Die Telschows

Geschichte und Geschichten der Familie Telschow

Stand: März 2005

 

 

I n h a l t

I. Vom Land der Ahnen

Das Land der Ahnen mit der Seele suchend

Drei Klöster

Theodor Fontane: Meine Gräber

Unsere Gräber

II. Die Telschows

Anfang April 1983

Ein kleines Dorf am Ende der Welt: Pfalzheim

Büdner und Musketier in Pfalzheim: Joachim Christian Telschow

Sommer 1983

Bauer in Pfalzheim: Carl Caspar Telschow

Andere Telschows in Pfalzheim

24. Juli 1985

Ein Dorf Namens Telschow

Theodor Fontane: Die Wenden in der Mark

Altruppin und Neuruppin

21. Mai 1990

Die Wende in der Mark

Der Überfall auf der Landstraße: Friedrich Telschow

Theodor Fontane: Die Ruppiner Schweiz

Der alte Dorfkrug

Die weise Frau: Henriette Telschow

Zehlendorf

Mir sind alle Lieder lieb: Otto Telschow

Theodor Fontane: Gruß

Mai 1990

Zerstörte Träume: Annemarie Dietze

Vermißt im Osten: Rudolf Dietze

Märkische Heide

Teltow

Bürger und Weber: Johann Gottlob Bieber

Mein Urahn, der Weber

Landbriefträger im Grunewald: Carl Albert Bieber

III. Die Schweizer

Anfang August 1989

Die Schweizer Auswanderung in die Mark

Der erste Schweizer Kolonist: Hans Schneider

Peter Huchel: Die wendische Heide

Schulze in Storbeck: Christian Moser

Bitten und Beschwerden: Christan Mosers Amtszeit

Die Storbecker Schweizer-Kolonie

11. Mai 1991

IV. Die Bömbös

Milchkutscher in Berlin: Friedrich Bömbös

Die viel Geliebte: Ernestine Bömbös

Arbeiter am Wedding: Karl Bömbös

Die „Edelkommunistin": Agnes Bömbös

Tante „Änne": Anna Fenske

Architekt und Künstler: Alfred Fenske

Giesensdorf

Letzte Ruhe auf dem jüdischen Friedhof: Frieda Prausnitzer

Die Französin: Milly Roth

Xions

September 1992

Häftling im KZ Sachsenhausen: Paul Schlafke

Das Konzentrationslager Sachsenhausen

Opfer der „Euthanasie": Karl Schlafke

Auf der Suche nach dem Sinn des Lebens: Wolfgang Fröbrich

V. Abschluß

Hans Carossa: Der alte Brunnen

I. Vom Land der Ahnen

Das Land der Ahnen mit der Seele suchend.

Die älteren Telschows, die ich kannte, hatten alle, wie man so sagt, Redewasser getrunken. Ja, vielleicht waren sie mit ihm sogar getauft worden. Jedenfalls redeten sie gerne, wenn auch jeder auf seine Weise. So bin ich in einer Familie aufgewachsen, in der immer viel geredet wurde. Großvater Otto Telschow war sehr kontaktfreudig und ein begnadeter Erzähler. Gerne und viel erzählte er vor allem aus seinen jüngeren Jahren, von der Ruppiner Schweiz, vom Binenbach und so weiter. Wie gerne hätte er das noch einmal gesehen. Aber das war dem Westberliner in den fünfziger und sechziger Jahren nicht möglich. Doch etwas von dieser Sehnsucht nach der Heimat der Vorfahren gab er mir mit. Seine drei Kinder waren die ollen Kamellen bald leid und mochten nicht mehr zuhören. Seit den fünfziger Jahren aber kam er einmal in der Woche zu seiner Schwiegertochter Charlotte Kaffeetrinken, und dann konnte er frei erzählen, wobei sich natürlich auch vieles wiederholte. Charlotte hörte ihm nicht nur geduldig zu, sondern tat das auch gerne. Sie liebte solche alten Geschichten und genoß Wilhelm Raabes „Chronik aus der Sperlingsgasse" oder Fontanes Romane. Manches erfuhr und behielt auch ich dabei. Vater Fritz belehrte von Kindheitsbeinen an gerne, redete gerne (wie gerne wäre er Pfarrer geworden) und diskutierte leidenschaftlich gerne. In jüngeren Jahren war kein Mensch in seinem Umfeld davor sicher, von ihm zu erfahren, wie er sein Leben besser führen oder besser planen müsse. Bis zum Tode seiner Frau schrieb er auch viel, manches ist erhalten. Und er diskutierte gerne und heftig über Gott und die Welt. Da er dabei stets sehr idealistische und manchmal auch unrealistische Vorstellungen pflegte, geriet er schnell in heftige Diskussionen mit Zeitgenossen, die die Welt etwas nüchterner sahen. Außenstehende empfanden das als Streit. Aber das war es nicht, übel nahm er auch nie. Seine Schwester Annemarie wiederum brachte es fertig, im Alter sehr plastisch ihre Kindheits- und Lebenserinnerungen aufzuschreiben und dabei manches von ihren Eltern zu erzählen. Ich nun trinke statt des Redewassers lieber ein kühles Pils oder einen badischen Wein (weiß und rot). Auch bin ich mit Jordanwasser getauft, also eigentlich unverdächtig. Aber mein Erbe leugnen kann ich auch nicht. Und so will ich im folgenden erzählend (und belehrend?) von unserer Familie berichten.

Hierfür ergibt sich eine besondere Konstellation. Natürlich profitiere ich von den Nachforschungen, die Otto und Fritz einst angestellt haben, und von dem, was von den Vorgängern und -innen hinterlassen wurde. Angefangen hatte meine Beschäftigung mit der Familiengeschichte um 1980 herum, als ich vom Vater ein Paket mit Familienunterlagen erhalten hatte. Irgendwann hatte ich es dann aufgemacht und festgestellt, daß es außer alten Bildern auch die Dokumente enthielt, die Großvater und Vater in den dreißiger Jahren, als Ahnenforschung hoch im Kurs stand, zusammengetragen hatten. Ich hatte mich dann an die Auswertung gemacht, einen Stammbaum und eine Ahnentafel entworfen. Von Onkel Herbert Bömbös hatte ich mir noch Unterlagen der Familie Bömbös besorgt, und heraus war eine bebilderte Familienchronik gekommen. Allerdings endete oder begann sie um das Jahr 1780. Da war Schluß mit den Unterlagen. Die ältesten uns damals bekannten Telschows waren Joachim Telschow und seine Frau Luise geb. Moser.

Meine eigene Suche nach der Heimat der Familie hatte noch in der DDR-Zeit begonnen und während und nach der Wende neue Möglichkeiten und besondere Ergebnisse gebracht. Hatten wir doch nun, zunächst nur beschränkt und dann frei, in die alte Heimat fahren können. Wir hatten es getan, auch mit unseren Kindern. Was wir dabei erlebt haben, ist auch ein Stück Geschichte. Deshalb bewegen wir uns im folgenden auf zwei Ebenen. Ich erzähle einerseits von unseren Erlebnissen und andererseits von dem, was weiter zurückliegt. Letzteres besteht aus schriftlichen oder mündlichen Überlieferung und aus dem Drumherum, das die Lebensverhältnisse unserer Vorfahren verstehen hilft.

Drei Klöster

Durch die Mark Brandenburg zu streifen, ohne immer wieder auf die Siedlungsge­schichte dieses Landes gestoßen zu werden, fällt schwer. Lassen wir einmal die immer wieder umstrittenen Fragen der slawischen und germanischen Besiedlung beiseite und schauen wir nur auf das hohe Mittelalter, die Zeit der sogenannten deutschen Ostkolonisation. Da wurde die Mark ja in langsamen Schritten von der Ostgrenze des Deutschen Reiches an der Elbe her besetzt. Offenbar geschah dies teilweise so, daß aus dabei gewachsenen Ortschaften wieder Siedler weiter nach Osten zogen, den Namen des Herkunftsortes mitnahmen und ihn wieder der neuen Siedlung gaben. Auch in der Geschichte unserer Familie und den dabei vor­kommenden Ortsnamen gibt es dafür Beispiele. So Storbeck. Weiter westlich in der Perleberger Gegend bei Groß-Leppin gibt es Storbecks Hof. Vermutlich wurde das Ruppiner Storbeck bei der Besiedlung im hohen Mittelalter von hier aus gegründet. Südlich von Berlin gibt es Groß-Ziethen und Klein-Ziethen, ebenso in der Uckermark. Das gleiche gilt für den Ortsnamen Lichterfelde. Viele an­dere Beispiele gerade von Ortsnamen aus dem Fläming und der Uckermark kann man beim Studium der Landkarte finden. Für die Besiedlung der Mark haben aber auch die Klöster eine besondere Rolle gespielt. Vor allem der Zisterzienser-Orden mit seinem Wahlspruch ,,ora et labora" hatte eine herausragende Rolle. Drei Klöster, in deren Umgebung unsere Familiengeschichte spielt, seien deshalb in Erinnerung gerufen.

Das im Jahre 1246 gegründete Dominikanerkloster in Neuruppin war zwar nicht das erste, aber bis zur Reformation wegen seiner wissenschaftlichen Arbeit und als Pflegestätte der Mystik für die ganze Mark bedeutend. Wer sich heute Neuruppin von Süden nähert, sieht schon von weitem die beiden mächtigen Türme der ehema­ligen Klosterkirche, die allerdings erst im Jahre 1906 hinzugefügt wurden. Heute wird die Kirche anstelle der nach dem Krieg verfallenenund jetzt in der Restaurierung befindlichen Pfarrkirche als evangelische Gemeindekirche genutzt. Otto Telschow, der ja einen Teil seiner Jugend in Altruppin verbrachte, er­zählte allerdings noch von der alten Pfarrkirche; z.B. davon, wie ihm im eisigen Win­ter, als er beim Gottesdienst auf der Empore saß, die Stiefel von den kalten Füßen fielen. Den mißbilligenden Blick des in seiner Predigt gestörten Pfarrers hatte er noch im hohen Alter vor Augen.

Etwas älter war die Zisterzienser-Abtei Lehnin, die erste Niederlassung dieses Or­dens in der Mark. Riesiger Landbesitz und die politische Bedeutung seiner Äbte ließen sie in die Geschichte des ausgehenden Mittelalters eingehen. Dann wurde das Kloster immer stärker in Auseinandersetzungen mit dem benachbarten Adel gezo­gen, verlor dadurch an Gewicht, und wurde schließlich in der Reformationszeit sä­kularisiert. Es verfiel und wurde erst ab 1870 restauriert. In seinem Roman „Vor dem Sturm" schildert Fontane einen Ausflug mit Gelage in der Klosterruine an­schaulich. Inzwischen ist dort ein Diakoniewerk beheimatet. Kommt man heute nach Lehnin, sollte der Weg schon zur Kirche im Stil der Backsteingotik führen. Winters wie Sommers kontrastieren die warmen Farben des Gesteins mit der kal­ten, ja eisigen Luft. Vielleicht hat man auch das Glück, dort musikalisch überrascht zu werden und dann die herrliche Akustik genießen zu können. Bei einem Besuch standen Bärbel und ich in der Kirche, als wir plötzlich vielstimmige Flötenmusik hör­ten. Sie füllte den Raum, obwohl die Musikanten hinter verschlossener Tür in einer Turmstube übten. Wenig später kamen vier junge Frauen mit ihren Flöten in die Kir­che und übten dort weiter für eine Aufführung am Abend. Sie waren es gewesen und jetzt sozusagen live zu hören. Ganz erfüllt von den barocken Klängen verließen wir das Klostergelände und gaben uns einem anderen Genuß hin. Vor dem Eingang befand sich eine Bäckerei, aus deren Backstube es nun betörend duftete, vielleicht Butterkuchen oder etwas ähnliches. Da es nicht Zeit zum Kaffeetrinken war, zog es uns weiter. Im Nachhinein schade. Ein weiteres Mal würde ich der Versuchung nicht widerstehen.

Als Tochterkloster Lehnins entstand 1258 Chorin, dessen Klosterkirche als eines der bedeutendsten Bauwerke der Backsteingotik in der Mark gilt. In der Reformati­onszeit ebenfalls säkularisiert, hat es schon lange nur noch als Domänenamt exi­stiert, als die Dupont und Dufresne in seine nähere Umgebung zogen. Ob sie noch etwas mitbekommen haben von dieser alten Geschichte ? Ob sie es überhaupt woll­ten, die strengen Reformierten ? Auch heute noch imponiert die Ruine, sitzt man wohl gerne andächtig zu Konzerten im baulich gesicherten ehemaligen Kirchenschiff. Nur die Klosterschänke lädt nicht durch gute Düfte zur Einkehr ein. Da scheint eher Massenabfertigung angesagt, wie es bis heute auch in fast allen Wall­fahrtsklöstern der Fall ist.

Ehemalige Klöster, vergangene Zeit. Nur noch Ziele für Kulturtouristen ? Nicht ganz. Die ehemalige Klosterkirche in Neuruppin als Gemeindekirche, das ehemalige Klo­ster Lehnin als Einrichtung der Diakonie, die Kirchenruine Chorin mit ihren Konzer­ten, sie dienen alle immer noch den Menschen, je au

Meine Gräber

Theodor Fontane

Kein Erbbegräbnis mich stolz erfreut,
Meine Gräber liegen weit zerstreut,
Weit zerstreut über Stadt und Land
Überall im märkischen Sand.

Verfallene Hügel, die Schwalben ziehn,
Vorüber schlängelt sich der Rhin,
Über weiße Steine, zerbröckelt all,
Blickt der alte Ruppiner Wall.

Die Buchen stehn, die Eichen rauschen,
Die GräberbüscheZwiesprachauschen
Und Haferfelder weit auf und ab, -
Da ist meiner Mutter Grab.

Und ein andrer Platz, dem verbunden ich bin:
Berglehnen, die Oder fließt daran hin,
Zieht vorüber in trägem Lauf,
Gelbe Mummeln schwimmen darauf.

Am Ufer Werft und Schilf und Rohr
Und am Abhange schimmern Kreuze hervor,
Auf eines fällt heller Sonnenschein, -
Da hat mein Vater seinen Stein.

Der dritte, seines Todes froh,
Liegt auf dem weiten Teltow-Plateau,
Dächer von Ziegel, Dächer von Schiefer,
Dann und wann eine Krüppelkiefer,

Ein stiller Graben die Wasserscheide,
Birken hier und da eine Weide,
Zuletzt eine Pappel am Horizont, -
Im Abendstrahle sie sich sonnt.

Auf den Gräbern Blumen und Aschenkrüge,
Vorüber in Ferne rasseln die Züge,
Still bleibt das Grab und der Schläfer drin, -
Der Wind, der Wind geht drüber hin.

Unsere Gräber

Uns geht es nicht wie Theodor Fontane, der mit der Beschreibung dreier Gräber und ihrer Umgebung die ganze Mark Brandenburg vorstellt. Die alten Gräber, mit denen so etwas zu machen wäre, bestehen nicht mehr. Und die jüngeren sind nicht so über das Land verstreut. Doch könnte man mit ihnen ganz Berlin beschreiben.

Im Südwesten liegt der Zehlendorfer Waldfriedhof. Wie gerade beim Tode von Willy Brandt wieder in Erinnerung gerufen wurde, Begräbnisstätte der heutigen Berliner Prominenz. Der Friedhof verdient den Namen Waldfriedhof wirklich, so sehr sind die Gräber in den Kiefernwald hineingelegt. Deshalb könnte man ihn wohl auch Märki­scher Friedhof nennen. Denn sind Kiefern und Wald und Mark überhaupt zu tren­nen? Und er liegt in Zehlendorf, einem der schönen Villenviertel Berlins. Wo Jochen Klepper lebte oder Heinrich Albertz Gemeindepfarrer war. Auf diesem Friedhof liegt Otto Telschow, wo denn wohl sonst ? In Düppel geboren, in Altruppin aufgewach­sen, in Zehlendorf die Frau genommen und in Steglitz gelebt. Ein kleiner Mann (so und so gemeint) mit dem wendischen Namen und dem Teltower Platt auf den Lip­pen. Wo könnte er wohl sonst liegen ?

