. Wann immer ich in Polen war, in besseren und schlechteren Zeiten, ich habe sehr gut gegessen. Und stets haben wir uns gefragt, ob das richtig ist. Dabei habe ich gelernt zu differenzieren. Ich habe kein schlechtes Gewissen, in einem Hotel gut zu essen, auch wenn draußen die Mehrzahl der Menschen Not leidet. Habe ich doch das, was ich esse, mit guten Devisen bezahlt; habe ich mir doch auch einen Wechselkurs aufzwingen lassen, der den wirtschaftlichen Realitäten nicht entspricht. Denn das ist doch der Fall, wenn ich für eine D-Mark früher dreizehn und später dreißig oder vierzig Zloty bekam, während mir auf dem schwarzen Markt dreihundert bis vierhundert Zloty gezahlt wurden. Und schließlich habe ich ja auch dem Land die dringend benötigten Devisen verschafft. Anders ist es, wenn ich privat einge laden bin. Da weiß ich, welche Freude ich meinen Gastgebern mache, wenn ich es mir schmecken lasse. Aber ich kann nicht einschätzen, welches Opfer sie mir tatsächlich bringen. Sicher ist es manchmal sehr groß, manchmal vielleicht auch nicht. Ich bin also unsicher und habe doch so etwas wie ein schlechtes Gewissen. Und trotzdem, roter Barscht und Bigos gehören zu einem Besuch von Polen und lassen uns das Land auch kennen lernen.
Das verkehrte B
Eine feuchte Niederung, durchzogen von der Weichsel und ihrem Nebenfluß, der Sola. Abgegrenzte Wiesen mit Vieh. Einzelne Gehöfte und hin und wieder eine Ortschaft. Das ist die Gegend um Oswiecim, nichts besonderes. Trübes regnerisches Wetter, leichte Nebel über den Wiesen, den Rücken hochziehende Kälte. Das ist Auschwitzwetter, sagt Tadeusz Szymanski, nur daß es damals noch so pene trant süßlich nach den Scheiterhaufen roch. Doch dann kann man auch an einem sonnigen Frühsommertag über die Wiesen gehen und ist überrascht über die Blütenfülle. Und diese Wiesen erstrekken sich heute auch über das Areal des Lagers Birkenau. Ein heiterer Blumenteppich deckt dann weitgehend die Stätte des Grauens zu.
Das Konzentrationslager Auschwitz bestand ja aus drei Lagern allein in Auschwitz selbst: dem Stammlager, dem Lager Birkenau und Auschwitz-Monowitz. Das eigentliche Vernichtungslager war Birkenau, in Monowitz wurde für IG-Farben gearbeitet und im Stammlager hatte man auch bei Arbeit die etwas größere Lebenserwartung. Über vier Millionen Menschen wurden in diesen Lagern umgebracht - vergast, durch harte Arbeit und schlechte Ernähung, bei pseudomedizinischen Versuchen, mit Giftspritzen, erschlagen, erhenkt oder erschossen, was immer menschlicher Geist sich ausdachte. Lange ist über die tatsächliche Zahl der Toten gestritten worden, auch heute wird sie noch manchmal bestritten. In der Tat ist es nicht möglich, die exakte Zahl festzustellen. Zwar haben die Deutschen gut Buch geführt, doch nur über diejenigen, die überhaupt in das Lager kamen. Wer vom Zug weg in Birkenau in die Gaskammer getrieben wurde, der taucht in den Lagerunterlagen nicht auf. Ich habe vor einigen Jahren versucht, den Spuren von Frankfurter Juden in Auschwitz nachzugehen, ohne großen Erfolg. Zwar gibt es in Auschwitz eine mehrere hunderttausend Namen umfassende Kartei. Doch irgendwie muß jemand eben in die Bücher gekommen sein, als Kranker, als Funktionsträger, als offiziell in das Lager Aufgenommener. Dann kann man ihn finden. Sonst helfen nur noch die Transportlisten, die für etliche Transporte erhalten sind, aber nur für einen verschwindend geringen Teil aller Transporte. So verlieren sich viele Spuren im Nichts. Schließlich haben die Deutschen auch dafür sorgen wollen, als sie bei der Aufgabe des Lagers versuchten, die Unterlagen zu vernichten.
Überhaupt die deutsche Bürokratie. Es ist schon erschreckend zu sehen, wie die Unmenschlichkeit verwaltet wurde, mit Formularen und Listen wie wir sie heute auch kennen; wie gebaut wurde nach Architektenplänen, wie wir sie heute auch kennen; wie Schuhe und Kleidung, Scheren und Blechdosen, Koffer und Kinderspielzeug, Prothesen und Schmuck gesammelt, erfaßt, verwaltet, verkauft wurden. Und wie die deutschen Firmen, die daran verdient haben, als Nachfolger der IG-Farben oder wie die Deutsche Gesellschaft für Schädlingsbekämpfung, die das Zyklon B geliefert hat, noch heute bestehen und ihre Geschäfte machen. Wenn etwas daran wäre, daß - wie man gesagt hat - nach Auschwitz Glaube an Gott nicht mehr möglich sei, dann dürften deutsche Verwaltung und deutsche Industrie auch nicht mehr möglich sein. Zu sehr waren sie in Auschwitz und anderswo involviert.
Doch betreten wir das heutige Museum Auschwitz. Wir werden das durch den Haupt eingang tun, der noch so aussieht wie damals. Wie Hohn klingt die Inschrift „Arbeit macht frei" angesichts dcssen, was die Menschen hinter diesem Tor leiden mußten. Da waren jene noch gut dran, die in der Schreibstube oder in Werkstätten für die Deutschen arbeiten mußten. Sicher auch jene Schlosser, die die Inschrift über dem Tor anzufertigen hatten. Und sie konnten den Deutschen auch eins auswischen. Sie brachten das B in Arbeit einfach verkehrt herum an. Merkten die Deutschen das nicht? Oder was sonst bewog sie, dies nicht ändern zu lassen? Für die Häftlinge war es jedenfalls immer wieder eine Aufmunterung. ,,Hier haben wir ´s denen aber doch gezeigt!". Wenig genug war das. Mieczyslaw Koscelniak hat uns ja in vielen Bildern gezeigt, wie der Lageralltag wirklich aussah. Bei all' dem sollte aber eben auch der Selbstbehauptungswille der Häftlinge, ihre Versuche von Flucht und Widerstand nicht vergessen werden.
Eigenartige Gefühle befallen mich immer wieder, wenn ich die Lager betrete. Wie viele andere Besucher auch, war ich schockiert, als ich das erste Mal diese Stätte des Grauens betrat und so unmittelbar mit den Gebäuden, Bildern und Gegenständen konfrontiert wurde, die das Grauen dokumentieren. Ich erinnere mich noch, wie wir im Bus hinterher hitzig diskutierten, als eine Reiseteilnehme rin sich darüber beklagte, daß das alles doch so unästhetisch sei. Ich erinnere mich aber auch noch des beklemmenden Gefühls, als ich meine Gruppe verloren hatte und auf einmal allein unter Polen war. Dann bin ich einige Male unter Füh rung von Tadeusz Szymanskl durch die Lager gegangen und habe gemerkt, wie leicht er es einem mit seinem Erzählen macht, das Geschehene auch wirklich zu verarbeiten. Ja ich habe inzwischen auch selbst Gruppen durch Auschwitz geführt und hoffe, dabei auch dies und jenes vermittelt zu haben. Trotzdem, das Bild von meinem gelben VW-Bus mitten im Lager Birkenau (in das wir mit T. Szymanski gefahren waren) kommt mir immer noch unwirklich vor. Und als wir mit eben diesem Bus sogar über die Lagerstraßen vom Stammlager gefahren sind, um Ausstellungsstücke abzuholen, habe ich mich bei der Frage ertappt: „Darfst du das eigentlich?" Auschwitz kann ich eben doch nicht unbefangen be treten. Das ist gut so und das möchte ich anderen Deutschen auch weitergeben.