Mitten in der Stadt, in Kreuzberg gibt es den Zwölf-Apostel-Friedhof. Prominenten-Friedhof der Jahrhundertwende. Da findet man heute noch das Erbbegräbnis der von Bülows oder einen Findling mit dem Namen Delhaes. Dr. Delhaes war der Hausarzt von Theodor Fontane. Am 5. Mai 1892, zwei Jahre nach der Eröffnung des Friedho­fes, wurde hier der aus Masuren stammende Landgerichtsdirektor Konrad Kob bei­gesetzt. Seine Frau zog anschließend zur Verwandtschaft nach Königsberg. So wurden aus den ,,Masuren-Kobs" die ,,Königsberger Kobs". Die Familienunterlagen weisen dieses Grab aus. Niemand in der Familie aber hatte es mehr gewußt. Im Ja­nuar 1991 waren Bärbel und ich in Berlin. Wir wollten einfach mal über diesen Friedhof gehen. Es ist ein evangelischer Friedhof, das Büro war besetzt. Wir gingen hinein und fragten einfach, ob es noch irgendwelche Hinweise auf Konrad Kob gäbe. Die freund­liche Frau holte ein dickes Konvolut. Es war das erste Friedhofsbuch, in dem wir nach kurzem Blättern auf die den Urgroßvater betreffende Eintragung stießen. Und dann erfuhren wir, daß das Grab erst im Jahre 1978 neu belegt worden war. Wir waren be­troffen. Die Gräber der Familie Kob sind mit der Heimat untergegangen. Hier hätte man eines erhalten können, wenn man von ihm gewußt hätte. So sahen wir zwar noch, daß es damals kaum anders als heute ausgesehen haben mag, mit seiner Heckeneinfassung. Aber vergangen ist vergangen. Beim Wegfahren wurde uns auch be­wußt, was sich sonst noch alles verändert hatte. War doch aus der einstmals ersten Adresse am Kreuzberg heute der Problembezirk Berlins geworden.

Jüdischer Friedhof Weißensee. Wer etwas vom alten Berlin erahnen möchte, gehe hier hin. Ein riesiger Friedhof im Nordosten Berlins, Arbeiterviertel. Ein Wald von schwarzen Marmorgrabsteinen, ein Spiegel der Berliner Gesellschaft von vor hun­dert Jahren. Uns führte im Jahre 1991 etwas anderes her, die Familie. Frieda Praus­nitzer aus der Familie Bömbös , Schwester des Großvaters, mit dem Geburtstag am 2.Mai, meine Patentante, war mit einem jüdischen Kaufmann namens Felix Praus­nitzer verheiratet gewesen. Als der im Jahre 1924 verstorben war, war er in Weißensee beerdigt worden. Sie lebte ärmlich und später geistig verwirrt weiter. Bei ihrem Tod im Jahre 1951 ergab sich die Frage, ob sie nicht neben ihrem Mann beigesetzt werden könnte. Da sie Christin war, war das eigentlich nicht zulässig. Aber Fritz hatte es versucht (war of­fenbar eine Spezialität von ihm) und die Jüdische Gemeinde hatte es erlaubt. Nun, vier­zig Jahre spä-ter, wollte ich das Grab suchen. Unterlagen von 1951 hatte ich noch. Auch hier war das Büro offen, also hinein und gefragt. Auch hier freundliche Aus­kunft über die Lage des Grabes und zur Person Felix Prausnitzer. Dann machten Bärbel und ich uns auf den weiten Weg, denn die Grabstelle liegt am Ende des Friedhofs. Dort angekommen, fanden wir uns in einer Wildnis. Zwar waren die Hauptwege frei; aber die Nebenwege und die Gräber waren von einem kaum über­windbaren Gestrüpp mit langen Ranken überzogen. Es erinnerte an Dornröschen. Wir fanden das Grab nicht. Im Oktober 1992 starteten wir einen neuen Versuch. Ul­rike und Christian waren dabei und vom Friedhof tief beeindruckt. Etwas besser in Ordnung schien er ja. Nicht nur die Sicherheitsstreife zweier junger Juden zeugte davon. Wir machten uns wieder auf den Weg und waren am Ende überrascht. Das Feld M V war aufgeräumt. Die Ranken waren beseitigt, und auf Anhieb sahen wir den klei­nen bräunlichen Grabstein mit dem Namen Felix Prausnitzer. Aber wir waren auch betroffen. Sollten wir uns freuen oder nicht ? Na ja ... ehrlich ... der verwunschene Friedhof hatte auch seinen Reiz gehabt. So zogen wir wieder von dannen und machten uns klar, was es bedeutet, daß dieser Friedhof von den Nationalsozialisten nicht zerstört worden war. Jetzt lag er, etwas versteckt (nur gut), in dem Teil der Stadt, der die Wende zu bewältigen hatte.

Drei Gräber, drei Geschichten, dreimal Berlin. Man muß die Geschichte nicht unbe­dingt verlängern um den Steglitzer Friedhof, den Wilmersdorfer Friedhof oder den Spandauer Friedhof. Obwohl auch dort jeder Tod seine Geschichte hat. Auch das ist Berlin.

II. Die Telschows

Anfang April 1983

Nachdem ich auf mehreren Studienreisen und bei Hilfstransporten nach Polen die Fährnisse der Fahrt durch die DDR kennen gelernt hatte, hatte ich Fritz vorgeschlagen, wir könnten doch einmal gemeinsam in die DDR fahren und familiäre Spurensuche betreiben. Fritz biß an, wollte aber bei der Gelegenheit auch seinen alten Freund Otto Stopka besuchen. Also fädelte er Stopkas Einladung ein, die uns wiederum eine Aufenthaltsgenehmigung für die DDR eintrug.

An einem frischen Apriltag des Jahres 1883 fuhren dann Fritz, Ulrike und ich mit unserem gelben VW-Bus nach Norden. Übrigens hatte der Bus das merkwürdige Kennzeichen F-DJ 896, obwohl wir keineswegs für die FDJ (Freie Deutsche Jugend der DDR) Werbung machen wollten. Und Fritz hatte uns damit überrascht, daß er auf diese Reise von knapp einer Woche zwei richtige Koffer mitnahm. Bei Marienborn/Helmstedt überschritten wir die „Staatsgrenze der DDR" mit den entsprechenden Kontrollen, fuhren dann bei Magdeburg von der Autobahn hinunter und auf der heutigen Bundesstraße 189 in Richtung Norden. Auf der ging es über Wolmirstedt und Colbitz nach Bertingen, dicht an der Elbe. Wir nahmen auf einmal zur Kenntnis, daß hier nördlich von Magdeburg in großem Stil Kali abgebaut wurde, bis tausend Meter tief hörten wir. Wir fuhren durch Ortschaften, in denen die Durchfahrtsstraße mit so vielen wassergefüllten Schlaglöchern übersät war, wie wir sie noch nicht gesehen hatten, und mußten das fotografieren. Schließlich landeten wir in Bertingen, einem kleinen Dorf in der Altmark. Hier waren unsere Gastgeber Otto und Frieda Stopka, die uns mit großer Freude aufnahmen. Nach dem Begrüßungskaffee erfuhren Ulrike und ich auch endlich, was es mit dem zweiten Koffer auf sich hatte. Er war voll mit Kaffeepäckchen, jedes mit 250 Gramm Inhalt, und mit Schokoladentafeln. Einen kleineren Teil davon erhielten Stopkas. Der Rest aber wurde auf unserer Fahrten mitgenommen, und aus ihm bekam jeder, den wir besuchten oder von dem wir etwas über die Familie erfuhren, ein Geschenk. Fritz wußte halt, wie hoch Kaffee und Schokolade im Kurs standen, und konnte unserem Dankeschön die richtige Form geben.

Die Freundschaft zwischen Fritz und Otto hatte sich im Kriegsgefangenenlager in Kanada entwickelt. Als Fritz dort ankam, es war ein Lager mit 25.000 Gefangenen, hatte er herumgehört, wen es da so gebe. „Überwiegend Afrika-Korps-Kämpfer und Schiffsbesatzungen sind hier. Und dann gibt es da noch einen Mönch," sagte man ihm. Der säße immer an der Wand der Baracke soundso in der Sonne. Also ging Fritz dort hin und fand einen kräftigen, glatzköpfigen, braungebrannten Kameraden, tatsächlich in der Sonne sitzend. Es war Otto Stopka, Diakon aus Masuren und über das Afrika-Korps hierher gekommen. Die gemeinsame kirchliche Herkunft verband die beiden, und es entwickelte sich eine Freundschaft, die bis zum Tode hielt. Ottos Frau war Frieda, genauso derb wie er. Und sechs Kinder hatten sie auch, die aber schon alle außer Hause waren. Fritz erzählte von den beiden, daß Otto durchaus handfeste Liebesbeweise schätzte. Seine Kinder mußten ein Lied davon singen können. Aber auch sein holdes Eheweib wurde davon nicht ausgenommen und wehrte sich ihrerseits auf gleiche Weise. Hier in Bertingen verwaltete Otto als Pfarrdiakon die Pfarrstelle. Zusammen mit seiner Frau bestellte er einen großen Garten und führte an Kirche und Pfarrhaus viele handwerkliche Arbeiten selbst aus. Das Pfarrhaus war eher leicht gebaut und unheimlich kalt. Richtig geheizt wurde nur in der Veranda, wo es dann auch warm und gemütlich war. Ulrike und ich schliefen im eisigen Wohnzimmer, wobei uns die Nacht dadurch erträglicher gemacht wurde, daß die Tür zur Veranda geöffnet wurde.

Beim Rundgang durch das Dorf zeigte uns Otto stolz seine Kirche und sein „Kaufhaus". Die Kirche war eine kleine Dorfkirche. Sie war vollgestellt mit altem Gerümpel, das das Herz eines Antiquitätenhändlers hätte höher schlagen lassen und ganz gewiß seine Kasse gut gefüllt hätte. Nur der Gottesdienstbesuch war halt nicht so. Das „Kaufhaus" war eine kleine Müllhalde am Rande des Waldes, mitten in der Landschaft, wo jeder hinwarf, was er nicht mehr brauchte. Hier fand Otto immer noch etwas Brauchbares für Haus, Hof und Garten. Vor allem sammelte er „Plaste", Stücke von Kunststoffolien. In besonderer Erinnerung ist mir aber der Nachbarort Kehnert an der Elbe. Es war Frühjahrshochwasser. Eine weite Auenlandschaft war überschwemmt. Keine Siedlung war zu sehen. So muß es vor tausend Jahren ausgesehen haben, dachte ich. Damals als die Besiedelung der Mark Brandenburg von Magdeburg über die Elbe hinweg begann.

Wichtiger aber waren drei Tagesausflüge. Wir fuhren mit dem Auto nach Wittenberg. Unterwegs kamen wir am riesigen Buna-Werk vorbei, wo die Luft so nach Gummilösung roch, daß man kaum atmen konnte. Am Rande von Wittenberg sahen wir wieder ein kleineres Chemie-Werk. Es war gerade Schichtwechsel, Arbeiter und Arbeiterinnen kamen und gingen. Hier sanken Abgase wie Schneeflocken in dichtem Treiben hernieder. In der Stadt wollten wir etwas essen. Wir fanden hinter der Stadtpfarrkirche St. Marien eine große HO-Gaststätte. Mit vielen anderen suchten wir uns auf der kargen Speisekarte etwas aus. Vertrauensvoll erschien uns der „Broiler", die DDR-Form von Brathähnchen. Doch denkste. Nach dem frugalen Mal wußten wir, was „Gummiadler" sind. Auf dem Rückweg machten wir in Schönebeck halt, wo ein Sohn der Stopkas mit Familie wohnte. Hier sahen wir noch eine andere Seite der DDR. Die Umgebung war ungepflegt. Auch der viergeschossige Plattenbau wirkte außen herunter gekommen. Das Treppenhaus war ziemlich dunkel und brauchte wieder mal einen Anstrich. Die Treppe wendelte sich sozusagen nach oben, so daß man von unten bis zur obersten Decke sehen konnte. In Deckenhöhe des Erdgeschosses hatten die Bewohner ein „Netz" aus Zaun-Maschendraht gespannt. Wurde so viel herunter geworfen oder wollte man gar Selbstmorde verhindern? Und dann kamen wir in die Wohnung, die sich die Stopkas richtig schön gemacht hatten. Welch ein Gegensatz. Als wir nach dem Besuch wieder zu unserm Auto kamen, hatten inzwischen böse Buben an der Heckklappe die Typenbezeichnung abmontiert und gestohlen.

Ein zweiter Ausflug führte uns nach Wilhelmshorst und Potsdam. In Wilhelmshorst bewegte mich, daß sich seit unserm Weggang nichts verändert zu haben schien; es sei denn, daß flei-ßige Menschen aus dem sandigen Boden im Rosenweg 4 fruchtbares Gartenland gemacht hatten. Hier suchten wir auch Leni Schröder auf, unsere alte Nachbarin. Auch dies bewegend. Und im Wald sah ich in dem stark geschrumpften Sumpfgelände noch den Bombentrichter aus dem Krieg. Auch Potsdam machte kaum einen gepflegten Eindruck. Immerhin gab es in der Brandenburger Straße einen ordentliches Café, in dem ich hervorragende Sahnetorte aß. Einige Häuser weiter hatte ein Fischgeschäft ein wirklich reichhaltiges Angebot. Hier kaufte Frieda Stopka groß ein, denn seit langem hatte es bei ihr keinen Fisch mehr zu kaufen gegeben. Ja, sie aß auch sofort davon, aber so viel, daß ihr bald schlecht wurde und sie erbrechen mußte.

Schließlich ging es einen Tag noch in die Ruppiner Gegend. Fritz lockte uns unterwegs zu einer besonderen Sehenswürdigkeit, dem Ritter Kahlbutz, einer mumifizierten Leiche in der Gruft der Dorfkirche von Kampehl bei Neustadt an der Dosse. Ulrike war sehr beeindruckt. Gegen Abend, in Altruppin, wollte ich ein Stück auf der Straße nach Wulkow fahren, wo 1882 Ururgroßvater Johann Telschow mit dem Fuhrwerk bei Schnee und Eis tödlich verunglückt war. Doch mitten im Ort hatte ich auf einmal einen sowjetischen Konvoi hinter mir und fuhr vor dem Bahnübergang rechts auf einen freien Platz, um ihn vorbei zu lassen. Dann sollte es gemütlich weiter gehen. Doch wenig später hielt mich eine Vopo-Streife an und winkte mich rechts ran. Warum ich vor der Schranke gehalten habe. Ich sagte, weshalb ich hier lang fahre. Dann belehrten sie mich noch, daß ich innerhalb von 200 Metern vor und hinter einer Bahnschranke nicht halten dürfe, und wünschten immerhin nur gute Fahrt. Normaler Weise wäre ein Bußgeld fällig gewesen.

Vorher waren wir aber zum ersten Mal in Pfalzheim gewesen. Pfalzheim, nicht gerade die Wiege der Telschows, aber doch der Ort, in dem der uns bekannte älteste Telschow, Joachim Telschow, im Jahre um1800 aufgetaucht ist. Es war ein trüber Aprilnachmittag, der Tag ging auf die Dämmerung zu. Wo fängt man an, wo hört man auf ? In Pfalzheim mit seinen wenigen Gehöften, kaum hundert Einwohnern und der einen Dorfstraße ist das nicht schwer. Einmal hin und das frisch gestrichene Feuerwehrhäuschen bewundert; einmal zurück und auf den Friedhof gegangen. Tatsächlich, der Name Telschow war noch zu finden, wenn auch als Geburtsname ei­ner im Jahre 1976 verstorbenen Meta Dicks geb. Telschow. Und dann tauchte da auch noch ein alter Mann auf und kam mit Fritz ins Gespräch. Alte Männer haben halt so eine Art, Kontakt zu bekommen. Ein Wort gab das andere, und er kannte sich auch noch in der Ortsgeschichte aus. Er wußte, wo der alte Hof und Dorfkrug der Telschows gesesen war; er wußte auch, daß in diesem Haus heute noch die Familie Dicks lebte. Der Mann sei ein Sohn der Verstorbenen, an deren Grab wir gerade gestanden hatten. Unser Gesprächspartner war Reinhold Nebel. Früher einmal Ortsbauernführer und jetzt der Ortschronist. Er erklärte uns auch, daß Luise Moser aus einer Schweizer Familie stammte, was bis dato mehr Vermutung als mündlich überliefertes Familien­wissen war. Ein bei diesem Besuch in Neuruppin erstandenes Buch über das Ruppiner Land gab mehr Auskünfte über die Schweizer Besiedlung.