Wenn ich an Auschwitz denke, tritt mir aber auch immer wieder etwas ganz Bestimmtes vor die Augen: die großen, erstaunten Augen und die schmalen, ängstlichen Gesichter jener Häftlinge, die auf Häftlingsfotos festgehalten sind. Das sollen Untermenschen gewesen sein, Mitglieder eines auszumerzenden Volkes oder einer zu vernichtenden Rasse? Sie waren doch gar nicht so anders als ich und wir. Und ich frage mich unwillkürlich, wann wäre ich wohl dran gewesen? Was von ihnen blieb, sind diese Bilder - und die Asche in Birkenau. Das Vergasen hatten die Deutschen ja perfektioniert. Aber die Beseitigung der Leichen gelang schließlich nur noch auf großen, ständig brennenden Scheiterhaufen. Die Asche streute man in Tümpel und in die Gegend. Sie ist heute grün überwachsen. Man geht über sie hinweg und merkt es nicht, wenn man nicht aufmerksam gemacht wird. Dann aber ist man um so betroffener. Ich sehe noch einen jungen Mann unserer Gruppe, wie er sich niederhockte, vorsichtig die teilweise zu Sand gewor dene Asche durch seine Finger rieseln ließ und so das Schreckliche nicht ,,erfuhr”, sondern „erfühlte".
Wie viele solcher Lager gab es? Wie viel Elend auch in jenen Tausenden von Lagern die nicht der Vernichtung dienten? Wie viele Elendslager auch in Deutschland? Und die Deutschen haben von all' dem nichts gemerkt und nichts gewußt? Ausch witz lag unmittelbar am Rande einer Stadt, Maydanek lag unmittelbar vor den Toren von Lublin, Dachau hatte sein Konzentrationslager in unmittelbarer Nähe, Sachsenhausen lag ebenso dicht bei Oranienburg. Man könnte dies fortführen. Aber ich erinnere mich auch noch an ein kleines Kriegsgefangenenlager für russische Kriegsgefangene in unserem Nachbarort Michendorf. Wir wußten es selbst als Kinder, kannten den Stacheldrahtzaun, die zerlumpten Gestalten, die hungernd und die Hände ausstreckend hinter diesem Zaun standen. Und manchmal kam auch einer von denen, machte ein paar Arbeiten und verdiente sich eine halbe Horde Kartoffeln. Wie viele Deutsche müssen einfach damals ihre Beobachtungen gemacht haben. Und wenn sie später ehrlich erklärt haben, sie hätten nichts gewußt, was für Abwehrmechanismen müssen da im Gang gewesen sein. Für mich bleibt aber auch, daß hier nicht nur von Deutschen und im Namen der Deutschen Verbrechen begangen wurden Viel mehr Deutsche, als wir wahrhaben wollen, waren hier beteiligt oder haben es geduldet.
„Geschlossen, es ist Krieg”
Es hat sicher nichts mit Nationalismus zu tun, wenn man sich daran erinnert, daß viele polnische Städte deutsche Gründungen sind, daß die deutschen Stadt rechte auch in Polen eine große Bedeutung hatten und daß viele osteuropäische Städte einen erheblichen deutschen Bevölkerungsanteil hatten. Nein, das ent spricht der historischen Wahrheit, und wir müssen betroffen zur Kenntnis nehmen, in wie kurzer Zeit das durch eine überhebliche deutsche Politik aufs Spiel gesetzt wurde. Auch Krakau ist ein Beispiel dafür. Im Zuge der Christianisierung Polens und der Städtegründungen wurde es von Breslau aus gegründet. Um das Jahr 1000 gab es bereits eine Festung und die Kathedrale. In den folgenden Jahrhunderten war es immer wieder polnische Residenzstadt. Auf dem Wawel sind viele polnische Könige beigesetzt. Auch als Universität hatte es einen guten Ruf. Bis in das 16. Jahrhundert hatte es eine starke deutsche Bürgerschaft. So stiftete die Deutsche Gemeinde 1477 den herrlichen Altar von Veit Stoß in der Marienkirche. Die Universität und die Künstler waren ein Zeichen dafür, daß Polen kulturell selbstverständlich zum Westen gehörte und daß der kulturelle Austausch eine Selbstverständlichkeit war.
Die Gegenwart hat da viel mehr Probleme. Ein kleines Erlebnis deutet das an. Mit einem Hilfsgütertransport waren wir im Jahre 1982 in Mikolow. Pfarrer Groß wollte uns etwas Gutes tun und fuhr mit uns nach Krakau. Wir spazierten durch die Stadt, aßen Mittag und wunderten uns über die süß-sauren Speisen - jüdische Küche, wurde uns gesagt. Dann wollten wir am Nachmittag das collegium maius, die herrliche alte Universität besichtigen. Doch das Tor war zu. Nach längerem Läuten guckte ein alter Pförtner durch eine kleine Luke heraus. Pfarrer Groß setzte seine ganze Beredsamkeit ein, erklärte, wo wir herkamen und was uns nach Polen geführt hatte. Aber es half nichts, und schließlich hieß es nur noch: „Geschlossen, es ist Krieg”. Zum ersten Mal hörten wir hier die Redewendung, mit der die Polen die Situation nach der Ausrufung des Kriegsrechts bezeichneten. Aber es war eben auch mehr. Ein Eingriff von außen, auch wenn er von oben kam, war gerade wieder einmal dabei, Verbindungen zu durchschneiden. So blie ben nur die anderen Eindrücke: die Tuchhallen auf dem weiten Hauptmarkt; die Marienkirche mit dem Turmbläser, der mit seiner abgebrochenen Melodie daran erinnert, wie vor Jahrhunderten sein Vorgänger mitten beim Blasen von einem feindlichen Pfeil getroffen wurde; die Florianska mit der Barbakane und dem Studentencafé, in dem es so viele Erinnerungsstücke an den Jugendstil gibt; das Kö-nigsschloß auf dem Wawel mit seinem Hof und den Renaissance-Arkaden; und schließlich die Kathedrale, in der einen die Abzeichen, die die jungen Pioniere am Bildnis der Schwarzen Madonna oder am Grabmahl der Königin Hedwig nieder gelegt haben, wieder einmal an die enge Verbindung von Kirche und Nation er innern. Aber das soll genug sein. Wird doch dabei verständlich, wie sich nationale Sehnsüchte über Jahrhunderte hinweg immer wieder auf diese alte Königsstadt mit ihrem geradezu südeuropäischen Fluidum gerichtet haben.
Doch noch einen anderen Eindruck habe ich aus der Gegend von Krakau mitge nommen. Fährt man von Krakau nach Nord-Osten über Sandomierz nach Lublin, dann kommt man in der Weichselniederung durch ein großes Obstanbaugebiet. Wie mag das schöne Obst, das hier geerntet wird, zum Verbraucher gelangen, fragt man sich. Von Einheimischen erfährt man, daß das Obst nur in die nahen Städte gelangt, daß aber vieles am Stamm, darunter oder auf dem Transport verdirbt. Weitere Fragen folgen geradezu automatisch. Wie kann ein Land mit so viel Land wirtschaft Versorgungsprobleme mit Nahrungsmitteln haben? Warum muß einem Land, in dem allem Anschein nach fleißig gesät und geerntet wird, mit Nahrungs mitteln geholfen werden? Müßten nicht die europäischen Länder eher der Dritten Welt helfen, als dem Osten die Folgen seiner sozialistischen Planwirtschaft aus zubügeln? Ja, es ist schon wahr, die sprichwörtliche ,,polnische Wirtschaft" findet man nicht ohne weiteres in der Landwirtschaft. Über 80 Prozent der polnischen Landwirtschaft sind privat. Doch die Felder sind zum Teil klein und der Motori sierungsgrad ist gering. Der Panjewagen und das Pferd vor dem Pflug, manchmal auch die eigene Frau, bestimmen das Bild. Aber mit der Technik und der Düngung hapert es. Ersatzteile sind nur schwer zu bekommen, und deshalb sind Transportprobleme häufig unlösbar. Dazu kam lange Zeit eine unvernünftige Preispolitik. Wenn das Futtergetreide teurer ist als das Brot, verfüttert man doch besser Brot. Wenn der Milchpreis im Laden niedriger ist als der Abnahmepreis, den der Bauer erhält, kauft er sie doch lieber. Außerdem scheint mir die bäuerliche Mentalität eine wichtige Rolle zu spielen. Wenn der Bauer nicht weiß, wie es ihm morgen geht, wird er von der Ernte nur schwerlich mehr herausrücken, als er unbedingt muß, auch wenn dabei so manches verdirbt. Und schließlich provoziert die Planwirtschaft den Schwarzen Markt. Das führt dazu, daß einige immer haben, auch wenn andere darben. Kommt dann noch der stille Protest gegen die poli tischen Zustände hinzu, dann geschieht das, was wir erlebt haben. So zeitigt der „Krieg" viele Folgen, und die vielen, mit Kartoffeln beladenen Pferdewagen im Herbst erinnern mich an die Geschichte vom Hasen und dem Igel. Sie können so viele Kartoffeln transportieren wie sie wollen und wohin sie wollen, aber die Not ist schon da.
Jona und der Walfisch
,,Die Stadt scheint ein Stück dieser düsteren Novembertage zu sein. Sie löst sich an ihren Rändern gleichsam in graue und rauhe Luft auf und ist, halb Stein, halb Rauch, der Ernst, ja die Gedrücktheit selbst ..... Ein gedrängter Strom von Men schen füllt fast zu allen Tageszeiten die Straßen. Studenten, einkaufende Frauen, Offiziere, Spaziergänger, Handeltreibende, Offiziere, Angestellte, Kirchgänger, Offiziere, Juden, Bettler, Ausländer, Offiziere. Gegen Abend wird das Gedränge so stark, daß man versucht ist, nach einem besonderen Anlaß zu forschen. Es ist aber jeden Tag dasselbe. Höchstens daß am Samstagabend noch mehr jüdische Mädchen und Jünglinge zu sehen sind als sonst. Jedes polnische Gesicht scheint den Selbsterhaltungstrieb und das Geltungsbedürfnis seines Landes zu wieder holen. Vielleicht darf man sagen, daß es politische Gesichter sind, welche die Allgegenwart der Nation verkünden und sich den privaten Ausdruck nicht leisten wollen. Es sind, mit einem Wort, Gesichter von Menschen, welche sich dauernd bewußt sind, daß sie langsam, aber sicher, wenn auch nicht ohne Schwierigkeiten, in den Staat hineinwachsen. Eine würdige, ja bedeutende, wenn auch etwas an strengende Atmosphäre."
So schildert Friedrich Sieburg im Jahre 1934 Warschau (,,Polen. Legende und Wirklichkeit"). Man meint fast, so könnte man die Atmosphäre in Warschau auch heute beschreiben, fünfzig Jahre danach und trotz all' dessen, was inzwischen geschehen ist. Ja, wenn es nicht Unterschiede gäbe. Die Offiziere, die ihm so sehr auffielen, würde Friedrich Sieburg vermissen. An ihre Stelle sind einfache Soldaten und Miliz getreten. Auch die Juden gibt es nicht mehr im Straßenbild. Die ,,Mädchen und Jünglinge" sind spätestens nach dem Ghettoaufstand von Deut schen umgebracht worden. Und wenn man heute einen Warschauer nach Juden fragt, wird er keinen kennen; vielleicht auch bestreiten, daß es überhaupt welche in Warschau gibt; oder gar erzählen, welche negative Rolle die Juden in der Kommunistischen Partei gespielt haben. Und schließlich die Interpretation der Geschichte. Mir scheint, daß wir hier mehr Sieburg als die Gesichter sprechen hö-ren. Möchte ich doch heute aus denselben Gesichtern eher die Distanz zu ihrem Staat und eher die Desintegration als die Integration in den neuen Staat herauslesen. Trotzdem, Sieburg hat Warschauer Atmosphäre ziemlich zeitlos eingefangen.
Ich lasse sie immer wieder gerne auf mich einwirken, wenn ich durch die Warschauer Straßen gehe, vor allem im Winter. Ich beginne an der Ecke Marszalkowska /Aleje Jerozolimskie, mit dem Zentralbahnhof, dem Kulturpalast und dem Hotel Forum. Das ist ja das eigentliche Zentrum der Stadt. In Richtung Weichsel gehe ich, vorbei an den Schaufenstern vieler großstädtischer Geschäfte, aber mit wenig Auslagen. Dann biege ich nach links in die Nowy Swiat ein, die Neue-Welt-Straße. Niedrigere Häuser und kleine Geschäfte bestimmen hier das Bild. Bücher und Schallplatten kann man hier einkaufen, und auch Bibeln. Denn hier hat die Warschauer Bibelgesellschaft einen kleinen Laden. Geschäftsführerin ist die Frau des lutherischen Bischofs. Man wundert sich. In einem sozialistischen Land einen solchen Laden, hält man ja nicht unbedingt für möglich. Doch ist der Umsatz erstaunlich, und das kommt daher, daß nicht wenige Katholiken hier auch Bibeln kaufen, weil es katholischerseits nur wenige Bibeln gibt. Doch gehen wir weiter. Aus der ,,Neuen Welt" wird die Krakauer Vorstadt mit ihren Kirchen und Palästen, in denen jetzt die Universität und Ministerien zu Hause sind. Vor bei am Königsschloß geht es in die Altstadt mit ihren engen Gassen, den heimeligen Geschäften und Restaurants. Man landet schließlich auf dem weiten Marktplatz. Auch hier Leben und Treiben. Im Sommer mit einer langen Schlange vor dem Eisstand, hin und wieder mit Zigeuner-Musik. Am Rande die Bilder von Studen ten, die einen Käufer finden wollen, und an der einen Seite das Restaurant ,,Zum Krokodil", wo das Einkehren lohnt. An den Resten der ehemaligen Stadtmauer vorbei verlasse ich die Altstadt wieder, gehe durch den Ogrod Saski, den Sächsi schen Garten, einen der vielen schönen Parks, die es in Warschau gibt. Auf einmal bin ich wieder auf der Marszalkowska. Eines fällt mir auf bei diesem Spazier gang: die vielen Gedenktafeln an den Hauswänden. Wo immer Polen während der deutschen Besetzung umgebracht wurden, erschossen als einzelne oder in Gruppen, ist eine Gedenktafel angebracht. Sie erinnert daran, daß hier Landsleute von den Faschisten oder Hitleristen (nicht den Deutschen) ermordet wurden. Viele solcher Tafeln gibt es. Fast immer liegen frische Blumen vor ihnen, meist Nelken in den Nationalfarben rot und weiß.