Ein kleines Dorf am Ende der Welt: Pfalzheim

Pfalzheim liegt im Land Ruppin, später Herrschaft Ruppin genannt. Vermutlich hat diese ihren Namen von der wendischen Stammesbezeichnung „Riacini". Mittelpunkt war zunächst die Ansiedlung am Nordufer des gleichnamigen Sees, heute Altruppin. Pfalzheim, heute ein Ortsteil von Rägelin, liegt fast völlig vom Forst Neu Glienicke umschlossen auf sandigem Boden, der sich kaum ertragbringend bewirtschaften läßt. So wurden zwar in der Kolonisationszeit Brandenburgs in der Gegend Siedlungen angelegt, aber schon im 14. Jahrhundert wieder aufgegeben. Das Gebiet gehörte ursprünglich nicht zur Herrschaft Ruppin sondern zur Priegnitz. Als Grenzland, Netzeband und Rossow waren meklenburgische Enklaven, kam es in kirchliche Hand, um Grenzstreitigkeiten möglichst zu vermeiden. Dieser Tatsache sind zwei der frühesten urkundlichen Belege für die Gegend zu verdanken. 1232 schenkten die Gebrüder von Plote, markgräfliche Vögte in Kyritz, die Flur des Dorfes Rägelin mit 42 Hufen an das Kloster Arendsee in der Altmark. 1238 übereigneten die Markgrafen Johann und Otto von Brandenburg auf Antrag derselben Brüder 30 Hufen zu Rägelin an das livländische Kloster Dünamünde, das einen gleichnamigen Klosterhof nördlich von Rägelin besaß. Auch dieser Hof wurde wüst und ging im 14. Jahrhundert an den Bischof von Havelberg. Nach der Säkularisation des Bistums 1571 übertrug der Kurfürst „Wüsten-Rägelin" an einen Vasallen in Dabergotz und 1668 an das Amt Altruppin. Das Amt setzte einen Hegemeister ein und die Teerbrennerfamilie Fielitz sorgte für allmähliche Rodung. Zusammen mit den Bauern von Rägelin nutzten beide die freie Flur und trieben ihr Vieh in den Wald. 1746 liefen die Pachtverträge aus.

Um die gleiche Zeit kamen im Rahmen einer nach dem zweiten Schlesischen Krieg durchgeführten Ansiedlungsaktion 650 Pfälzerfamilien nach Brandenburg und Pommern. Von denen wurden1747 auch 8 Familien und ein Schulmeister auf einer verbundenen Schul- und Küsterstelle auf Wüsten-Rägelin angesetzt. Sie kamen aus einem Dorf nahe Zweibrücken. Am 1. Juni 1747 kam es zur Neugründung, und da sie aus der Pfalz kamen, erhielt der Ort von der Zentralbehörde den Namen Pfalzheim. Die Aufbaukosten betrugen 3.269 Taler. Nach Nebel erhielten sie kostenlos Bauholz sowie Saat- und Futtermittel. Auch waren sie zunächst von Abgaben befreit. Nach Zühlke hatte jeder Neusiedler 8 Taler Erbpacht zu zahlen und später auch wöchentlich zwei Tage Hand- und Spanndienste auf dem Vorwerk Frankendorf zu leisten. Frankendorf war Vorwerk des Klosters Lindow. Auf 25 Hufen Acker und 311 Morgen Wiesen hatten die Siedler kaum ein Auskommen für ihre Familien. Schlechte Ernten und Viehseuchen führten nach Ablauf der drei Freijahre 1851 zur Ablehnung der Handdienste. Diese wurden auch bis 1754 gegen Zahlung eines Ablösungsbetrages von je vier Talern jährlich ausgesetzt. So reichten die Bedingungen nicht zum Leben und nicht zum Sterben, und die Pfälzer wanderten wieder ab. 1769 war noch eine Familie in Pfalzheim ansässig. Der letzte, Jakob Wahl, verließ Pfalzheim nach Nebel im Jahre 1818. Die frei gewordenen Stellen erhielten Angehörige der Schweizer Familien aus Storbeck sowie Kolonisten aus Mecklenburg, Braunschweig und Württemberg. Sie konnten in Pfalzheim überleben, weil nach und nach die Handdienste aufgehoben und bessere Düngemethoden höhere Erträge brachten, also auch mehr Vieh gehalten werden konnte. Trotzdem blieb der Nebenerwerb wichtig. Im 19. Jahrhundert wurde in Pfalzheim auch Holzkohle hergestellt. In einem Schreiben vom 25.2.1934 entschuldigt sich Otto Telschow aus Pfalzheim gegenüber Fritz Telschow für die verspätete Antwort auf dessen Schreiben: „Sie werden schon lange auf eine Antwort gewartet haben, aber ich war nicht zu Hause ich war 14 Tage im Wald und habe Holzkohle gebrannt." Der letzte Meiler erlosch 1950. 1979 hatte der Ort noch 59 Einwohner.

Die Feldmark Pfalzheim umfasste 250 ha. Da wenig Wiesen vorhanden waren, hat man ihnen 12 ½ ha in Pfefferteich- auch Ritterhorst genannt- am Klappgraben gegeben. Bei der Viehhaltung stand die Schafhaltung im Vordergrund. Dem leichten Boden entsprechend wurde außer Getreide und Kartoffeln gelbe Butterlupine, Buchweizen und rauer Hafer angebaut. Laut Gebäudesteuerrolle von 1865 waren folgende Besitzer vorhanden:

1.Nebel, Wilhelm; 2. Müller, Johann; 3. Vohs, Friedrich; 4. Rothacker, Johann; 5. Schule; 6. Telschow, Johann; 7. Wegener, Johann; 8. Koch, August; 9. Wüstenberg, Joachim; 10. Gemeindehaus; 11. Rothacker; 12. Heine, Johann; 13. Müller, Johann; 14. Leppin, Christian; 15. Schönberg, Anna; 16. Herm, Johann; 17. Scheffermann, Johann, 18. Grabow, August; 19. Markuth, Friedrich; 21. Gellfeldt, Karl; 22. Bäcker, August; 23. Nebel; 24. Müller Johann; 25. Lück, Karl. Dazu kam in Wüsten-Rägelin Erbpächter Dahlenburg, Johann mit Wirtschaftsgebäuden und Theerofen.

Postkarten von vor dem 1. Weltkrieg zeigen den Gasthof von Otto Telschow.

Die Schulverhältnisse waren schwierig, worüber Polizei- und Prozessakten Auskunft geben. Am 14.Juli 1885 nachmittags 4 Uhr wurde Pfalzheim von einem Gewitter mit starkem Hagel sehr heimgesucht, so daß die ganze Ernte vernichtet wurde. Am 16.Juli fing die Ernte an. Der Roggen lag so tief in der Erde, daß die Binderinnen erst den Roggen mit dem Harkenstiel aufrichten mussten und dann die Mäher mit der Grassense mähten. Hafer, Buchweizen und Lupinen waren gänzlich zerschlagen; der Hafer mußte zu Heu gemacht werden. Die Kartoffeln schlugen zum zweiten Mal aus, da sie im Frühjahr erfroren waren. Die Not war sehr groß. Kirchlich gehörte Pfalzheim in dieser Zeit zu Neuruppin. Die Einwohnerzahlen lagen im Jahre 1900 bei 114, 1905 102, 1918 106. 1911 wurde die Kirche gebaut, 1924 bekam die Gemeinde elektrisches Licht, 1958 wurde die erste landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft gegründet, 1967 wurde die Betonstraße von Rägelin nach Pfalzheim gebaut und damit Busverkehr nach Neuruppin eingerichtet.

In Pfalzheim haben sich, nachdem die Pfälzer aufgegeben hatten, Mosers und Telschows angesiedelt. Da anzunehmen ist, daß sie dabei weitgehend in die Fußstapfen der Pfälzer getreten sind, ist auch im Hinblick auf unsere Vorfahren ein Erlaß aus dem Jahre 1747 von Bedeutung:

„Erbzinsverschreibung über die innen benannten aus dem Pfalz- Zweibrückschen emigrierten 8 Colonisten auf der wüsten Feldmark Rägelin unterm Amte Ruppin überlassene Grundstücke

Berlin, den 9. Oktober 1747

Wir Friedrich von Gottes Gnaden, König in Preußen, Markgraf zu Brandenburg, des Heiligen römischen Reiches Erzkämmerer und Curfürst tun kund, und sagen hiermit zu wissen.

Nachdem die aus dem Pfalz-Zweibruckschen anhero gekommene acht Emigranten als

Heinrich Heine
Heinrich Scheerer
Valentin Barb
Jakob Klein
Valentin Müller
Jakob Wahl
Wendel Rinner
Jakob Reich

Sich bei unserer höchsten Person angegeben und alleruntertänigst gebeten, sie in unseren Schutz aufzunehmen, und sie solchergestalt in die Zahl unserer getreuen Untertanen aufnehmen zu lassen, so haben wir solchen alleruntertänigsten Gesuch in Gnaden deferiert. Und wie uns nun hierauf vorgetragen und in alleruntertänigsten Vorschlag gebracht worden, das auf der wüsten Feldmark Roegelin unterm Amt Ruppin von erwähnten Emigranten ein neues Dorf errichtet werden könnte und dieses nach geschehener Untersuchung also befunden worden, als verleihen und verschreiben wir aus königlicher Macht und Hoheit vor uns und unser königlichen Nachfolger obenbenannten acht Colonisten, ihren Kindern und Nachkömmlingen zu ewigen Zeiten auf dieser Feldmark zu Anlegung eines Dorfes, welchem wir den Namen Pfalzheim hiermit beilegen, vierundzwanzig Hufen Landes, jede Hufe á 30 Morgen und jeden Morgen á 180 Quadratruten gerechet, nebst 80 Morgen zum Teil reine mehrenteils aber noch urbar zu machende Wiesen an der Forst Gühlitz belegen zu Erbesrecht dergestalt und also, daß sie solche 24 Hufen Landes zu nutzen und damit als mit ihrem wahren Erbgut und Eigentum zu schalten und zu walten, auch bedürfenden Falles ein jeder die zu seinem Hof ihm zugeteilte Hufen, Wiesen und übrige Partinenzien zu verkaufen Macht haben und befugt sein sollen. Und wie wir obgedachte 24 Hufen Landes nebst 80 Morgen Wiesewachs durch einen geschworenen Landmesser haben ausmessen lassen, als hat derselbe auch einen jeden obgedachten Colonisten zu seinem Hofe 3 Hufen Landes und 10 Morgen teils reine, teils noch urbar zu machende Wiesen zugemessen für den Setzschulzen aber wegen seines Dienstes überdem noch 3 Morgen Wiesen und für den Schulmeister eine Wörde Acker, 15 Morgen Land im Felde und 3 Morgen Wiesewachs frei vom Erbzins und allen Auflagen anzuweisen. Zugleich haben wir allergnädigst resolvieret, diesen 8 Colonisten

1.die Höfe, Ställe und Scheunen vor jetzo auf unsere eigenen Kosten aufhauen zu lassen, jedoch dieselbe das Staken und Lehmen derer Gebäude auch derselben Ausfüllung selbst verrichten

2.Wollen wir Ihnen die Winter- und Sommersaat reichen, auch das diesjährige Feld mit Roggen besäen und im Frühjahr, wenn sie kein eigen Gespann erhalten, die Streckfahr zur Sommersaat verrichten lassen, dessen übrige Bestellung aber sie alsdann selbst verrichten.

3. Wollen wir einen jeden dieser Colonisten 30 (muß wohl 3 heißen, d. Verf.) Ochsen, 3 Kühe und 20 Schafe geben, anbei einem jeden zu einer Zuchtsau 3 Reichstaler und zu den Rädern eines Wagens und Pfluges ingleichen zum Wagen und Pflugbeschlag zusamt einen jeden 10 Reichstaler zahlen, und das freie Geschirrholz zum Wagen und Pflug, so ein jeder sich selbst anfertigt, reichen lassen, auch ihnen annoch zu ihrer besseren Einrichtung drei Freijahre accordieren. Dahingegen nach Verfließung derer drei Freijahre ein jeder dieser 8 Colonisten wöchentlich zwei Tage Handdienste bei dem königlichen Vorwerk Frankendorf bei eigener Kost verrichtet und jährlich überhaupt 8 Reichstaler baren Zins dem Amte Ruppin abträget. Wie sie dann auch für das notwendige Brennholz, so sie sich jederzeit anweisen lassen müssen, 1 Reichstaler Holzgeld und 3 Groschen Stammgeld bezahlen, daneben ihr Getreide, so sie zu eigener Konsumtion gebrauchen, in der Ruppinschen Mühle abmahlen lassen, auch ihr Bier aus dem Amte Ruppin holen müssen. Und wie vorgedachter Erbzins niemalen und zu ewigen Zeiten nicht erhöhet werden soll, also sollen mehr erwähnte Colonisten auch außer denselben von allen anderen Landesabgaben als Kontribution, Schoß, Kavalleriegeld, Getreidepächte, Dienste und Fron, Amts- und Kriegsabführen auch allen übrigen Pflichten, sie haben Namen wie sie wollen, sie seien erdacht oder sollen annoch erdacht werden, von nun an und zu ewigen Zeiten völlig befreit sein. Wenn auch hiernächst und in künftigen Zeiten mehr erwähnte Colonisten zur Unterhaltung und Preparierung ihrer Gebäude einiges Bauholz benötigt sein sollten, so soll ihnen solches auf ihr Ansuchen gleich anderen erblichen Untertanen gegen 1/3 teilige Bezahlung der Holztaxe angewiesen und verabfolgt werden. Die Jurisdiction über die Einwohner dieses neuen Dorfes Pfalzheim wird hierdurch dem Amte Ruppin beigelegt und sollen dieselben daselbst ihre Klagesachen anbringen und entscheiden lassen. Wie ihnen denn auch unbenommen sein soll vorkommenden Umständen nach sich an die Kurmärkische Kriegs- und Domänenkammer zu wenden.

Da uns nun das Etablissemant dieser Kolonie zum allergnädigsten Gefallen gereichet und wir derselben Aufnehmen auf alle Art befördert wissen wollen, als befreien wir dieselbe nebst ihren Kindern und Nachkömmlingen zu allen Zeiten von der gewaltsamen Werbung mit dieser Versicherung, daß wir sie dawider jederzeit kräftigst und beständig schützen wollen.

Verkündet Berlin, 9. Oktober 1747" (Abschrift des Originals von Reinhold Nebel)

Heinz Stirnemann äußerte hierzu die Vermutung, daß die Hofgröße gering gehalten wurde (nur ca. 25 Hektar), um einen guten Stamm von Waldarbeitern zu haben. Hierfür spricht, daß sie 2 Tage Handdienste je Woche zu leisten hatten. Auch muß man bedenken, daß die Schweizer in Storbeck 60 Hektar besseren Boden bekamen und die Pfälzer in Pfalzheim nach kurzer Zeit aufgegeben hatten.

Büdner und Musketier in Pfalzheim: Joachim Christian Telschow

In diesem Pfalzheim hatten also die ersten Telschows, von denen wir Genaueres wissen, unsere ersten Vorfahren dort, gelebt. Joachim Telschow, der Bauer und sein einer Sohn Joachim Christian, der Büdner; auch sein anderer Sohn Carl Caspar, der Bauer. Von Joachim Telschow wissen wir fast nichts. Von Joachim Christian mehr, aber immer noch wenig genug. Vier Eintragungen in alten Registern sind es.

So findet sich im Kirchenbuch von Pfalzheim 1812 folgende Eintragung:

„Joachim Telschow, Musketier im Leibinfanterie Regiment, aus Pfalzheim, und Louise Moser, des verstorbenen Schulzen zu Pfalzheim, Joh. Moser, jüngste Tochter, wurden den 15. Dezember allhier zu Neuruppin kopuliert.