Doch dann bin ich auch wieder am Kulturpalast. Ein riesiges Gebäude ist das, das die Sowjetunion Polen geschenkt hat. Nur, wie das so mit Brudergeschenken im Ostblock ist. Die polnische Bevölkerung durfte ihn in den fünfziger Jahren auf eigene Kosten errichten. In einer Zeit, da es ihr selbst nicht gut ging, durfte sie mit Sonder steuern, Preiszuschlägen auf viele Waren und Sonderschichten dieses Bauwerk finanzieren. Spöttisch sagte der Volksmund: ,,Jetzt haben wir zehn Jahre für den Kulturpalast gesammelt, da werden wir auch noch zehn Jahre für einen Vor hang sammeln können, damit wir ihn nicht sehen müssen." Geliebt wird er also nicht, der Kulturpalast. Es kann zum Beispiel sein, daß man gefragt wird, von wo aus Warschau am schönsten ist. Die Antwort muß lauten, vom Kulturpalast, denn da kann man den nicht sehen. Hier kommt auch die Abneigung in Polen gegenüber den Russen zum Ausdruck. Sicher ist sie jahrhundertealt. Aber man wird ihr im Gespräch auch immer wieder neu begegnen. Wie fein weiß man in Polen zwischen Brüdern und Freunden zu unterscheiden - Freunde kann man sich aus suchen. Und wie sehr hat in den Diskussionen nach 1980 immer wieder die ,,geo politische Lage" Polens eine Rolle gespielt. Da gab es ja die einen, die meinten, Polen könne sich mit Beharrlichkeit von Rußland so freischwimmen, daß eine ,,Finnlandisierung" möglich sei. Dann gab es die anderen, die warnten, so weit gehen zu wollen. Letztlich setzte sich die harte Realität durch. Diese Realität hat Wladyslaw Bartoszewski, der Professor aus Lublin, mit der Geschichte von Jona und dem Walfisch beschrieben. Polen geht es wie Jona im Bauch des Walfischs. Jona möchte raus, aber wie? Nun, er muß den Walfisch so kitzeln, daß der ihn freundlich ausspuckt. Aber was machen die Polen? Sie zwicken und pieken den Walfisch so sehr, daß der Magenkrämpfe bekommt. Und dann geht es ihnen in seinem Bauch nur noch schlechter.
ul. Willowa 1
Ein wenig muß man sich in Warschau schon auskennen: die Marszalkowska nach Süden, dann nach rechts in einem leichten Linksbogen den Warynskiego entlang, rechtzeitig links einordnen, in die Goworka einbiegen, gleich wieder rechts in die Chocimska und dann die vierte Querstraße, das ist die ulica Willowa. Biegt man dann nach links ein und fährt noch einhundert Meter, dann findet man rechts an der Ecke eine mehrgeschossige Villa der Vorkriegs zeit und in ihr den Polnischen Ökumenischen Rat. Ich kann mich an keinen Warschaubesuch erinnern, bei dem wir nicht zumindest hier hereingeschaut haben. Informationen über das Verhältnis der Kirche zum Staat oder der nichtkatholischen Kirchen zur übermächtigen katholischen Kirche, hier erhält man sie; meist durch Andrzej Wojtowicz, den ,,Außenminister". Geht es um Organisationsfragen für Hilfstransporte, man kommt an Pfarrer Pavlik nicht vorbei. Für viele andere praktische Hilfen steht ein kleiner Stab zur Verfügung. Sogar übernachten kann man hier bequem in zwei Gästezimmern und zur Not auch auf der Couch im Zimmer des Präsidenten. Liest man das Gästebuch, fühlt man sich unter vielen Bekannten oder auch in guter Gesellschaft, je nachdem.
Doch wer ist eigentlich der Polnische Ökumenische Rat? Wer an Kirche in Polen denkt, denkt gewöhnlich an die katholische Kirche. Das wundert nicht, denn 90% Prozent der Polen gehören der katholischen Kirche an. Der polnische Papst erinnert uns daran immer wieder und auch in aktuellen politischen Fragen wird unser Augenmerk immer wieder auf die katholische Kirche gerichtet. Dabei übersehen wir leicht, daß es neben der Römischkatholischen Kirche noch etwa 30 Kirchen und religiöse Gemeinschaften gibt. Polen ist also auf den zweiten Blick konfessionell keineswegs so einheitlich wie man manchmal meint. Die acht größten dieser anderen Kirchen haben sich nach dem Zweiten Welt krieg zum ,,Polska Rada Ekumeniczna", dem Polnischen Ökumenischen Rat zusammen geschlossen. Aufgabe dieses Rates ist die geistliche Annäherung und der Pflege brüderlicher Beziehungen zwischen allen christlichen Kirchen, aber auch die Unterstützung der Mitgliedskirchen in ihrer Arbeit. So ist der Polnische Ökumenische Rat ein wichtiger Partner für die Kirchen anderer Länder und für alle jene, die materielle Hilfe nach Polen leisten wollen. Auch für den polnischen Staat und die Römischkatholische Kirche ist er ein gemein samer Sprecher der Minderheitskirchen. Mitgliedskirchen des Polnischen Öku menischen Rates sind acht Kirchen von sehr unterschiedlichem Charakter. Deren Zahlen sind dem Buch ,,Neue Bäume pflanzen" von Heidingsfeld und Wojtowicz entnommen, scheinen aber recht wohlwollend bemessen zu sein.
Entsprechend ihrem Bekenntnis nennen die Lutheraner ihre Kirche „Evangelisch Augsburgische Kirche in Polen”. Lutheraner gibt es in Polen seit der Refor mation. Heute sind es noch etwa 100.000. Dabei sind die Mitglieder dieser Kirche heute nur zu einem kleinen Teil deutschstämmig. Ihre Kirche ist eine polnische Kirche mit eigener Tradition.
Die Evangelischreformierte Kirche zählt etwa 4.500 Mitglieder. Auch sie führt ihre Tradition in Polen auf die Reformationszeit zurück. Ihre Gründung verdankt sie unter anderem Johannes a Lasco, der übrigens um 1555 auch in Frankfurt Schutz gesucht und zur Gründung der Deutschreformierten Gemeinde beigetragen hat.
Die Methodistische Kirche verdankt ihr Entstehen im Jahre 1921 einer Mission amerikanicher Methodisten. Heute zählt sie etwa 6.000 Mitglieder.
Wenn man die Kinder der Einfachheit halber mitzählt, hat die Baptisten-Kirche etwa 4.000 Mitglieder. Diese Kirche entstand im Jahre 1858, als ein lutherischer Kantor in der Nähe von Warschau von baptistischen Missionaren getauft wurde, die aus Masuren gekommen waren.
Die Orthodoxe Kirche ist rechtlich selbständig und geht in ihren Anfängen wohl auf die Zeit vor dem Jahre 1000 zurück. Mit ihren rund 650.000 Mit gliedern ist sie die zahlenmäßig stärkste Mitgliedskirche des Ökumenischen Rates.
Die Polnischkatholische Kirche hat ihre Wurzeln wieder in den USA. Hier wurde sie 1897 aus Protest gegen die Unterdrückung des polnischen Elements in der katholischen Kirche gegründet und 1922 nach Polen exportiert. Dort hat sie heute etwa 30.000 Mitglieder.
Die Kirche der Mariaviten hat sich einer besonders intensiven Verehrung von Maria als der „Mutter Gottes der Unablässigen Hilfe" verschrieben. Sie entstand im Jahre 1893 und zählt heute etwa 25.000 Mitglieder.
Ein Zusammenschluß mehrerer Kirchengemeinschaften ist die Vereinigte Evangeliums-Kirche. Sie entstand seit 1947 aus den Evangeliumschristen, den Entschiedenen Christen, den Freien Christen, den Pfingstlern und der Kirche Christi. Sie hat etwa 10.000 Mitglieder.
Diese kurze Aufzählung weist schon darauf hin, daß diese Minderheitskirchen sehr unterschiedliche Vorstellungen vom richtigen Weg der Kirche haben müssen. Gemeinsam ist ihnen neben der schwierigen kirchlichen Situation in einem atheistischen Staat das übermächtige Gegenüber der Römisch- katholischen Kirche. Diesem Staat verdanken sie, daß sie seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges formal die gleichen Rechte wie die katholische Kirche haben. Ihm haben sie auch manches andere zu verdanken, das er ihnen gewährt, weil er sie auch als Gegengewicht gegen die große katholische Kirche benutzen möchte. Mit der katholischen Kirche, zu der hin die Ökumene erst ganz lang sam wächst, haben sie gemeinsam die Abwehrhaltung gegenüber dem Atheis mus. Ihr verdanken sie aber auch manche Errungenschaft (z.B. Rundfunkgottes dienste), die die ,,Solidarität" erkämpft hat. Untereinander sind Theologie und Tradition andererseits so unterschiedlich, daß es nur nahe läge, wenn jede Kirche ihren eigenen Weg ginge. Sicher ist die richtige Politik der Kirche nicht nur innerhalb des Ökumenischen Rates umstritten, sondern auch inner halb der einzelnen Kirchen. Um so bemerkenswerter ist es, daß der Ökumenische Rat nun bald vierzig Jahre besteht und in dieser Zeit unter dem Druck von außen manche Belastungsprobe ausgehalten hat.
Betet für uns!
Im Laufe des Jahres 1981 hatte sich die Versorgungslage in Polen drastisch verschlechtert. Sicher war es schon im Dezember 1980 deprimierend zu sehen, wie wenig Ware in den Warschauer Geschäften war, aber in den darauffolgenden Monaten war es immer noch weiter bergab gegangen. Im Herbst 1981 schließlich war deutlich, den Polen mußte mit Lebensmitteln, Medikamenten und Kleidung von außen geholfen werden. So stellten wir Anfang Dezember auch im Regional verband Frankfurt am Main einen kleinen Hilfstransport zusammen. Mit zwei Lastern (7,5 to) und einem VW-Bus sollten 250 Pakete gleichen Inhalts zu 20 kg, 180 Pakete von Familien in Bad Homburg und Glashütten, die Medikamentenspende eines Krankenhauses und eine Medikamentensendung von ,,Zeichen der Hoffnung" nach Warschau gebracht werden. Die Empfänger: eine kleine lutherische Kirchengemeinde in Warschau, die lutherische Kirchengemeinde in Zoppot, eine Herzklinik in Warschau und einzelne polnische Familien.
Mit neun Mann Besatzung ging es schließlich am 10. Dezember 1981 in Frankfurt los. Rund 24 Stunden Fahrt lagen vor uns. Aber schon in Marienborn gab es die erste unangenehme Überraschung. Die Veterinärverwaltung der DDR verlangte für die mitgeführten Fleisch- und Wurstwaren (Dosen, Dauerwurst) eine veterinärärztliche Bescheinigung, daß diese Waren nicht von seuchenbe hafteten Tieren oder aus Seuchengebieten stammten. Davon war uns nichts bekannt gewesen, und wir sind auch bei keiner weiteren Fahrt nach dieser Bescheinigung gefragt worden. Und wie soll man eine solche Bescheinigung für jugoslawisches Dosenfleisch beschaffen? Guter Rat war teuer. Entgegen der Einbahnstraßenregelung und unkontrolliert vorbei an allen Posten durfte der VW-Bus zurück nach Westen fahren. Der Amtstierarzt der Bundesrepublik war die Hoffnung. Obwohl die Dienstzeit um 22.30 Uhr bereits beendet war, gelang es, ihn ausfindig zu machen. Wegen eines Tiertransportes aus dem Ostblock war er noch einmal an seinen Arbeitsplatz zurückgekehrt. Doch der liebe Herr Dr. med. vet. lehnte es ab, die gewünschte Bescheinigung auszustellen. Schließ lich könne er ja nicht wissen, ob nicht in den letzten Tagen in Frankfurt ein Seuchenfall aufgetreten sei. Immerhin empfahl er den Notdienst einer Spedi tion, der ja vielleicht eine telefonische Auskunft aus Frankfurt einholen könne. Angesichts der Situation und der fortgeschrittenen Tageszeit erschien das allerdings eher als Hohn. Während die Lkw-Besatzungen abseits der auf Abfertigung wartenden Schlange von Lkws bei klirrender Kälte warteten, versuchten Joachim Meier und ich mit dem helfenden Engel der Kraftfahrer klarzukommen. Aber dessen Hilfsbereitschaft blieb ohne Erfolg. Da tauchte plötzlich der Tierarzt wieder auf, zierte sich noch etwas, ließ sich sagen, was man eigentlich von einem Beamten des eigenen Landes erwartete und zog die vorbereitete Bescheinigung aus der Tasche. Ende gut, alles gut. Aber ich habe mich doch gefragt, wie es möglich sein kann. daß Ost und West hier im Schikanieren von Hilfstransporten nach Polen so gut zusammen arbeiten.
Die Abfertigung durch den DDR-Zoll war dann nur noch eine Frage der Zeit: grünes Formular ausfüllen (wissen sie, wie viel Gramm oder Stück Dosenwurst sie bei einer bekannten Zahl von Paketen im Wagen haben?); warten; auf der Rampe anstellen; warten; sehen, wie die kommerziellen Transporte bevor zugt abgefertigt werden; warten; zusehen, wie die Franzosen vor uns (wir trafen sie am nächsten Tag freudig in der Warschauer Altstadt wieder) schikaniert werden, weil sie angegeben hatten, ihr Wagen habe hinten drei Türen (Zöllner: ,,Willst mir wohl verscheißern, wat? Det jibts doch janich.”); er hatte aber tatsächlich drei; noch einmal warten; und dann waren wir auch abgefertigt. Endlich ging es nach fast fünf Stunden Grenzaufenthalt gen Osten. Geradezu erholsam war die Grenzkontrolle in Frankfurt an der Oder. Hier hatten wir nur dem polnischen Zöllner eine „Kopfprämie” in Form von Ziga retten, Schokolade oder Bier zu entrichten; mußten hinnehmen, daß die Begleitpapiere vertauscht wurden und die Pässe verwechselt wurden und waren nach einer Stunde abgefertigt. 480 km bis Warschau auf schneebedeckten Straßen und bei morgendlichem Nebel erforderten zwar Konzentration, waren aber gut zu bewältigen. Unterwegs in den Ortschaften waren die Bilder zu sehen, die ich von früheren Besuchen kannte: Schlangen vor den Geschäften und Tankstellen, ansonsten normaler Alltag. Immer war Tanken auch ohne langes Warten möglich. Außerhalb der Ortschaften auch das übliche Bild der vielen Fußgänger, die, Schulkinder, Berufstätige und Omas auf dem Weg zum Einkauf, von den abseits gelegenen Gehöften und Dörfern der Hauptstraße zustrebten, um dort mit dem Überlandbus ihr Ziel zu erreichen.