Kopulation ist ordnungsgemäß dem Königl. Brigade Prediger, H. Dr. Mann zu Berlin zur Eintragung in das Militärkirchenbuch unterm heutigen Dato angezeigt worden.

Neuruppin, den 3 ten Januar 1812

Bientz, Superintendent und Prediger"

Es handelte sich also um eine Trauung bei der Militärgemeinde Neuruppin. Hierzu hat Otto Telschow vor dem 2. Weltkrieg die Stammrolle von 1807 des um 1800 in Neuruppin stationierten Infanterie-Regiments Nr. 34 eingesehen. Leider ist die Stammrolle im Krieg mit vielen anderen Archivalien verbrannt. Aber Ottos Notiz von der Eintragung bei Joachim Christian lautet:

„Erstes Glied, Maß 6, Strich 2, Alter 24, Dienstzeit 4, Vaterland Prignitz, Rel. Lutherisch."

Das macht 1, 94 Meter.

Bei der Eintragung der Geburt des Sohnes Johann im Taufregister 1815 ist für ihn außerdem vermerkt: Invalide und Arbeitsmann.

Der Auszug aus dem Sterberegister der evangelischen Pfarrkirche in Neuruppin, besagt, daß er 1838 60 Jahre alt, Büdner und Altsitzer gewesen ist.

Hieraus ergibt sich ein Bild, nachdem er zwischen 1778 und1783 in Pfalzheim geboren wurde (allerdings ist die Taufe dort nicht urkundlich nachzuweisen),1815 ausgemustert war und dann als Arbeiter sein Geld verdient hat. Sollte die Größenangabe stimmen und in preußischen Zoll benannt worden sein, muß er mit fast zwei Metern für die Zeit sehr groß gewesen sein. Das erscheint unwahrscheinlich. 1838 starb er an Auszehrung und hinterließ nach dem Sterberegister von Neuruppin 1838, Seite 80, Nr.2 drei Söhne, davon zwei minorenn, und eine majorenne, verheiratete Tochter. Zu diesem Zeitpunkt wird er als Büdner und Altsitzer bezeichnet. Demnach muß er zwischen 1815 und 1838 eine Büdnerstelle erworben und diese an einen Sohn weiter gegeben haben. Da in der Gebäuderolle von 1865 Johann Telschow als Besitzer vermerkt ist, ist zu vermuten, daß Johann die Büdnerstelle von seinem Vater übernommen hat.

Für die preußischen Regimenter galt bis 1806 die alte Zählung; danach handelte es sich hier um das Regiment Nr. 34. Dieses Regiment nahm am 14. Oktober1806 an der Schlacht von Auerstädt unter großen Verlusten teil, zog sich dann mit anderen Truppen nach Norden zurück, kam über Magdeburg nach Pasewalk, wo es sich am 29. Oktober den Franzosen ergab. Wie es damals üblich war, wurden die Offiziere auf Ehrenwort entlassen und die Gemeinen in Gefangenschaft geführt. Ein Teil konnte unterwegs fliehen, ein Teil wurde in die Nähe von Nancy gebracht, ein Teil in die Pyrenäen. Viele kamen erst 1809 nach Hause. Das Regiment bestand nicht mehr und damit auch keine Garnison. Aus Teilen der Kolberger Besatzung und der Mannschaft des 7. Leib-Regiments wurde dann das Infanterie-Regiment Nr. 8 (neue Zählung) gebildet. Die im Kanton befindliche gediente Mannschaft kam zum Leibregiment (Infanterie Regiment Nr. 8 der neuen Zählung). Der Standort war 1809 Berlin, nicht Neuruppin. Die Stammrollen dieses Regiments sind erst ab 1810 erhalten. Da taucht aber unser Joachim Telschow nicht mehr auf. Die Eintragung in die Rolle von 1807 dürfte deshalb wohl noch den Bestand von 1806 beschreiben. Jedenfalls hatte Joachim da eine Dienstzeit von 4 Jahren. Vielleicht gehörte Joachim aber auch zu denen, die aus der Gefangenschaft fliehen konnten.1809 und 1810 ist Joachim Telschow nicht vermerkt gewesen. Daß die Heiratsurkunde ihn noch als Musketier des Leibregiments nennt, ist vielleicht nur eine Reminiszenz; daß die Hochzeit zum Militärkirchenbuch angemeldet wurde, hängt wohl mit dem noch geltenden Kantonssystem zusammen.

Ende des 18. Jahrhunderts galt in Preußen das sogenannte Kantonssystem. Das heißt, daß jedem Regiment ein bestimmtes Gebiet, der Kanton, zugewiesen war, aus dem die jungen Männer ihren Militärdienst in diesem Regiment zu leisten hatten. Die Anfertigung entsprechender Listen oblag den Land- oder Steuerräten. Dienstpflichtig waren alle männlichen Einwohner zwischen dem 16. und dem 45. Lebensjahr. Ausgenommen von der Eintragung waren „bedingt oder unbedingt Eximierte", also zunächst Dienstpflichtige über dem 45. Lebensjahr, Knechte für den Troß und solche, für die die körperliche Untauglichkeit einmal festgestellt worden war. „Unbedingt eximiert" waren sodann der Adel und eine kleine Schicht staatlicher Beamter. „Bedingt eximiert" konnte man werden, wenn Söhne des gehobenen Bürgertums „Ökonomie oder Handlung" studierten; Handwerkersöhne, wenn sie das Handwerk desVaters ergriffen. Auch konnten ganze Städte oder Regionen befreit sein. Für die anderen war wichtigstes Kriterium die Körpergröße. Die Mindesgröße war 5 Fuß, also etwa 1,70 Meter, denn nur dann konnte man mit den Vorderladergewehren ordentlich umgehen. Doch dies ist nicht das ganze Bild. Da während der Dienstzeit die Untertänigkeit unter den Gutsherrn ausgesetzt war, hatte der Militärdienst durchaus einen gewissen Reiz vor allem für jüngere Söhne von Bauern und Landarbeitern. Andererseits gab es viele Ausnahme- möglichkeiten. Im Jahr 1802 zum Beispiel gab es in Preußen insgesamt 2.156.812 Kantonspflichtige, von denen nur 312.926 nicht eximiert waren. Wie Friedrich Wilhelm I. schon 1733 formuliert hatte, waren also nach wie vor „lose Leute von geringer Extraction z.B. Schuster, Schneider u. dgl. gemeiner Leute Kinder" die Zielgruppe, die man im Militär haben wollte. Auch der Dienst selbst war anders, als wir es uns vielleicht vorstellen. Man unterschied „Ausländer" oder Freiwächter und „Einländer". Hierbei handelte es sich nicht um eine Herkunftsbezeichnung. Die Ausländer gingen als Freigestellte verschiedensten beruflichen Tätigkeiten nach. Die Einländer taten Dienst, aber nur zur Exerzierzeit und auf Wache. Auch sie hatten also noch Möglichkeiten zum Nebenerwerb. Faktisch bedeutete dies, daß der, der Arbeit fand, arbeitete und evt. sogar noch andere, die keine Arbeit fanden, dafür bezahlte, daß sie für ihn Wachdienst leisteten. Hinter allem stand auch das wirtschaftliche Interesse des Kompaniechefs. Der bekam eine bestimmte Summe zur Verfügung und hatte dafür eine leistungsfähige Kompanie zu haben. Dies wurde bei Inspektionen oder Manövern festgestellt. Da kam es darauf an, daß die Leute ordentlich gekleidet waren, das Exerzierreglement beherrschten und schießen konnten. Verdienten sie in der Zwischenzeit eigenes Geld, mußte der Kompaniechef ihnen weniger zahlen und verdiente mehr.

2/64 Joachim Christian Telschow 1778 -1838 >>> 2/65 Louise Moser 1782 - 1828

Sommer 1983

Der Kontakt mit Reinhold Nebel führte zu einem Briefwechsel mit Fritz Telschow, in dessen Verlauf Nebel gleich (undatiertes Schreiben, vermutlich Juni 83) mitteilte, daß er im Besitz einer Gerichtsakte in Sachen Telschow aus dem Jahre 1845 sei und anfragte, ob Fritz daran Interesse habe. Fritz muß darauf am 10.7.1983 geantwortet und gefragt haben, ob die Akte ihm nicht geschickt werden könne. Nebel antwortete am 26.7.83, daß er die umfangreiche Akte nicht per Post schicken könne, „sie würde mich bestimtlich in falsche Hände geraten". Er bot aber an, sie nach West-Berlin mitzunehmen. „Gegen einen kleinen Unkostenbeitrag (Einhundert)" wolle er die Akte Fritz überlassen. „Ich könnte mir dafür einen dringend benötigten Gegenstand kaufen den es hier nicht gibt." Fritz ging darauf ein und erhielt unter dem 17.8.83 die Anschrift des Überweisungsempfängers in West-Berlin. Zugleich teilte Nebel mit, daß er in der nächsten Woche in West-Berlin sein werde. Offenbar nach Empfang der Akte überwies Fritz am 29.8.83 150,-DM und erhielt am 2.9.83 die Bestätigung, daß das Geld angekommen sei. Unter dem 26.9.83 schickte Nebel dann noch eine kleine handgeschriebene Chronik von Pfalzheim. Trotz der strengen Grenzkontrollen der DDR hatte die Akte Westberlin erreicht. Eigentlich konnte das gar nicht möglich sein.

Zunächst konnte ich einen direkten Zusammenhang mit unserer Familie nicht erkennen. Später dann fiel mir der Trauschein von Carl Caspar in die Hände, aus dem sich ergibt, daß er der Sohn von Joachim Telschow ist. Auf einmal las ich Otto Telschows Stammtafel mit anderen Augen. Da war nämlich Carl Caspar wie ein jüngerer Bruder von Joachim Christian aufgeführt, wenn auch nicht ausdrücklich so genannt. Immerhin spricht nunmehr sehr vieles für die Annahme, daß Joachim der Vater und Joachim Christian sowie Carl Caspar die Söhne sind. Der einzige Einwand dürfte der sein, daß Joachim der ältere war, aber nicht den väterlichen Hof übernahm. Etwas merkwürdig, da nach allgemeinen Regeln doch der Ältere den Hof erbte.

Bauer in Pfalzheim: Caspar Telschow

Von Carl Caspar Telschow wissen wir nur wenig. Es wurde bereits erwähnt. Aber die ebenfalls genannte Prozeßakte gibt einige zusätzliche Informationen. In den Jahren 1845 und 1846 gab es einen Prozeß um das Eigentum an zwei Pfalzheimer Höfen, eine Geschichte, die bis in das Jahr 1808 zurückreichte. Die Prozeßakte enthält manche Angaben zu den damaligen Verhältnissen. Zu dieser Zeit gab es in Pfalzheim 8 Höfe: Rothacker, Nebel, Heise, Wegener, Villain, Wahl, Telschow und einen nicht genannten. Der Wahl´sche Hof war bereits 1808 offenbar nach dem Wegzug von Jakob Wahl von den anderen erworben worden. Der Telschowsche Hof gehörte bis 1827 Carl Joachim Caspar Telschow. Ihn erwarben die Verbleibenden nach dem Tod von Carl Caspar Joachim Telschow im Wege der im Rahmen der Erbauseinandersetzung durchgeführten Zwangsversteigerung 1828. In der Akte heißt es, daß nur noch zwei Wirthe die alten seien, alles andere seien Neueigentümer. Im Prozeß ging es um die Frage, ob deren Erbanteil an dem Wahlschen Hof 1828 mitversteigert worden sei oder nicht. Prozeßpartei waren die Schwiegersöhne Caspar Telschows für ihre Frauen. Es fällt auf, daß ein achter Hofbesitzer nicht genannt ist. Könnte das auch ein Telschow´scher Hof gewesen sein? Wohl nur, wenn hier Bauern und Büdner gemeint gewesen wären. Auch sprechen die zu Joachim Christian Telschow genannten Urkunden dagegen.

Am 12.3.1828 wurde das Telschowsche „Bauerngut" (Bauernhof) taxiert. Das Protokoll hierüber gibt einen guten Überblick über diesen oder einen solchen Hof:

„Der Telschowsche Bauernhof liegt in Pfalzheim. Die Aussaat besteht in 16 Scheffel Roggen, 5 1/4 Scheffel Hafer, 5 Scheffel Buchweitzen. Zu Weitzen und Gerste ist der Boden nicht geeignet, beides wird daher, wenigstens in der Regel, nicht ausgesäet. An Vieh können 2 Pferde, 3 Kühe, 4 Stück Jungvieh, 30 Stück Schaafe gehalten werden."

2 Carl Caspar Joachim Telschow 1791 - 1827 >>> Caroline Friederike Marie Peters 1793

Andere Telschows in Pfalzheim

In Pfalzheim lebten noch andere Telschows, deren Verwandtschaft mit uns nicht erwiesen ist und sich auch nicht konstruieren läßt. Es waren dies:

Ein weiterer Joachim Telschow nach der Stammrolle des Inf.Reg. 34: geschrieben „Telchow", * 1760 im Ruppinschen, lutherisch, Schneider, 5 Fuß 7 Zoll 2 Strich = 1.77m, 1780 eingetreten, 1790 Schütze, 1791 Corporal, verheiratet, 1 Sohn, 1793 Capitain d´Armes, 2 Töchter, 1794 Fourier, 1802 Sergeant, 1804 als Invalide Invalide dimittiert. Auskunft Pr. Geh. Staatsarchiv 28.8.1936.

Der Bauer Jacob Telschow: + am 30.7.1824 als Bauernaltsitzer zu Pfalzheim im Alter von 64 Jahren und 10 Monaten, ~ mit Sophie Anton, + am 12.2.1825 im Alter von 70 Jahren.

Nachgewiesen ist im Grundbuch von Rägelin Bd.4 Blatt Nr.99 auch, daß der Krüger Christian Friedrich Daniel Telschow am 2.5.1854 ein Hausgrundstück von einem Gutsbesitzer von Hoppelow erworben hat. Es könnte sich auch (Auskunft Amtsgericht Neuruppin vom 23.8.1935: „der Besitz der Familie Telschow" heute) um das Anwesen, das heute der Familie Dicks gehört, handeln. Allerdings sprechen hiergegen die Familienunterlagen.

Auch wird von Nebel ein Johann Telschow 1865 als Grundbesitzer aufgezählt.

24. JULI 1985

Wen zieht es nicht auch einmal an den Ort, der den eigenen Familiennamen als Ortsnamen trägt, oder besser: dessen Namen man als Familiennamen trägt ? Und wer hat nicht bei Besuchen in der früheren DDR seine Erfahrungen mit Schikanen der sogenannten Volkspolizei gemacht ? Wer fragt sich da nicht, warum diese vielen kleinen Tyrannen, die doch fast alle unkündbar in den Dienst des demokrati­schen Staates übernommen wurden, jetzt nicht wissen wollen, wie sie z.B. der Rechts­radikalen Herr werden können ? Aber das ist ein anderes Thema. Kommen wir zu­rück.

Im Juli 1985 fuhren Fritz und ich, diesmal mit Arndt, erneut in die alte Heimat. Wir wollten sie Arndt zeigen. Fritz wollte diese Reise aber auch mit einem Besuch bei seinem alten Freund Gerhard Hendrich verbinden. Da war es zweckmäßig, in Potsdam zu übernachten. Also buchten wir in dem schönen Betonkasten an der Langen Brücke. Vor Ort gab es zuerst eine wichtige Frage zu klären. Potsdam lag im Bezirk Potsdam, Templin, wo Hendrichs wohnten, im Bezirk Neu-Brandenburg. Von Frankfurt aus hatten wir nur eine Aufenthaltserlaubnis für den Bezirk Potsdam erhalten können. „Die andere wird ihnen das Hotel besorgen". Also ging ich am Morgen nach der Ankunft zur Rezeption und bat um Vermittlung der ergänzenden Aufenthaltserlaubnis. Die junge Dame mir gegenüber hörte sich das an und sagte mir, daß dies die Volkspolizei machen müsse. Auf meine Frage, ob sie mir dies nicht erledigen könne, antwortete sie, daß sie mit der Vopo nichts zu tun haben möchte. Also ging ich zur Volkspolizei in der Breite Straße. Nach dem ich den wilhelminischen Prachtbau betreten hatte, befand ich mich in einem weiten Foyer mit einer breiten, noch oben gehenden Treppe. Zu der ging es aber nicht auf dem geraden Weg. Goldene Ständer hielten dicke rote Kordeln, zwischen denen der Weg zur Treppe auf einem bedeutenden Umweg gekennzeichnet war. Unterwegs kam man noch an einer Art Empfang vorbei, wo ich meinen Wunsch äußerte und in das erste Geschoß Zimmer Nummer soundso verwiesen wurde. Das obere Foyer stand voller Bänke, auf denen alle Plätze von Wartenden besetzt waren. Die Flure waren leer. Also ging ich zu dem mir genannten Zimmer, klopfte an und trat ein. Drinnen fand ich zwei hübsche, junge Märkerinnen vor, die sich an ihren Schreibtischen gegenüber saßen und gerade bei einem Schwätzchen Kaffee tranken. Die links Sitzende fragte mich mit scharfem Unterton, ob ich nicht gesehen habe, daß die Leute draußen ebenfalls warteten. Ich erklärte, daß ich die Wartenden zwar gesehen, aber keinen Zusammenhang mit mir habe erkennen können. Da sagte die andere lachend: „Mensch, maa eener, der et wagt, jleich herzukommen. Bleibense maa." Ich erklärte also, was ich wollte, legte unserere Reisepässe vor, bekam in jeden einen Stempel und die Unterschrift der Holden, zahlte einige Mark, und die Sache war binnen weniger Minuten erledigt. So unkompliziert hatte ich es mir nicht vorgestellt, war es ja auch wohl normaler Weise nicht. Diktaturen leben nun mal davon, daß sie die Menschen mit ihren bürokratischen Ritualen einschüchtern. Und auch in demokratischen Staaten ist Bürgernähe manchmal ein Fremdwort. So schön, so gut. An anderer Stelle fiel es mir auch nicht so leicht, meinen lieben Sohn an den Umgang mit Diktaturen zu gewöhnen. Diskussionsfreudig, wie er ist, mußte er abends auf dem Zimmer das Gesehene im Gespräch verarbeiten. Offene Worte waren da nötig. Aber sollten wir das tun? Da das Hotel vor allem mit Ausländern belegt wurde, dazu gehörten wir BRD-Bewohner ja, war es mit Sicherheit verwanzt. Vorsicht war also geboten, wenn wir uns nicht Schwierigkeiten einhandeln wollten. Nun ja, schließlich haben wir uns doch vorsichtig verhalten.

Am 24. Juli 1985 zog es Fritz, Arndt und mich nach Telschow, einem kleinen Dorf unmittelbar an der Autobahnausfahrt Puttlitz. Von Potsdam aus fuhren wir die Au­tobahn Richtung Hamburg, vorbei an Nauen und Neuruppin und dem Autobahnkreuz Wittstock, und näherten uns unserem Ziel. Nun war Aufmerksamkeit geboten. Transitreisende durften die Autobahn nicht verlassen. Wir waren keine Transitrei­senden, aber konnte das der Vopo wissen, der vielleicht aus dem Busch die Auto­bahnausfahrt kontrollierte ? Unsere Aufenthaltserlaubnis erstreckte sich nur auf den Bezirk Potsdam, und wir wollten die letzte Ausfahrt dieses Bezirks benutzen. Ja, und dann stand wirklich ein Vopo-Fahrzeug auf der Brücke über der Autobahn, di­rekt an unserer Ausfahrt. Also, keinen Fehler machen!

Wir fuhren von der Autobahn ab, die kleine Nebenstraße in Richtung Norden und nach wenigen hundert Metern links in den Ort hinein. Ein kleines Dorf, nur eine Straße, allerdings mit erstaunlich großer neugotischer Kirche. Hinten wenden, denn eine Ausfahrt gab es dort nicht. Zurück zum Ortsschild. Dreißig Meter vor der Land­straße gehalten. Ein Foto vom Ortsschild gemacht (darf man das ?). Ein Schwätz­chen mit einer älteren Frau, die wissen wollte, was wir suchen. Ihr erklärt, daß wir Telschow heißen. Sie uns gesagt, daß keine Telschows im Ort wohnen würden. Losgefahren, in die Landstraße eingebogen. Doch wer kommt da mit flottem Tempo? Die Volkspolizei und stoppt uns. Selbstpeinigende Fragen, was man falsch ge­macht hat (Fotografieren des Ortsschildes? Also Foto verstecken). Ja, und dann das übliche Ritual: Pässe zeigen und Autopapiere; was man hier wolle (Telschow usw.); ob man die Verkehrsregeln kenne (natürlich); warum man sich dann nicht an die Rechtsordnung der DDR gehalten habe (kein Schuldbewußtsein); und schließlich die Aufklärung: Halten im Kreuzungsbereich; Ergebnis: Ordnungsstrafverfügung über 20.- DM.

Bei der ganzen Diskussion saß ein sichtlich ungehaltener Vater neben dem Fahrer, und war erbost über diesen Umgang mit uns. Trotz einschlägiger Erfahrungen war auch mir nicht wohl. Aber was soll's. Unter dem schönen Aktenzeichen ,,konstant 329 variabel 1283440" haben wir für alle Zeiten amtlich bescheinigt, daß wir am 27.Juli 1985 um 11.05 Uhr mit dem Pkw F- AH 748 in Telschow gewesen sind.

Ein Dorf Namens Telschow

Aber was bedeutet eigentlich Telschow? Haben Namen überhaupt noch Bedeu­tung, die über die Kennzeichnung eines Menschen hinausgehen? Den Nachnamen erbt man oder erwirbt ihn bei der Heirat, auch wenn es dafür im heutigen Familienrecht mehr Möglichkeiten gibt als früher. Nur die Namen weniger Familien geben darüber ­hinaus etwa besonderes Ansehen. Vornamen suchen die Eltern häufig unter dem Gesichtspunkt aus, was sie schön finden oder welches Idol sie haben. Früher war das anders. Die Nachnamen sagten etwas über Herkunft, Beruf oder Leistung aus. Die Vornamen sollten dem Menschen etwas mit auf den Lebensweg geben wie Glück oder Erfolg oder Beistand.

So ist es auch heute noch interessant, der Bedeutung von Namen und ihrer Ver­wendung nachzugehen, ganz besonders dem eigenen Familiennamen. Dies gilt auch für den Namen Telschow. Unser Familienname leitet sich wohl her von dem Ort in der Prignitz gleichen Namens. Folgt man der einschlägigen Literatur, so ist die Grund­form das altpolabische ,,Telckov", das soviel bedeutet wie ,,Ort eines Telcek". Und dieses Telcek wiederum ist hergeleitet von altpolabisch ,,telec" Kalb. Der Ort Telschow hat zumindest in seiner Schreibweise einen seltsamen Wandel vollzogen. 1324 Teltzkowe, 1399 to telzkow, 1405 teltzekow, 1492 Telczkow, 1581 Delßkow, 1652 Telzkow, 1686 Teltscho, 1688 Telschow, 1753 Telschow. Aber auch zwei andere deutsche Ortsnamen haben den gleichen Stamm, nämlich Thelkow Kreis Rostock und Dölkau Kreis Merseburg. Die Endung „ow" bedeutet so viel wie Hof, Gut, Dorf. Auch sprachlich sind die verwandtschaftlichen Beziehungen zu andern slawischen Sprachen interessant. Im Polnischen heißt das abgesetzte Kalb oder Heukalb cielec und das Bullenkalb ciolek. Letzteres ist auch das Wort Kalb als Schimpfwort oder niedersorbisch als kälberhafter Mensch. Im Alt-Tschechischen ist telec das Kalb, im Russischen ein junger Ochse.

Nun ja, man sieht, die sprachlichen Assoziationen lassen freundlichere und weniger freundliche Interpretationen zu. Wollen wir uns darauf verständigen, daß Telschow einstmals ein Ort war, an dem ein Slawe lebte, der wenigstens ein Kalb hatte. Das war offenbar im Mittelalter so bemerkenswert, daß er sich danach nannte oder da­nach genannt wurde.

Telschow gehörte im Mittelalter zu den Besitzungen der Edlen Gans zu Puttlitz und stand unter der Ober-Lehnsherrschaft des Bischofs von Havelberg. Danach wechselten die Besitzer. 1576 lebten dort 19 Hüfner und 4 Kossäten. Auch im Prignitz-Kataster von 1686-1687 wird es erwähnt. Unter den 12 besetzten Hüfner-Stellen, den 7 wüsten Hüfner-Stellen, den 5 besetzten Kossäthen-Stellen und der wüsten Kossäten-Stelle taucht aber kein Telschow auf. Dagegen lesen wir von Hanß, Joachim, Jacob, Baltzer und Michel Teltschko sowie von Peter Teltschkos Witwe in Buchholtz; von Batzer Teltschko in Kämnitz; von Joachim Teltscho in Neuen Krüßow; von Michel Teltscho in Kohlreip; von Jacob, Peter und Joachim Teltscho in Schönbeck; von Chel Teltscho in Boddin; von Jacob Teltscho in Lütken Wolterstorff; von Jacob Teltscho in Meyenburg, der auch die Konzession zum Brandweinbrennen hatte; von Tieß Teltscho in Falkenhagen, von Michel Telscho in Tuchen und von Hanß Telscho in Döllen. Der Name Telschow war also damals in der Prignitz durchaus oft vertreten, vor allem in der Umgebung von Pritzwalk. Frühere Versuche, verwandtschaftliche Verbindungen herzustellen, sind allerdings fehlgeschlagen.

Der Ort, von dem hier die Rede ist, und unser Familienname ist derselbe. Haben sich die Telschow nach dem Ort, aus dem sie ursprünglich stammen, genannt? Oder heißt der Ort so, weil ursprünglich hier ein Telschow gesiedelt hatte? Wir wissen es nicht, aber wir sehen einen Zusammenhang, der verstärkt wird angesichts der Tatsache, daß die Prignitz ganz offensichtlich die Heimat der Telschow ist. Die Prignitz ist eine der alten Landschaften der Mark Brandenburg. Bis zur Völkerwanderung lebte hier der Stamm der germanischen Semnonen. Die zogen in der Völkerwanderung nach Süden, wohl weil der Boden nicht mehr genug Ernte hergab, und traten um 200 n.Chr. im Maingebiet als Alamannen auf. Erst im 7. Jahrhundert sind dann slawische Völker von Osten her nachgerückt. Der arabische Händler Ibrahim ibn Ja´qûb berichtete noch um 970: „Das ganze Land besteht aus Wiesen, Dickicht und Morast". Die vorwiegend von Jagd, Fischerei und Viehzucht lebenden Neuankömmlinge siedelten also in den Tal- und Flußniederungen. Sie gehörten zu einem großen Volk, ursprünglich Wilzen, dann Liutizen genannt. In der Prignitz waren es die Linen oder Linonen. Nach verschiedentlichen kriegerischen Auseinandersetzungen begann die Besiedelung des Landes durch die Deutschen mit dem Kreuzzug von 1147, bei dem den Slawen das Heidentum ausgetrieben werden sollte. Übrigens wurde hier nicht nur der Begriff Kreuzzug verwendet; vielmehr galten auch die gleichen Regeln wie bei den Kreuzzügen ins Heilige Land: Sündenerlaß für die Teilnehmer und Garantie von deren Eigentum, auch des neu erworbenen. Bereits weniger als hundert Jahre später waren die Erschließung des Landes und seine neue Besiedelung vollzogen. Starke Reste der slawischen Bevölkerung hielten sich, alte und neue Bevölkerung verschmolzen langsam in einem Integrationsprozeß, nun ohne Anwendung größerer Gewalt. Unser Name und die Kleinwüchsigkeit der Telschow bis in die Generation meines Vaters lassen vermuten, daß die Telschow ihre Wurzeln in dieser alten slawischen Bevölkerung haben.

Theodor Fontane: Die Wenden in der Mark

Sie spinnen, Haben Linnen,
Sie regeln
Den Fluß undas Meer
Und mit Schiffen und Segeln
Sind sie zu Hause auf offenem Meer.
In trotzigem Mut
Gastfrei und gut,
Haben für ihre Götter und Sitten
Sie wie die Märtyrer gelitten.

Altruppin und Neuruppin

Altruppin ist das alte Zentrum der Herrschaft Ruppin. Ursprünglich eine Burganlage, entwickelte sich hier eine kleine Stadt, schon bald aber von der neuen Stadt „Neuruppin" in der Bedeutung abgelöst. Noch heute liegt Altruppin romantisch dort wo der Rhin in den Ruppiner See einmündet; allerdings zerschnitten durch die stark befahrene Straße von Neuruppin nach Herzberg. Bis ins 20. Jahrhundert hinein war dies keine Durchgangsstraße. Von Neuruppin kommend, kam man rechts in den Schloßbereich, während die Durchgangsstraße vor der Kirche nach links über die Langen Brücke (nach der Sprengung 1945 und heute ein besserer Holzsteg) durch den Fischerkiez führte. Von dieser Brücke hat man noch heute einen wunderschönen Blick auf den Rhin. Früher, als hier noch Dampfer fuhren, pflegten Kinder dem Kapitän zuzurufen. „Onkel Jenge, tute mal". Onkel Jenge antwortete dann mit einem langgezogenen „Tuuuuut". Westlich des Rhins lag also die Altstadt, östlich der Fischer-Kitz. Noch heute ist diese Anlage sehr schön zu erkennen. Mitten in der Altstadt liegt die St. Nicolaikirche aus dem 13. Jahrhundert. In den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts präsentierte sich Altruppin sogar als Kurort, eine alte Postkarte von der Jahrhundertwende zeigt Altruppin als „Kur- und Seebad". Neuruppin aber ist bis heute bekannter; als Geburtsort Theodor Fontanes, des großen Dichters und Romanciers der Mark Brandenburg; als Geburtsort Friedrich Schinkels, des großen preußischen Baumeisters, der bis heute mit seinen klassizistischen Bauten aus dem Stadtbild Berlins nicht wegzudenken ist; als Aufenthaltsort des preußischen Kronprinzen Friedrich, des späteren Friedrich II., nach der Aussöhnung mit seinem Vater und bevor er Rheinsberg bekannt machte; als Ort, von dem aus die Neuruppiner Bilderbögen, die erste „Bild-Zeitung", ab 1791 in alle Welt gingen. Auch die Garnison hat Neuruppin stark geprägt. Hier hatte auch bereits Joachim Christian Telschow seiner Militärdienstpflicht Folge geleistet, im Regiment Prinz Ferdinand, das hier von 1742 bis 1806 mit zwei Bataillonen lag. Da das Kantonssystem galt, nachdem jedes Regiment sich aus einer bestimmten Region rekrutierte, kamen nach Neuruppin vor allem Soldaten aus dem Land Ruppin. Im Jahr 1806 bestand die Garnison aus 2.180 Mann, von denen 837 Dienst taten. Die anderen waren meist beurlaubt. 424 waren verheiratet und hatten 704 Kinder. Auch für die Soldatenkinder wurde etwas getan, um sie zu nützlichen Gliedern der Gesellschaft heranzuziehen. Für die Jungs gab es seit etwa 1780 die Garnison- und Industrieschule, für die Mädchen ab 1796 die Kanten-Klöppelschule und 1797 die Wollstreicherschule. Vergessen wollen wir aber auch nicht, daß hier die Landes-Nerven-Heilanstalt war, von der aus Karl Schlafke im Rahmen der „Euthanasie" in die Gaskammer geschickt worden war. Und in Altruppin erinnert ein Gedenkstein daran, daß hier im Frühjahr 1945 die Häftlinge des Konzentrationslagers Sachsenhausen auf dem „Todesmarsch" vorbei gekommen sind.

Ein Blättern im Ruppiner Anzeiger der Jahre 1839 und 1840, läßt uns einiges vom Leben der Menschen dort in dieser Zeit ahnen. Da mußte im Frühjahr immer wieder verboten werden, Gras auf öffentlichen Grünflächen zum eigenen Gebrauch zu schneiden. Immer wieder gab es auch Aufforderungen, nicht zu wildern und nicht zu fischen. Bei einem Brand war den Betroffenen eine lange Liste Kleidung, Wäsche, Stoffe gestohlen worden. Den Gartenbesitzern und Bauern wurde Dünge-Gips zur Ertragsteigerung angeboten und Bauherren besonders guter englischer Zement. Der Weinbergbesitzer Glagow teilte mit, daß am kommenden Wochenende eine kostbare Tabackspfeife ausgetanzt wird. In den Kasernen wurden zweischläfrige Betten durch einschläfrige ersetzt.