Nach insgesamt 24 Stunden Fahrt waren wir in Warschau. Die Begrüßung im lutherischen Konsistorium bei einem Glas Tee war freundlich, wenn auch für manchen von uns sehr zurückhaltend. Insbesondere Pfarrer Wittenberg, der Empfänger der einen Hälfte der Sendung, stand dem, was ihm begegnete, scheinbar völlig hilflos gegenüber. Mit Hilfe einiger Theologiestudenten wurde die Fracht schließlich noch abgeladen. Todmüde, wenn auch in einer zwischen Enttäuschung wegen des Empfangs und großer Erleichterung und Freude schwankenden Stimmung fuhren wir zum Hotel Solec. Wider Erwarten gab es ein gutes Essen, wenn auch nur ein Teil der auf der Menükarte aufgeführten Sachen zu bekommen war. Bei weißem Barscht, einem Stückchen Ente, Wodka und Bier konnte man es sich schon gut gehen lassen. Anders sah es am nächsten Tag bei einem Bummel durch die Stadt aus. Zwar hatte nur ein Teil der Geschäfte geöffnet, weil ein Streik angesagt war. Doch, was wir sahen, war deprimierend. Im Gegensatz noch zum Frühjahr des gleichen Jahres waren alle Geschäfte fast ohne Ware. Nur Bücher und Schallplatten waren vorrätig. Auch heute will mir nicht aus der Erinnerung der Eindruck, den das Cepelia-Geschäft an der Nord-Ost-Seite des Rynek auf mich machte. Bei früheren Besuchen in Warschau hatte ich hier gerne Volkskunstartikel gekauft. Noch im Mai war es voller Ware gewesen: Stoffe, Tonartikel und vor allem handgeschnitzte Holzfiguren in Auswahl. Jetzt sah es aus wie am letzten Tag eines Totalausverkaufs, und die Verkäuferinnen kamen einem richtig verloren vor den leeren Regalen vor. Doch es gab auch andere Erlebnisse an diesem Ruhetag. Küster Schatta von der Weißfrauengemeinde hatte seine masurische Heimat seit 41 Jahren nicht mehr gesehen. Mit Hilfe eines Taxifahrers und eines 100 DM-Scheines gelang ihm ein Abstecher nach Norden. Schatta fuhr die 300 km in 4 Stunden, hielt sich zweieinhalb Stunden bei Verwandten auf und war am Abend wieder da: glücklich und mit dem Eindruck, daß es den Leuten da oben schlechter ginge als den Warschauern.
Am nächsten Tag, dem 13. Dezember 1981 sollte es wieder nach Haus gehen. Nur Peter Lukas, unser bewährter Dolmetscher, wollte weiter nach Süden, um eine Taufe bei Verwandten zu feiern. Er war es schließlich auch, der uns am nächsten Tag beim Frühstück die Hiobsbotschaft überbrachte, daß das Kriegsrecht ausgerufen worden sei. Nachrichten gab es keine. Das Telefon war außer Betrieb. Nur Radio und Fernsehen sendeten stereotyp die Erklärung der Militärs von Mitternacht. Was die Ausrufung des Kriegsrechts für uns bedeuten würde, wußten wir nicht. Nur eines war uns klar: die Lage war wesentlich ernster geworden und eine reibungslose Rückfahrt alles andere als selbstverständlich. Nun rächte sich auch, daß wir die Lkw's aus Sicherheitsgründen auf dem Grundstück der Kirchengemeinde abgestellt hatten. Um dorthin zu gelangen, mußten wir durch das Botschaftsviertel, das zwar nicht abgesperrt war, in dem jedoch an jeder Straßenecke Militär stand und uns nicht gerne durchließ. Andererseits hatten wir aber auch an der Weichsel Panzerfahrzeuge gesehen, so daß uns das Kontrolliertwerden hier immer noch das kleinere Übel zu sein schien. Aber auch jenseits des Botschaftsviertels war es nicht einfacher. Das Kirchengrundstück, auf dem unsere Fahrzeuge standen, liegt unmittelbar neben einer Milizkaserne. Was uns zwei Tage vorher als besonderer Schutz erschienen war, zeigte sich jetzt als Hindernis: denn mit dem Auto war nicht ans Ziel zu kommen. Immerhin gelang es trotz gewisser Verständnisschwierigkeiten schließlich, die Lkw's herauszuholen und gemeinsam die Rückfahrt anzutreten. Sie führte zunächst durch ganz friedliche Warschauer Stadtviertel, wo die Frauen nach Milch anstanden, die Männer vor dem Fußballplatz warteten und weder Militär noch Polizei zu sehen war. Nur in einem Industrieviertel konnte man mehrfach Ansammlungen diskutierender Männer vor den Betrieben sehen.
Die Route sollte so schnell wie möglich aus Warschau herausführen. Und da wir uns auch nach verfahren hatten, befanden wir uns schließlich auf der Straße nach Lodz. Auch hier sonntägliche Ruhe. Sogar ausgiebiges Tanken war an einer Tankstelle auf dem Lande ohne langes Warten möglich. Doch dann bogen wir nach Nord-Westen ab und erreichten die Europastraße 8, die von Warschau über Posen nach Frankfurt/Oder führt. Hier wurde uns der Ernst der Lage wieder deutlich. Auf einer Strecke von fast 400 km bestand der Gegenverkehr überwiegend aus Panzern, Panzerspähwagen, Militärlastwagen, Artilleriegeschützen, Pontonfahrzeugen usw. Daß trotzdem dazwischen die kleinen Privatwagen fuhren, keine Kontrollen durchgeführt wurden und der Verkehr kaum geregelt wurde, gab dem Ganzen bei allem Lärm und dem Schrecken einflößenden Anblick doch wieder einen friedlichen Anstrich. Alles wirkte mehr wie ein großes Manöver, weniger wie der Ernstfall. Natürlich war die Fahrt anstrengend. Ich glaube, ich bin noch nie so konzentriert Auto gefahren, wie in jenen Stunden. Schnee auf der Straße; Schneetreiben in der Luft; später Dunkelheit; eine Straße, die teilweise nur die Breite einer normalen Landstraße hat; liegengebliebene Militärfahrzeuge; kaum ein Panzer beleuchtet; die ruckhaften Richtungsänderungen der Panzer, wenn sie an einem Havaristen vorbeifuhren und man meinte, sie würden einen gleich in den Straßengraben drücken; die Straße, eine schneebedeckte Rollbahn durch den Wald; Schneeflocken, die im Scheinwerferlicht wie Lichtstrahlen auf einen zukamen und einem die Orientierung nahmen. Dies alles war für mich, zusammen mit dem Warten in der Kälte an der Grenze, fortan der Inbegriff von polnischem Winter.
Etwas Aufregung gar es noch einmal an der Grenze, weil es hier zunächst so aussah, als ob überhaupt nicht abgefertigt würde. Aber dann wurde der VW-Bus mit Gerd Müller, Peter Lukas und mir doch schnell abgefertigt. Aus dem warmen Zollgebäude durften wir mit ansehen, wie die anderen im Freien Schlange standen und immer gereizter wurden; Friedrich Karl Barth, Berthold Larbig, Peter Lukas, Dieter Malo, Joachim Meier und Kurt Schatta. Und als dann schließlich noch die Abfertigung für eine halbe Stunde unterbrochen wurde, weil die Zöllnerinnen eine Kaffeepause einlegten, da drohten selbst dem Ruhigsten die Nerven durchzugehen. Nun, sie taten es nicht und nach vier langen Stunden waren wir schließlich wieder in der DDR. Nur dieses eine Mal war ich froh, Polen hinter mir zu haben. Im Gegensatz zu sonstigen Fällen hatte ich hier das Gefühl einer relativen Sicherheit.