Alle möglichen Händler boten Delikatessen an: Berger Fettheringe, Magdeburger Sauerkraut, Borsdorfer Äpfel, breite Kartoffeln, Weser-Lachs, Braunschweiger Cervelatwurst, Magdeburger Schlackwurst, Jauersche Bratwurst, fettes Hamburger Rauchfleisch, Kränzliner und Woltersdorfer Tafelbutter, Pökel-Rindfleisch, Astrachanischen Kaviar, Messinaer Apfelsinen und Zitronen, Rheinneunaugen, Rigaer Leinsamen, Stralsunder Bratheringe, Brabanter Sardellen, Westfälischen Schinken, Potsdamer Leber-, Schlack- und Preßwurst, Schweizer Sahne- und Limburger Käse, Hallische Saure Gurken und Pflaumen. Offenbar waren das ja alles verlockende Angebote, sonst hätten sie nicht in der Zeitung gestanden. Und es wundert, wo die Ware überall herkommt. Aber auch für die Damenwelt gab es Besonderes. Von den Einkäufen auf der Leipziger Messe zurückgekehrt, bot H. Löwy einem geehrten Publikum seine wirklich schön gewählten neuen Modewaren an: allerneueste Mousselin de laine-Kleider, schwere schwarze und couleurte Seidenzeuge, die allerfeinsten ächt französischen, engländischen und inländischen Kattune, feinste bunte Mousseline und Jacquinets. Witwe Köppen andererseits wollte schwere Altlashüte, andere Seidenhüte, Florencehüte, seidene Kinderhüte, Blondenhauben, Tüllhauben, Tüllhauben mit Patte und Band, Haubenköpfe, Sommerhüte, Kinderhüte, Chemisetts und Morgenhauben verkaufen.

König Friedrich Wilhelm III wurde zu seinem Geburtstag am 3. August 1839, seinem letzten, mit dem folgendem schö-nen Gedicht gratuliert. So formulierten und empfanden damals wahre Preußen:

Zum 3. August 1839

Der König lebe, lebe lang´! Ihm tönt das Lied aufs Neue.
Nicht scheu´n wir Not, noch Waffenklang,
Fest hält der Preußen Treue.

Er kennt sein unvergänglich Gut,
Er kennt das alte Preußenblut.
Wir fühlen es, das Herz erglüht,
Drum sing´ ich, König, Dir mein Lied.

Wir hielten uns in blut´ger Schlacht,
In sturmbewegten Zeiten,
Als Friedrich Wilhelms heilge Macht
Die Freiheit wollt´erstreiten.

Der König rief, das Volk stand
Mit Gott für ihn und Vaterland.
Wir fühlen es, das Herz erglüht,
Drum sing´ ich, König, Dir mein Lied.

So stehn´wir noch, wankt auch die Welt,
Uns halten theure Bande,
Es beut die tapfre Brust der Held
Zum Schirm dem Preußenlande.

Für Friedrich Wilhelm Gut und Blut,
Das ist der alten Preußenmut,
Wir fühlen es, das Herz erglüht,
Drum sing´ich , König, Dir mein Lied.

Der Geschichtsbeflissene merkt, daß hier zunächst an die Befreiungskriege angeknüpft wurde, die in der Erinnerung noch lebendig waren. Dann aber wurde auf die sogenannte Vormärzzeit angespielt. Vor 1839 hat es, von Frankreich ausgehend, schon überall in Deutschland liberalrevolutionäre Bestrebungen gegeben, zum Beispiel das Hambacher Fest. Dieses Gedicht und das folgende zeigen uns sehr schön, mit welchen Inhalten und in welcher Form Mitte des 19. Jahrhunderts preußischer Nationalismus gepflegt wurde. Wurde 1839 zum Geburtstag des Königs gratuliert, so gab es 1840 einen Nachruf anläßlich seines Todes

Auf den 7. Juni 1840 (Auszug)

Fließt unsre Thränen nieder!
Ertönt des Schmerzes Lieder,
Und werdet Grabgesang!

Es wehn des Todes Schauer -
Und allgemeine Trauer
Seufzt in der Glocke Feierklang.

Er, der uns mit dem Schilde
Der Liebe, Kraft und Milde,
So lang´er herrscht´, umgab -

Sein Reich auf Weisheit stützte,
Das Recht, die Wahrheit schützte,
Des Landes Vater sank ins Grab!

Für immer nun geschieden,
Schläft er in stillem Frieden,
In des Gewölbes Schooß!

Zwar schmückt den Geist zum Lohne
Des Himmels schön´re Krone -
Doch trauervoll ist unser Loos!

Einblick in die damaligen Verhältnisse gibt uns auch die Anzeige, mit der ein J.W. Nauck in Lüchfeld den Verkauf seiner Büdnerstelle anbietet. „Dieselbe besteht: 1) aus einem Wohnhause, worin 2 Stuben, 4 Kammern nebst Bodenraum und ein gewölbter Keller; 2) der gegenüber stehenden Scheune, darin mit eingebaut Stallung für 2 Pferde, 4 Kühe, ein Futtergang und eine Futterkammer, 1817 erbaut; 3) einem neuen Stalle mit Ziegeln gedeckt, worin Stallung für 4 Schweine, ein Wagenschauer und 2 kleine Federviehställe befindlich, 1826 erbaut; 4) hinter dem Gehöfte liegen 2 ½ Morgen Gartenland von erster Klasse Waizenbodens in bester Kultur; auch kann von dem Kaufgelde auf Verlangen ein Theil gegen 4 Prozent Zinsen zur ersten Hypothek darauf stehen bleiben."

21.Mai.1990

Im Sommer 1989 hatten wir die Ferien mit Fritz und Marthel in Falkau verbracht. Es hatte sich so getroffen, dass Fritz zur gleichen Zeit Besuch aus der DDR hatte. Sein Jugendfreund Gerhardt Hendrich war mit seiner Frau aus Templin/ Uckermark gekommen und ein einstmals „junger Beamter" vom Konsistorium in Ost-Berlin namens Lothar Langer. Mit unserm Auto zeigten wir ihnen die Gegend. Abends schauten wir gemeinsam interessiert, was sich in den deutschen Botschaften in Budapest, Prag und Warschau tat. An den Fall der Mauer dachte noch niemand. Aber die Gedanken gingen zurück zum 13. August 1961, als Gerhardt Hendrichs Frau mit zwei Töchtern bei uns in Berlin zu Besuch gewesen war, wie an diesem Tag auch unsere frühere Nachbarin aus Wilhelmshorst, Leni Schröder. Daß die Mauer Trennung bedeuten würde, war klar. Aber wie sollte man reagieren. Für Hendrichs war ebenso klar: „Wir bleiben in der DDR, was immer kommt". Also fuhren sie schnellstens nach Hause. Für Leni Schröder hieß es: „Ich will noch raus, aber mit alter Mutter und Sohn." Also fuhr auch sie zurück, kam aber nicht mehr raus. Schmerzliche Erinnerungen waren das. Mit Langer sprach ich auch über Familienforschung. Er wollte sich im Ruppinschen erkundigen, wer mir wohl dabei noch behilflich sein könnte. Am 21.1.1990 erhielt ich einen Brief, der als Archivpfleger für den Kirchenkreis Ruppin Medizinalrat (i.R.) Dr. Franz Fritzsche nannte. Am 29.4. 1990 wendete ich mich an diesen, weil wir am 21. Mai, einen Tag nach Annemarie Dietzes 80. Geburtstag nach Neuruppin fahren wollten. Freundlich war die Antwort. Wir, d.h. Bärbel, Fritz, Marthel und ich, suchten vormittags Dr. Fritzsche auf und wurden freundlich begrüßt. Eine Tasse Kaffe gab es, und auf dem Tisch lagen die Kirchenbücher von Pfalzheim und Storbeck. Ich vertiefte mich in die Unterlagen, Franz und Fritz politisierten. Auch nachfolgend erhielt ich von Fritzsche noch Unterlagen. Aber ebenso spannend war, was er über die Wendezeit in Neuruppin erzählte. Da kam einem das, was wir im Fernsehen gesehen hatten noch einmal näher. Wir ermunterten ihn, das doch aufzuschreiben. Er tat es, und einige Wochen später hatte ich den schriftlichen Bericht in der Hand. Er soll hier folgen.

Die Wende in der Mark

W i e w a r d a s e i g e n t l i c h ?

8 Monate in unserer märkischen Kleinstadt, wie wir sie erlebten.

(Oktober 1989 - Mai 1990)

Da war zunächst der Hochsommer des Jahres 1989, in welchem viele DDR-Bewohner Urlaubsreisen nach Böhmen und Ungarn machten, wobei nicht alle Urlauber zurückkamen. Vorwiegend Jugendliche, oft ganze Familien, versuchten, durch Flucht in die bundesdeutschen Botschaften in Budapest, Prag und Warschau, die sehr rasch hoffnungslos überfüllt waren, die ersehnte Ausreise aus der streng bewachten DDR zu erzwingen. Wir selbst, längst im Rentenalter, also „reisemündig" , waren im September in Hessen mit Familienangehörigen beisammen. Die täglichen Meldungen über Anzahl der Flüchtenden, über die rapid sich verschlechternde Versorgungslage in der DDR beunruhigten uns sehr, und haben auch diese Erholungszeit drüben für uns überschattet. Offensichtlich war die DDR dabei, große Bevölkerungsteile zu verlieren, die dort für die Arbeit sehr gebraucht wurden. Noch jubi1ierten westliche Politiker und Reporter, weil gut ausgebildete, junge Menschen auf dem Wege in das westliche Deutschland waren. Die Machthaber in der DDR schienen völlig gelähmt zu sein. Abgesehen von der Verlautbarung, daß man auf solche undankbaren Staatsbürger gern verzichte und ihnen keine Träne nachweine, war nichts zu hören. Anscheinend die wirkliche Situation völlig falsch beurteilend, beharrte man auf der Illusion, ein souveräner Staat zu sein, und veranlaßte, daß all die eben noch in der Botschaft in Prag befindlichen Ausreisewilligen in Sonderzügen durch Sachsen in die Bundesrepublik transportiert werden mußten, wodurch die Möglichkeit entstand, diese Personen hier im eigenen Staatsgebiet auszuweisen, ihnen die Staatsbürgerschaft der DDR zu entziehen. Dies führte dann in Dresden, am Hauptbahnhof, zu Zusammenstößen zwischen weiteren Ausreise willigen und „bewaffneten Organen". Übergriffe durch Polizei und Stasi gegen Demonstranten folgten auch in anderen Orten in diesen Tagen. Die meines Wissens seit etwa 7 Jahren jeweils am Montag Abend in der Leipziger Nikolai-Kirche regelmä-ßig stattfindenden Friedensgebete waren für staatliche Dienststellen längst ein erhebliches Ärgernis, zumal sich dann anfangs kleinere, dann größere, zuletzt gewaltig große Deonstrationen anschlossen. Bekanntlich entwickelte sich dort am 9.10. eine Situation, die jeden Augenblick den Beginn gewalttätiger Auseinandersetzungen befürchten ließ. Natürlich beobachteten auch wir hier in dem von Großstädten und Hauptverkehrslinien recht abgelegenen Neuruppin dies alles mit großer Sorge. Noch war nicht zu erkennen, was die nächsten Tage bringen würden, als wir am Abend des 3.10.1989 beschlossen, auch in Neuruppin zu Friedensgebeten einzuladen. Einen guten Überblick über dieselben gibt ein Artikel, den Herbert Schulze Ende März 1990 im „Ruppiner Anzeiger", einer kleinen, neu geschaffenen Wochenzeitung, veröffentlichte mit dem Titel

Gedanken zum Neuruppiner Friedensgebet.

„Sehr genau erinnere ich mich an jenen Abend des 10. Oktober, als wir zum ersten Friedensgebet in die Klosterkirche eingeladen hatten. Eine kleine Gruppe hatte sich acht Tage zuvor im Rahmen unseres sporadisch stattfindenden Informationsabends darüber verständigt. ,,Sollten wir nicht auch in Neuruppin etwas Ähnliches tun wie z.B. die Gethsemane-Gemeinde in Berlin oder wie Gemeinden in Leipzig?" Wir einigten uns auf den folgenden Dienstag. Das war der Dienstag nach den Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag der DDR.

Wir ahnten nicht, wie sich die Lage bis dahin zuspitzen würde. Die Gewaltanwendung gegen sich versammelnde Bürger in Lindow, die Inhaftierung von Jugendlichen im Neuruppiner VPKA, hatten das Klima in der Bevölkerung angeheizt.

Die Junge Gemeinde hatte ein paar Aushänge in der Stadt angebracht: „Friedensgebet". Name und Sache waren den Menschen offenbar längst bekannt. Das hatten wir so nicht angenommen; denn statt der erwarteten 30 bis 50 Personen hatten sich etwa 1000 Menschen in der Klosterkirche eingefunden. Wir hatten großes Herzklopfen. Eine Lesung aus der Bibel war vorbereitet, ein Lied ebenfalls, eine große Zeichnung war zu sehen - ein Baum (DDR) sollte wachsen, endlich wachsen. Und dann: Informationen, offene Worte, in der Öffentlichkeit gesprochene Worte; nichts mehr hinter der vorgehaltenen Hand, nichts mehr im intimen Kreis. Das in den eigenen vier Wänden Gesagte wurde plötzlich laut. Verschwiegene Nachrichten wurden weitergesagt - aus anderen Städten, von sich gründenden Bürgerbewegungen, von Verhaftungen, von den Ausschreitungen der Polizei gegen friedliche Demonstranten in Berlin.

Und dann - Friedensgebet. Menschen lassen sich auffordern, kommen nach vorn, schütten ihr Herz aus, klagen, bitten - öffentlich, voreinander, manche vor Gott. Gebet um Bleiben in der Gewaltlosigkeit. Und die Menschen klatschen, wenn sie spüren: das, was dort jetzt gesagt wird, das ist auch unsere Meinung, so denken wir auch, das fühlen wir auch.

So war das. Viele werden sich erinnern. Und so blieb es, über viele Wochen. Es kommen immer mehr Menschen. Sie kommen nicht nur aus Neuruppin, sondern aus dem ganzen Kreisebiet. Schon ab 18.00 Uhr begehren sie Einlaß, füllen sie den großen Kirchenraum, alle Sitz- und alle Stehplätze. Einige Male müssen wir nach draußen übertragen. Die Klosterkirche war viel zu klein geworden. Mit Mühe nur können wir den Platz im Mittelteil erreichen, um an die Mikrofone zu gelangen. Die Stimmung ist aufgeregt, gespannte Erwartung ist spürbar. „Was für ein großartiges Volk", sagt jemand. Welch konzentrierte Aufmerksamkeit. Der Kantor beginnt sein Orgelvorspiel - eine halbe Stunde lang. Und immer noch strömen die Menschen herein. Eine kleine Vorbereitungsgruppe teilt sich die Aufgaben. Sie sitzt ein, zwei Tage zuvor beieinander. „Was ist jetzt dran? Wo stehen wir? Was empfinden wir selbst? Was hören wir von anderen? Kantor, kannst du ein Lied dazu machen, einen Text und eine Melodie finden?" Etwa 7 Personen haben sich im Laufe der Zeit bei der Durchführung der Friedensgebete beteiligt.

Anfangs war da auch immer die Sorge - ob es wohl wieder gewaltfrei und friedlich sein würde. Der Zorn war groß in diesen Wochen. Die Menschen waren verwirrt und erschüttert, und sie begehrten auf und schrieen hinaus, was sie gequält hatte. Und wer waren wir? Wir waren selber verwirrt und erschüttert, unsicher, mit welchen Worten wir ermutigen, ermahnen, trösten, Hoffnung geben sollten. Und wir wußten, daß sehr viele Nichtchristen kamen. Würden wir Worte finden, die ihnen etwas die christliche Botschaft erschließen, würden wir Worte der Orientierung finden, Hilfreiches sagen können ? Manchmal war es uns wohl gegeben. Biblische Texte kamen uns plötzlich sehr nahe. Und was nicht zu vergessen ist: Wir brachen von der Klosterkirche zu der ersten Diskussion mit den damals führenden Leuten auf, wir vereinbarten in der Klosterkirche den Runden Tisch des Kreises. Wir haben hierher zuerst den Chef der Stasi eingeladen, damit er uns Rede und Antwort stehen sollte. Wir trauerten hier mit dem rumänischen Volk und1ießen unsere Freude über seine Befreiung jene rumänische Familie spüren, die einmal in unserer Mitte war.