Doch Überraschungen folgten auch in der Heimat. Schon unterwegs erschienen uns die Radiomeldungen verzerrt, jedenfalls gemessen an dem, was wir erlebt hatten. Mit einem wahren Hohngelächter reagierten wir dann aber auf die Berichte der Bildzeitung, die wir in der Raststätte Seesen zu Gesicht bekamen. Hätte die Bildzeitung Recht gehabt, hätten wir jetzt gar nicht in der Bundesrepublik sein können. Auch die Hessenschau zeigte sich später von keiner besseren Seite. Hatte sie schon am Morgen Mitarbeiter des Regionalverbandes mit nahezu erpresserischen Methoden ausgefragt, so ließ man mir nicht einmal die Zeit zum Duschen. Ähnlich ging es Friedrich Karl Barth. Einige Sätze von ihm wurden schließlich gebracht, aber nicht das, was wir über unsere Begegnungen in Polen erzählt hatten, sondern das Militärisch-Sensationelle. Ich jedenfalls mußte an ,,Das Schicksal der Katharina Blum" denken. Hatten mich der deutsche Tierarzt und ,,unser" Fernsehen wirklich so anders behandelt als der Zöllner des Nachbarstaates oder der polnische Milizionär den einzelnen Polen? Diente der einzelne Mensch mit dem Wunsch nach seiner kleinen Freiheit dort als Objekt zur Aufrechterhaltung eines unfähigen Regierungssystems, so war er hier offensichtlich das Objekt, das der sensationsgierige Journalist braucht, um auf seine Weise Meinungsbildung zu betreiben.
Zwei Worte aus Warschau klingen noch nach. So sagte der Gemeindepfarrer Wittenberg, als es sich für die Waren bedankte, wir sollten nicht denken, die Situation in Polen sei auf die Faulheit der Polen zurückzuführen. Ein wenig verschlüsselt wollte er vielmehr zum Ausdruck bringen, daß man sich gegen ein abgewirtschaftetes politisches System gewehrt hätte und deshalb nun die Hilfe anderer brauchten. Das letzte, was wir am Sonntagmorgen von Pfarrer Pavlik, unserem Kontaktmann beim Polnischen Ökumenischen Rat, hörten, ging noch mehr unter die Haut. Er, der in manch anderer schwierigen Situation stets souverän geblieben war, sagte mit Tränen in den Augen: "Jetzt hilft nur noch beten. Betet für uns!" Mit einem Fürbittegebet zu den weihnachtlichen Gottesdiensten haben wir dieser Bitte entsprochen.
,,....und der Glaube unter den Heidenvölkern verbreitet wurde.”
Man sollte nicht bei schönem Wetter zur Marienburg kommen. Gewitterstimmung oder Regenwetter mit dunklen Wolken und gelegentlichen Schauern sind angemessener. Dann treten bei der Fahrt durch die Weichselniederung die Farben der Landschaft stärker hervor. Dann wirkt die Marienburg auch heute noch so mächtig und unheimlich, wie sie in ihren großen Tagen auf die einfachen Leute gewirkt haben muß. Dann spürt man noch etwas von dem Mystischen, mit dem frühere Generationen die Vergangenheit, Ruhm und Heldentaten, das Ostland umgeben haben. Nicht, um es nun ebenso zu tun, sondern um zu verstehen, welche Aura der Verehrung diese Burg und den Deutschen Ritterorden in früheren Zeiten umgab. Aber auch um zu verstehen, welcher Haß ihnen von den Unterjochten entgegenschlug und wie die Polen noch heute von den Erfahrungen mit diesem ersten preußischen Staatswesen in ihrer Nachbarschaft leben; wie sie schon immer von daher ihre Geschichte mit uns interpretieren und uns sehen.
Mit der Bekehrung der Heiden fing alles an. Polen, erst einmal selbst christiani siert, trug das Christentum weiter nach Osten. Doch das hatte seine Schwierig keiten. Die Pruzzen im Nord-Osten wollten nicht so wie die Polen. Sie wollten sich nicht bekehren lassen. Nach vergeblichen Kämpfen holte deshalb 1225 Herzog Konrad von Masowien den ,,Orden der Brüder vom Hause des Sankt- Marien-Hospitals der Deutschen zu Jerusalem", kurz den Deutschen Ritter orden, zur Hilfe. Die Verbreitung des Glaubens unter den Heiden war das Ziel. Unter dem Schutz von Kaiser und Papst baute der Hochmeister des Ordens, Herrmann von Salza, nun aber ein straff organisiertes von Polen unabhängiges Staatswesen auf. Zunächst gab es freundliche Nähe und gute Nachbarschaft zwischen dem Ordensstaat und Polen. Auseinandersetzungen aber begannen um 1300, als es Erbstreitigkeiten wegen Pommerellen gab. Brandenburg, der Orden und Herzog Lokietek von Großpolen waren an diesem Land interessiert. Hatte es doch an der Weichselmündung eine Schlüsselstellung inne. Der Orden setzte sich durch. Im Jahre 1320 verzichtete Kasimir der Große im Vertrag von Kalisch offiziell auf Pommerellen. Ihm brachte das einen freien Rücken und die Möglichkeit, nach Rußland zu expandieren. Aus dem gleichen Grunde gab es auch keine Probleme, als Schlesien an Böhmen fiel. Kasimir betrieb nach Westen eine Friedenspolitik und begründete die Blütezeit Polens. 100 Jahre später, um 1400, verbündete sich das erstarkte Polen mit Litauen. Nun war man eindeutig stärker als der Orden. Die Konflikte häuften sich, denn Polen hatte inzwischen gemerkt, wie gefährlich der starke Nachbar im Norden werden könnte. Im Jahre 1410 kam es dann zur Schlacht bei Tannenberg, wie wir sagen, bei Grunwald, wie die Polen sagen. Eigentlich war sie militärisch gar nicht so bedeutend, wie sie später im 19. und 20. Jahrhundert gesehen wurde. Aber sie war der Beginn des Niedergangs des Ordens. 1466, im Frieden von Thorn, verlor der Orden schließlich den größten Teil seiner Gebiete. Als Lehen des Polenkönigs wurde Preußen ein erbliches Herzogtum. Die Ordens geschichte dort oben war damit im wesentlichen abgeschlossen. Aber die Er fahrungen mit dem Ordensstaat blieben ein Trauma für Polen. Diese Er fahrungen wurden in Zukunft auf die Deutschen übertragen.
Für 150 Jahre war Polen nun eine europäische Großmacht, deren Reich bis nach Moskau und an das Schwarze Meer reichte. Der Sieg Polens über den Orden war aber nicht denkbar ohne die starke finanzielle Hilfe Danzigs. Dabei ist Danzig ein schönes Beispiel für das gutnachbarliche Nebeneinander von Deutschen und Slawen im Osten. Im Zuge der Christianisierung des Ostens war es 997 gegründet worden und hatte eine weitgehend deutsche Bevölkerung. Zwar war es Mitglied der Hanse, aber auch stark vom Orden abhängig. Trotzdem war es der polnische Seehafen. Zusammen mit Elbing, Thorn und anderen Städten verfolgte es seine Unabhängigkeit vom Orden. Deshalb finden wir es dann an der Seite Polens gegen den Orden. Nach dessen Niederlage ließ es sich seine Unabhängigkeit von Polen verbriefen. Der Reichtum Danzigs wurde sprichwörtlich. War es doch die Drehscheibe für den Export Polens, vor allem an Holz und Getreide. Es vermittelte den Handel nach Nowgorod oder Flandern oder mit den italienischen Städten. Polen brachte es dabei Kultur und Lebensweise und sich selbst manches Stück für die herrlichen Bürgerhäuser. Danzig war ein Bindeglied zwischen Deutschen und Polen. Ein Zankapfel wurde es erst nach dem Ersten Weltkrieg.