Manche unserer Gemeindemitglieder machten besorgte Gesichter. ,,Das alles soll auch Kirche sein? Und das alles in der Kirche ? Die Kirche als Ort für alle, die reden wollen? Die Kirche als Ort, an dem die neuen Gruppen ihre Positionen darstellen, an dem es heiß hergeht, an dem auch gestritten wird ? Gehört das nicht eher auf den Marktplatz?" Mancherorts war das so. In Neuruppin wurde die Kirche zum Markt. Und sie wurde ein Schutzraum für uns. In der Bibel steht: „Wenn schlimme Tage kommen, nimmt Gott mich bei sich auf; er gibt mir Schutz unter seinem Dach und stellt mich auf sicheren Felsengrund."(Psalm 27.5). So war das.

Inzwischen ist die Zeit weitergegangen. Die Probleme verlagerten sich. Neue Probleme kamen und kommen. In der Klosterkirche ist es dienstags still geworden. Am 13. März beendeten wir vorerst das Neuruppiner Friedensgebet. Es war das 21. Wir beendeten es in dieser Form. Wir beginnen es wieder, wenn es Zeit ist. Wir hören nicht auf, für den Frieden zu beten und uns um den Frieden zu kümmern - nicht nur um unseren, sondern um den der ganzen Welt.

Wenn ich mich an die Zeit der Friedensgebete zurückerinnere, bin ich vor allem dankbar dafür, daß es uns als Kirche geschenkt wurde, den Menschen in einer gefahrvollen Zeit zu dienen. Ich werde daran denken, wie viele in unserer Gemeinde über dieser wöchentlichen Aufgabe zusammenwuchsen. Ich werde daran denken, daß uns die Kälte nicht abgeschreckt hat. Wenn ich mich zurückerinnere, werde ich auch immer an die Kerzen denken, die wir in der dunklen Jahreszeit angezündet haben und an das Lied, welches wir jedes Mal gesungen haben:

Friede sei mit dir

und Friede sei mit mir,

Friede mit uns allen,

und mit der ganzen Welt."

Soweit jener Zeitungsartikel unseres Superintendenten.

Ich meine, daß er sehr vieles deutlich macht, was wir erlebt haben. Mit dem hier eben abschließend genannten Lied wurden fast alle dieser Friedensgebete beendet. Dabei wurde die Kirche verdunkelt; nur die Kerzen brannten, die wir fast alle in den Händen hielten. Zuweilen brannten auch nur Kerzen auf dem Altar, wo jeder, der dort laut und öffentlich seine Sorgen, seine Bitten, sein Gebet ausgesprochen hatte, eine brennende Kerze aufstellte; wir faßten uns dann beim Singen in dem sonst dunklen großen Raum an den Händen. Es ist das Gefühl des Zusammengehörens sehr gewachsen in jener Zeit, als viele andere es für richtig hielten, dieses Land zu verlassen. Daß gemeinsames Singen die Menschen verbinden kann, ist nicht neu. Aber wie bringt man diese große, seit Jahrzehnten schweigende Menschenmenge zum Singen? So wurde es beim 1. Friedensgebet hier versucht mit dem „We shall overcome.."; und das ging. Später einmal gelang es, daß wir alle gemeinsam „Dona nobis pacem", ein anderes Mal ,,Schalom, schalom..." sangen. Jeweils zu Beginn des Abends, nach dem schon genannten Orgelvorspiel, brachte unser Kantor, teils eigene Lieder zur Laute, teils solche von anderen Liedermachern zu Gehör, zum Thema des Abends, zur Situation der Zeit passend, wobei oft alle laut einstimmten. Anfangs ging freilich nicht alles so froh hier zu. Vorwiegend kamen ja die zahlreichen Nicht-Christen zu uns wegen des Informationsteiles, in dem wir alle die Nachrichten erhielten, die es sonst nicht gab. So hatte der 1.Sekretär der SED-Kreisleitung, zugleich mit Befehlsvollmacht über die Stasi ausgestattet (wie wir in diesen Wochen erfuhren) den Versuch gemacht, Genossen seiner Partei in einem hiesigen Industriebetrieb zu veranlassen, sich zum 1. Friedensgebet auf den Kirchenbänken zu verteilen, dann für „konterrevolutionäre Stimmungen und Aktionen" zu sorgen. Zugleich war die Kirche an diesem 10. Oktober in den dunklen Seitenstraßen weiträumig von „bewaffneten Organen" umstellt worden, wobei natürlich auch all die Lastwagen nicht fehlten, auf denen man dann die Kirchenbesucher abtransportieren wollte. Das in allen Einzelheiten geplante Vorhaben konnte nicht realisiert werden, da die Genossen Industrie-Arbeiter sich weigerten. Natürlich waren anfangs immer noch zahlreiche Stasi-Mitarbeiter unter uns, die unschwer zu erkennen waren. Klatschen und Singen fiel ihnen schwer. - Es war noch in den ersten Wochen, als mich auf der Straße ein mir gut bekannter Handwerksmeister, jetzt Rentner, ansprach und darum bat, wir möchten dies weiter machen, am Dienstag Abend. Das gibt so viel Kraft; allen sage ich es, sie sollten hingehen. Und so kamen auch immer mehr.

So kamen zum 2. Friedensgebet hier etwa 1500 Menschen. Eine Woche später waren es 2-3000, dann fast 4000. Längst reichte der Kirchenraum nicht mehr. Man stand in ihm dicht gedrängt, und voller Menschen war auch der weite Platz um die Kirche. In den vergangenen Jahrzehnten hatten wir mit keiner Zeitungsanzeige für kirchliche Veranstaltungen werben dürfen. Nur handgeschriebene Einladungen, bzw. großflächige handgefertigte Plakate an Kirchentüren oder Holztoren kircheneigener Gebäude wiesen auf Konzerte und andere Veranstalzungen der Kirche hin. Jetzt fragten wir nicht mehr. Die notwendigen langen Kabel wurden besorgt und die Lautsprecheranlagen, sodaß man draußen vor der Kirche auch ganz dabei sein konnte. Wir Alten, die einfach nicht in der Lage waren, 2-5 Stunden abends in der Kirche zu stehen, nahmen einen Camping-Stuhl unter den Arm, und fanden immer noch einen Platz für diesen.

Bald nach Beginn der Wende teilten hier die Massenmedien mit, daß der Neuruppiner Truppenübungsplatz aufgelöst werde. Von einem solchen wußten wir alle nichts. Allmählich konnten wir im Informationsteil unserer Abende Einzelheiten erfahren: Da gab es in den Wäldern im Nordteil unseres Kreises ein mehrere Quadratkilometer großes Sperrgebiet mit einem Truppenübungsplatz der Stasi. 2 Tage lang rollten nun die Straßenpanzerwagen aus diesem Gelände. Dann wurden die Waffen von dort abtransportiert. Nun sind (unbefugt) erstmalig ganz normale Bürger in dieses Gelände gegangen, um hier große Drahtkäfige zu erblicken, gut geeignet um viele Menschen einzusperren, das für uns errichtete KZ. Am Himmelfahrtstag sind auch wir in diesen bisher zum Sperrgebiet erklärten Wald gefahren. 4-5000 Menschen versammelten sich dort zu einem einmalig schönen Gottesdienst, denn wir haben diese Schreckenszeit überlebt.

Es gab auch gute Nachrichten bei unseren Friedensgebeten. Stets wurde zum Abschluß am Ausgang eine Kollekte erbeten. Viele Tausende kamen da zusammen. Anfangs war dies Geld, um von der Polizei verhängte Strafen bezahlen, dann für Instandsetzung kirchlicher Gebäude, Hilfen für ein marodes Altersheim, Hilfen für Rumänien ... Innerhalb einer Woche wurden 1500 Pakete, meist von erheblicher Größe, mit Hilfsgütern für Rumänien bei uns abgegeben, also mit warmer Kleidung, haltbaren Lebensmitteln usw. Mit Lastwagen gingen sie bald darauf nach Südosten.

Allmählich wurde unser Kirchenraum etwas weniger voll. Grund dafür war vor allem, daß nun Friedensgebete auch an anderen Orten stattfanden, so daß sich in kleinen gotischen Feldsteinkirchen aus dem 15. Jahrhundert bis 400 Menschen in einem Dorf einfanden. Jeweils zum Anfangsteil unserer Abende gehörte ein Anspiel zum aktuellen Thema. So wurde der Tanz um das Goldene Kalb dargestellt, nun als Tanz um die zu erwartende West-Mark. - Meist kam die Vorbereitungsgruppe erst am Sonntag Nachmittag zusammen, um den Ablauf des bevorstehenden Dienstag Abend zu besprechen. Einmal, in der vorweihnachtlichen Zeit, sollten sich drei Personen, ein alter Mensch, ein jugendlicher Erwachsener und ein Kind zu ihren Weihnachtswünschen äußern. Dazu fragte man mich. So kam es, daß ich dort in der Kirche am 19.12.89 gesprochen habe:

„Man hat mich gefragt ,ob ich heute hier etwas sagen würde über meine persönlichen Weihnachtswünsche. Warum sollte ich es nicht tun ? Aber was kann ich mir in meinem Alter Alter noch wünschen ?

So will ich ihnen zunächst etwas anderes sagen: Ich habe Angst. Und genau das sagte ich hier in dieser Kirche am Abend des 3. Oktober, als wir hier in einer kleinen Gruppe von vielleicht 20 Menschen zu einer Besprechung beisammen waren. Ich hatte das gar nicht sagen wollen. Aber dann kam es einfach so aus mir heraus. Natürlich meinte ich nicht die Angst um mich. Nein. Was kann mir denn noch geschehen ? Aber es gab eine große Angst um dieses Volk in diesem Land damals, als noch eine herrschende Gruppe bereit war, mit allen Mitteln Macht und Vorrechte zu verteidigen, während die große Masse des Volkes in Zorn und Wut geriet über Lüge und Betrug, über den Zustand, unter Diktatoren leben zu müssen, nicht erst seit 40 Jahren, nein seit 57 Jahren. So hatte ich Angst vor dem Ausbrechen der Gewalt und mußte dazu sagen, daß wir machtlos sind, daß wir nur noch beten können, daß ich am besten beten kann in der Kirche, daß es Zeit sei, in Neuruppin mit Friedensgebeten zu beginnen.

Weihnachtswünsche? Weihnachten ist im Grunde die klare eindeutige Zusage, daß auf dieser Erde Frieden sein werde. Das ist eine unglaublich schwer zu begreifende Zusage, da wir doch immer, hier und anderswo, Unfrieden, ja Gewalt und Krieg erleben. Wenn ich nun heute über Wünsche, über Bitten sprechen soll, dann muß ich mit den Dank beginnen. Mit dem Dank an alle, die so überraschend zahlreich kamen und immer wieder kommen, die uns nicht allein lassen beim Gebet um Frieden. Ich weiß, was wir alle wissen: Es sind die Besucher dieser Kirche am Dienstag Abend zumeist solche, die sonst nur selten, vielleicht fast nie, eine Kirche betreten. Es sind sogar manche dabei, oder dabei gewesen, die nur enstlich kamen, zum Hören, zum Sehen, und zum Berichten. Und mancher, oder sind es viele, meinte mit Kirche nichts anfangen zu können, und mit Beten schon gar nicht. Man kam wegen der Informationen, welche glaubwürdiger sind als die in der Zeitung. Man suchte Halt in bewegender Zeit, in der bisherige Normen und Halbwahrheiten schwinden. Und doch haben alle stets auch in Ruhe und nachdenklich auf das Wort der Bibel gehört.

Nun steht für mich die Bitte, der Wunsch um den Erhalt des Friedens, des noch immer gefährdeten Friedens, ganz an erster Stelle. Der uns zugesagte Frieden, der Gottesfrieden, kommt nicht von allein. Wir müssen etwas für ihn tun, müssen uns friedlich verhalten. Wir sollten stets denken an das Wort am Anfang des 7. Kapitels des Matthäus-Evangeliums: Richtet nicht, daß ihr nicht gerichtet werdet. Wer ist denn ganz ohne Schuld ? Haben wir nicht alle zu lange geschwiegen, zu wenig geglaubt, und nicht gebetet ? Alle jene, welche meinen, sie könnten nicht beten, die es noch nie versuchten, haben es doch hier mit uns zusammen erlebt, daß wir ohne Waffen, ohne Macht, gemeinsam in Frieden und durch das Gebet Großes ausrichten können. Daß keiner, dies jemals vergessen möchte, das ist mein zweiter Weihnachtswunsch."

Wir erlebten in unserer Stadt in diesen Monaten noch vieles andere, was uns in gleicher Weise stark beschäftigte. Etwa 15000 Menschen, viele mit Kerzen in den Händen, nahmen am 13. November an einem Schweigemarsch gegen den Fluglärm teil. Die Evangelische Kirche hatte dazu aufgerufen. Dem folgte im Frühjahr 1990 in Alt Ruppin eine Protest-Demonstration gegen Errichtung eines Beton-Neubaues mit 120 Wohnungen für sowjetische Offiziere, da wir meinen, dies passe nicht zu all dem Gerede über Entspannung und Abrüstung. Noch haben wir hier jene sowjetischen Raketen, die man uns brachte, bevor der Westen sich zur Nachrüstung entschloß. Noch jagen an 3 Tagen jeder Woche Düsenjäger der Roten Armee über unsere Dächer, ganz besonders auch nachts. An den anderen anderen Tagen sind es nur Hubschrauber. So blieb auch die nächste Demonstration gegen Fluglärm am 8.Januar mit 5000 Teilnehmern erfolglos. Dann ließ ein Flugzeug der Roten Armee am 17. Mai drei Bomben auf das im Norden des Ruppiner Kreises gelegene Dorf Rägelin fallen, wobei die eine das Dach und eine Betondecke eines landwirtschaftlichen Gebäudes durchschlug, eine andere dicht neben etwa 10, am Dorfteich spielenden, Kindern landete. So demonstrierten dann am 21.Mai 8000 Menschen gegen Fluglärm und Bombendrohung, forderten Schließung des in der Stadt gelegenen Flugplatzes Es gab Demonstrationen für freie Wahlen, andere gegen die SED. Es gab die große Aufregung, als man das Ehepaar HONECKER in der einst Hjalmar Schacht gehörenden Villa in Gühlen (Ortsteil von Lindow) am Gudelack-See unterzubringen versuchte (23./24. März), wobei nur der eilig aus dem Urlaub gerufene Ortspfarrer Lynchjustiz verhinderte. Es bildeten sich in wohl allen Gemeinden, allen Kreisen, die bekannten Runden Tische, als Kontroll-Organ, Neben-Regierung, auch als Ersatz einer nicht mehr funktionierenden Ortsverwaltung. Fast immer mußten Pastoren als Moderatoren mitwirken. Sie gelten mit Recht als ganz besonders vertrauenswürdig, da sie politisch nicht negativ belastet sind, auch innerhalb der Kirche stets demokratisches Verhalten pflegten. Auch nicht ganz wenige Ärzte haben inzwischen politische Funktionen übernommen, nehmen müssen. Und von beiden Berufsgruppen haben wir viel zu wenige. Noch sehen wir nicht, daß Menschen aus dem Westen als Helfer zu uns übersiedeln. Man steht dort nur in den Startlöchern, um hier zu verkaufen. Wir befürchten, daß die DDR das Billiglohnland bleiben wird, so daß die Abwanderung der ,Menschen von hier in den Westen anhält, wieder zunimmt. Erst in diesen Tagen Ende Mai, Anfang Juni übernehmen nach den Wahlen neue, dabei vielfach unerfahrene Menschen die Aufgaben der bisher noch immer tätigen SED-Funktionäre in den Rathäusern. Wir dürfen und wollen hoffen. Ein Hoffnungszeichen waren mir auch die Kollekten in unserer Klosterkirche, wo in den Weihnachtstagen 1989 16000 Mark gegeben wurden. In ähnlicher Weise, sah ich bei der Straßensammlung am 25. Mai 1990 fast nur frohe Gesichter, hörte viele dankbare Worte über unsere Kirche und hatte ein Sammel-Ergebnis fast in dreifacher Höhe wie sonst Allerdings machte ich mir ganz still für mich auch meinen Vers darauf: Kirche aufgewertet - Geld abgewertet. Inzwischen sind manche Regale in den Geschäften wieder leer. Zu Schleuderpreisen wurden Produkte abgestoßen, welche vermutlich bald niemand mehr kaufen wird. Sehr geschäftstüchtige Händler aus dem Westen bevölkern unsere Straßen. Schlange-Stehen ist uns noch geblieben. Mein persönlicher Rekord war bisher (vor etwa 2 Jahren) das Anstehen von 90 Minuten nach Brot; jetzt, am 1.Juni, stand ich hierzu „nur" 40 Minuten. 6 Stunden stand ich bei kaltem Wetter auf der Straße in diesem Frühjahr, um 800 Mark Ost in 400 Mark West zu tauschen. So hatten wir etwas eigenes Geld für die Frühjahrsreise ins andere Deutschland, während wir ja bisher pro reiseberechtigte Person und Jahr nur 15 Mark 1:1 tauschen durften. Bald sehe ich mich am Ende weiterer Schlangen, denn in wenigen Tagen gilt es, die Formulare für den kommenden Geld-Umtausch zu holen, dann diese abzugeben, dann das erste neue Geld zu empfangen, das letzte alte Geld abzugeben, bis dann am Ende dieser Aktion die Hälfte unserer Ersparnisse verschwunden ist. Wir werden ihnen nicht nachtrauern, denn sie waren wertlos, wenn auch ebenso hart erarbeitet wie das ersparte Geld des ,Rentners in der Bundesrepublik. Trotz mancher Probleme sehen wir zuversichtlich in die Jahre, die uns noch geschenkt werden.