Auch heute spürt man noch etwas von der früheren Bedeutung dieser Kaufmannsstadt. Aber auch für das heutige Polen ist es von Wichtigkeit. Symbol dafür ist das mächtige Denkmal aus den drei Kreuzen, das vor den Werfttoren in Danzig steht. Die Polen verstehen es, die Erinnerung an historische Ereignisse wach zuhalten. Eigentlich kann man in Polen sein, wann man will, man wird es immer miterleben, daß irgendwelcher historischer Ereignisse gedacht wird. Da sind nicht nur die offiziellen staatlichen Feiertage, die verschiedenen Verfassungstage, sondern da erinnert man sich auch vieler Niederlagen, in die die Versuche, Unabhängigkeit zu gewinnen, mündeten. An was nicht alles zu denken ist: an den November-Aufstand gegen Rußland in den Jahren 1830/31, der mit verschärfter Unterdrückung geahndet wurde; an die Unruhen in Krakau im Jahre 1846, die zur Besetzung Krakaus durch Österreich führten; an die Aufstände gegen Preußen im Jahre 1848; an die Revolution in Russisch-Polen in den Jahren 1863/64; an die Unabhängigkeit 1918; an die Gründung des sozialistischen Staates 1945; an die Unruhen von 1956, die zu einem Tauwetter führten; an die Studentendemonstrationen des Jahres 1968; an den Arbeiteraufstand in den Ostseestädten von 1970; an den Aufbruch von 1980 und die Ausrufung des Kriegsrechts, ,,den Krieg", von 1981.
So manche dieser Erinnerungen werden zur Zeit in Danzig besonders gepflegt. Das Denkmal vor der Werft zieht immer wieder Menschen an, zum Erinnern, zum Niederlegen von Blumen oder auch zum Versuch von Demonstrationen. Mich erinnert es an den 1. Mai 1981. Mit einer Reisegruppe hielten wir uns in Danzig auf. Alles lebte in der Euphorie der Erfolge der ,,Solidarität". Undenk bares war möglich. Es gab einen 1.Mai, einen Tag der Arbeit, in einem soziali stischen Staat ohne Militärparaden. Die wurden im Fernsehen nur aus anderen Ländern übertragen. Und es gab eine Vereinbarung zwischen Regierung und ,,Solidarität", daß an diesem und den folgenden Tagen kein Alkohol verkauft würde, weil man gemeinsam die politischen Ausschreitungen von Angetrunkenen fürchtete. In der Danziger Innenstadt war bei frischem Wind ein familiäres Treiben, wie wir es an solchen Feiertagen bei uns kennen. Deutlicher konnte man die Abwendung der Polen von dem, was im Ostblock üblich ist, nicht vor Augen gehalten bekommen. Die Konsequenzen dieses Denkens und Handelns sind bekannt. Polen war und ist so etwas wie ein Puffer zwischen Ost und West: kulturell, religiös aber auch im politischen Denken. Blickt man auf die Vergangenheit und die vielen vergeblichen Bemühungen um die Wiederherstellung der eigenen Staatlichkeit, dann war es sicher die bedeutendste politische Tat Polens, daß es nach 1918 die Eigenstaatlichkeit wiedergewann. Mit Friedrich Sieburg (,,Polen. Legende und Wirklichkeit" 1934) meine ich aber, daß es einer noch größeren geistigen Tat bedurfte: die polnische Sache zu einer Angelegenheit der politischen Moral zu machen, der zufolge die Völker die Pflicht hatten, das diesem Land angetane Unrecht wieder gut zu machen. Mir scheint, Polen hat das nach dem Zweiten Weltkrieg wieder fertig bekommen und ist auch jetzt tüchtig dabei, der Welt das schlechte Gewissen wieder zu vermitteln.
Als ,,wir” die Russen aufgehalten haben
September 1976. Ein schöner warmer Herbsttag. Grenzübergang Frankfurt/Oder. Wir sind auf der Rückfahrt von einer Studienreise durch Polen. Der Bus ist eigentlich schon abgefertigt. Nur der Busfahrer hat noch einige Formalitäten zu erledigen. So dürfen wir Fahrgäste uns schon auf dem kleinen Parkplatz hoch über der Oder aufhalten. Ich stehe am Geländer und sehe mir die Gegend an. Da tritt neben mich ein DDR-Grenzer. Wir wechseln ein paar Worte: woher? - wohin? Wie das so geht. Daß er aus Frankfurt an der Oder kommt und ich aus Frankfurt am Main, gibt Gesprächsstoff. Dabei lassen wir beide unsere Augen schweifen. Nach Süden auf die nichtkanalisierte Oder mit ihren Buhnen und den sandigen Ausbuchtungen. Jeden Augenblick könnte Jochen Kleppers ,,Kahn der fröhlichen Leute" um die Biegung kommen. Mein Nachbar erzählt mir, wie schön man hier im Sommer baden kann. Ich wundere mich, daß das Wasser so sauber ist. Als ich erzähle, daß der Main so schmutzig ist, daß man dort schon seit etlichen Jahren nicht mehr baden kann, wundert sich der Frankfurter und mag es gar nicht glauben. Wir sehen nach Norden. Mich wundert, daß keine Schiffe zu sehen sind. Wir sehen einen Vorort von Frankfurt, mit modernen Mietshäusern auf einer Anhöhe. Und in der Ferne im Dunst verschwindend, einen Höhenrücken. Ich frage wie er heißt. „Die Seelower Höhen. Wissense, die, wo wir 45 die Russen aufgehalten haben". Richtig, das weiß ich, was damals da passiert ist. Aber daß mir das in einer Ost und West so verbindenden Form ins Gedächtnis zurückgerufen wird, das verschlägt mir doch die Sprache. Und zu meinem Bild von einem Wächter der DDR-Grenze paßt es überhaupt nicht.
Wenig später erlebe ich noch mehr Verbindendes. Wir sind wieder in den Bus eingestiegen und haben langsam die Oderbrücke überquert. Da stehen ein paar niedrige Baracken und ein Halte-Schild. Über die Straße ist eine desin fizierende Filzmatte ausgebreitet. Vor ihr müssen wir den Bus verlassen; müssen unsere Hände in eine Waschschüssel mit dunkelgrüner Desinfizierlösung stecken, dürfen sie anschließend in einer ebensolchen mit inzwischen ebenfalls graugrünem Wasser reinigen und dann, über den Filz gehend, unseren Bus wieder besteigen. Maul- und Klauenseuche war nämlich in Polen ausgebrochen und die DDR versuchte, sich so zu schützen. Höchst penibel, wie das in Deutschland so ist, aber mit unzureichenden technischen Mitteln, wie das in der DDR so ist. Übrigens behaupten böse Zungen, es wäre weniger um den Maul- und Klauenseuche-Bazillus gegangen als vielmehr um den „virus poloniensis” (schon damals).