Und nun noch ein Flugblatt zu den ersten freien Wahlen in der (Noch-)DDR.

Wir lieben Euch alle!

Die Partei des aktiven Menschenhandels. Wir haben für Millionen Westmark Andersdenkende nach dem Westen verkauft. Soll das alles umsonst gewesen sein?

Deshalb wählt PDS!

Wir haben riesige Jagdgebiete und komfortable Gästehäuser errichten lassen. Soll sich morgen der Arbeiterpöbel darin tummeln? Das wollen wir doch alle nicht!

Deshalb wählt PDS!

Wir haben erstmals in der Welt die flächendeckende Überwachung praktiziert, haben eine hervorragende Terrortruppe herangebildet, das hat Euch - liebe Arbeiter - viele Millionen gekostet! Soll das alles umsonst gewesen sein? Wir haben keine Angst, wir lieben Euch doch alle!!!

Deshalb wählt PDS!

Wir haben Euch ,,Trabbi" und „Wartburg" beschert, dafür gesorgt, daß Ihr nichts anderes zu sehen bekamt. Ihr solltet doch nicht traurig werden. Wir haben Euch im eingezäunten Gelände gehalten, haben für Euch gedacht und Euch Meinungen gebildet. Seid nicht undankbar!

Deshalb wählt PDS!

Vierzig Jahre haben wir jede Wahl für Euch gewonnen und das mit nahezu 100 %. Wenn es nicht ganz so klappte, dann haben wir für Euch gelogen, daß sich die Balken bogen. Bitte vergeßt das nie!

Deshalb wählt PDS!

Wir haben jahrzehntelang keine Anstrengungen gescheut, um unsere Umwelt zu verpesten (chemisch, biologisch und mit unserer Anwesenheit). Wir haben wirklich alles menschenmögliche getan, um Euer Leben nicht mehr lebenswert zu machen!

Deshalb wählt PDS!

Denkt daran, wir sind noch lange nicht weg. Wir sind zwar unfähig zu leiten, das haben wir jahrzehntelang bewiesen; wir sitzen aber in allen Leitungsebenen und werden uns von niemandem unsere schönen Privilegien kaputtmachen lassen, das müßt Ihr doch verstehen!

Deshalb wählt PDS!

Auch die Rentner sprechen wir an. Haben wir Euch nicht die vielen Jahre kurz gehalten, so daß es gerade nicht zum Sterben reichte? Haben wir Euch nicht die Möglichkeit gegeben, in den Westen zu fahren, in der Hoffnung, daß Ihr dort bleibt?

Deshalb wählt PDS!

Und Ihr - Ihr lieben Andersdenkenden, haben wir nicht für Euch gesorgt? Euch jahrelang eingesperrt, geschlagen und wieder gesund gepflegt, bespitzelt und schließlich für Devisen, die wir dringend für unser Luxusleben brauchten, an den Westen verkauft?

Wir sind. ganz sicher, Ihr liebt uns auch und

Deshalb wählt PDS!

Der Überfall auf der Landstraße: Friedrich Telschow

Seine Eltern hatte es von Pfalzheim nach Altruppin gezogen. Dort wuchs er auf. Von seiner Wanderschaft als Handwerksbursche hat er das noch erhaltene Bild von der Kapelle der Wartburg mitgebracht. Vielleicht stammt auch von ihm das Bild mit dem Rhin-Kanal in Altruppin. Er hatte Bäcker und Konditor bei Bäckermeister Berein in Neuruppin gelernt, war dann nach Steglitz bei Berlin gegangen und hatte in der Großbäckerei Raabe in Steglitz gearbeitet. Mit dem Ersparten wollte er sich selbständig machen. Daraus wurde nichts, denn durch den Konkurs des Bauunternehmers hat er alle seine Ersparnisse verloren. Er hat sich dann als fahrender Händler in Altruppin über Wasser gehalten. Offenbar war das aber nun wirklich nicht sein Metier. Otto Telschow erzählte, daß er einen Gaul gehabt habe, der sich nicht gerne anspannen ließ und lieber im Stall lag. Das prekäre Mittel sei dann gewesen, ihn auf den Misthaufen zu ziehen. Das habe stets geirkt. Er sei dann aufgesprungen und konnte zum Wagen geführt werden. Aus jüngeren Jahren haben wir von ihm drei Briefe an seine spätere Frau. Auf schmalem Papier in große Schrift.

Sonnabend, den 14. Nov. 1874

Sehr geehrtes Fräulein!

Verzeihen Sie gütigst das ich so frei bin und mir die Erlaubniß nehme, und Sie Brieflich in Anspruch zu nehmen; die Veranlassung desselbigen Inhalts ist die, daß ich suche eine nähere Bekanntschaft mit Sie zu theilen und ich kann Ihnen aufrichtig hiermit gestehen das ich mit dem Tage wo ich die Ehre hatte Sie kennen zu lernen für Sie Sorge trage. Ach wie reizend war die Stunde wo ich Sie zuerst gesehen und freudig klopft mein Herz für Sie wenn ich an Sie gedenke. Es war ein merkwürdiger Tag der mir und auch Sie zum Vergnügen nach Schönow berufen hat und mein erster Blick, den ich auf Sie warf überzeugte mir dass Sie ohne Bekanntschaft eines Herrn waren und erfuhr es nachträglich von Herrn Bellmann alsdann wurde ich meiner mächtig und bot Ihnen meine Gesellschaft der nach Hause begleitung an, ein Innerliches verlangen erhob sich meines Herzens mit heftigen schlägen da Sie mir dieses Anvertrauen schenkten und dann schlug es noch heftiger, wo Sie in meinem Arm verweilten.
Würden Sie sich geehrtes Fräulein nun wohl Ihre Liebe mit mir in aufrichtigem Herzen theilen so würde es
mir freuen wenn Sie mir bald davon in Kenntnis setzen und ich werde hoffen das wir uns alsdann bald wieder sehen; denn noch muthig nahm ich von Sie meinen Abschied aber die Gedanken und meines Herzensschläge legten sich wieder und leichtfüßig legt ich meinen Weg in kurzem Zeitraum nach Steglitz zurück und ich sende Sie hiermit die besten Grüße

ergebenst

Steglitz d. 14ten Nov. 1874

Fritz Telschow

bei

Herrn Raabe

Schönow war ein kleines Dorf zwischen Zehlendorf und Teltow, am Bäkeübergang zwischen Teltower und Schönower See gelegen. Seine Gemarkung reichte bis weit nach Zehlendorf hin. Heute liegt es am Teltowkanal. Hier trafen sich Fritz aus Steglitz und Henriette aus Düppel wohl in einer Wirtschaft beim Ausflug.

Steglitz d. 21ten Nov.

Meine innigst geliebte Henriette

wie glücklich fühle ich mir

wieder seid dem Tage wo ich Ihren

lieben Brief erhielt, wo ich nun

überhaupt sehe das sich unsere Liebe

gegenseitig vereint und unser

Hoffnung und unser Ziel zum

Verhältnis aufklärt; darum erlaube

ich mir heute Sie mit den Worten

der überschrift meines Briefes so zu

nennen: Wunsch auf Wunsch ist

in erfüllung gegangen und zwei

geliebte Herzen geben Ihr Geständniß

klar. Wie gerne wäre ich heute

wohl bei Sie gewesen und hätte

für Sie mein Herz aus ge-

schüttet, aber durch ein kleines Unwohlsein

vermochte ich nicht Sie heute zu besuchen

ich habe mir nämlich einwenig erkältet

und habe mir den Schnupfen und

Husten damit herbei gezogen und

hoffe das ich über achttage das Vergnügen

werde haben da ich überhaupt nach

Teltow desselbigen Tages hinüber

muß weil ich eben noch etwas zu

verabreichen habe und werde des

Nachmittags in der dritten Stunde mit

kommenden Zuge erscheinen und werde

alsdann erst nach Teltow hinüber

machen; wenn ich von da zurück

komme, wird es um derselben Zeit

sein wo Sie es in Ihrem Briefe an-

beraumt haben.

Ich hoffe das Ihnen mein Schreibens

bei der besten Gesundheit antreffen

möge und sende Sie hiermit die

besten Grüße

ergebenst

Fritz Telschow

Sonnabend d. 21.Nov.1874

bei

Herrn Raabe

Montag d. 23.Nov1874

Theure, innigst geliebte Henriette!

Sie werden sich gewiß wohl

wundern das ich Sie heute wieder

mit einigen Zeilen in Anspruch

nehme; denn ich kann es nicht ver-

schmerzen und muß

Ihnen daher mein Unglück mittheilen,

was mir beim nach Hause gehen

am Sonntagabende wiederfahren ist.

Gemüthlich ging ich die Straße nach

Steglitz zurück bis kurz vor dem

Dorfe wo der Weg nach Lichterfelde

führt, da sich plötzlich drei Strölche

sich meiner näherten, ich wollte Sie

aus dem Wege gehen; allein es gelang

mir nicht, sondern ich bekom einen

solchen Stoß das ich in den Straßen-

graben stürzte und gleich darauf ein

Schlag mit einem tüchtigen Schlagetodt

ins Gesichte auf den Augenknochen

so das daß Blut in Strömen floß;

aber fallen und Schlagen und aufspringen

war eins und sprang aus dem

Straßengraben in demselben Momang

wo sich dieselben wollten auf mir

stürzen, aber meine schnelle Bewegung

gab mir die Flucht wo ich verfolgt

wurde bis zur Wrangelstr. und dann

kehrt machten, ich aber flog wie ein

Vogel die Straße entlang bis zum

Albrechts Hof, da dachte ich sicher Hülfe

zu bekommen; aber leider - es war ver-

gebens, nur der Wirt selber begleitete

mir bis zum Schulzen-Amt: Daselbst

pochten wir beiderseits, auch das war

vergebens es war keine Polizei herbei

zu schaffen. Nun begab sich der Wirth mit

mir zum Brunnen um daß ich mir konnte

das Blut abwaschen, es blieb mir alsdann weiter

nicht übrig als mußte nach Hause gehen.

Aber wie seh ich heute aus, eine Beule

am Auge das ich kaum sehen kann, und

enthält verschiedene Farben. Ich theile Sie

dieses ergebenst mit, um das Sie die

Leiden u. Schmerzen mit mir theilen trotz-

dem ich die ... habe und ich fühle

alsdann mir Wohl bis Sie dieses

Wissen, und werden mir am Sonnabend

doch nicht scheuen zu kommen.

Es grüßt Sie hiermit vieltausend

Mal

Ihr

ergebenster

Fritz Telschow

Der Überfall hat sich wohl in der Gegend Schloßstraße Ecke Hindenburgdamm abgespielt. Die Wrangelstraße ist nicht weit entfernt an der Matthäuskirche. An der Stelle, wo heute die Matthäuskirche steht, stand bis etwa 1880 die alte, zuletzt turmlose, mittelalterliche Dorfkirche. Sie besaß ungefähr die Maße der noch erhaltenen Giesensdorfer Kirche und hatte nur 70 Plätze. Der Albrechtshof stand Schloßstrasse Ecke Albrechtstraße da, wo heute der Steglitzer Kreisel steht.

4/16 Friedrich Johann Franz Telschow1852 -1894 >>> 4/17 Henriette Juliane Wilhelmine Welitz 1851 -1937

Theodor Fontane: Die Ruppiner Schweiz

Und fragst du doch:"Den vollsten Reiz,

Wo birgt ihn die Ruppiner Schweiz ?

Ist's norderwärts in Rheinsbergs Näh ?

Ist's süderwärts am Molchow-See ?

Ist's Rottstiel tief im Grunde kühl ?

Ist's Kunsterspring, ist's Boltenmühl ?

Ist's Boltenmühl, ist's Kunsterspring ?

Birgt Pfefferteich den Zauberring ?

Ist's Binenwalde ?,, - nein, o nein,

Wohin du kommst, da wird es sein,

An jeder Stelle gleichen Reiz

Erschließt dir die Ruppiner Schweiz.

Der alte Dorfkrug

Wer von Südwesten her nach Berlin kommt, fährt vermutlich auch heute noch, die Avus aussparend, von Wannsee aus den Straßenzug der alten Reichsstraße 1. Sein Weg führt ihn bald nach Zehlendorf. Läßt er sich nicht zu sehr durch den alten Preußischen Meilenstein (zwei Meilen von Berlin) ablenken, dann fällt ihm bald danach linker Hand ein Ensemble älterer Dorf- oder Vorstadthäuser auf und in deren Mitte der alte Zehlendorfer Dorfkrug steht. Bewirtschaftet wird er heute von einem Grie­chen. Eigentlich sind die beiden früheren Gaststuben noch gut erhalten. Nur etwas Phantasie braucht man, denn Holz- und Mauerwerk sind in den griechischen Natio­nalfarben hellblau und weiß gestrichen. Trotzdem, der Gast fühlt sich wohl, die fröhliche Stimmung der anderen Gäste ermuntert ihn, und die Speisekarte läßt nichts zu wünschen übrig. Hierher kann man wiederkommen. Ähnliches gilt für die alte Wirtschaft nebenan, in der heute ein Chinesisches Restaurant ist.

Die weise Frau: Henriette Welitz

Für einen Telschow könnten aber auch noch andere Gedanken kommen, könnte die Erinnerung einhundert Jahre und etwas mehr zurückgehen. Da war das hier ein ty­pisch märkischer Dorfkrug. Vorne vermutlich zwei verräucherte Gaststuben, in denen deftige deutsche Küche geboten und Bier und Schnaps getrunken wurde. Hinter dem Haus Stallungen. Denn hier übernachteten Fuhrleute, die am frühen Morgen in Berlin sein wollten. Fröhlich dürfte es auch damals dort zugegangen sein, wenn nicht .... Wenn nicht dann und wann der Kutscher oder einer seiner Gäule auch ein Wehwehchen gehabt hätten. Besonders schlimm, wenn ein Pferd die Kolik hatte, denn ein solches schreckliches Ende traf den Besitzer meist wirtschaftlich sehr hart. Also mußte jemand her, der helfen konnte. Nicht selten wurde dann wohl die wenige Häuser weiter wohnende Telschow (nach dem ersten Mann) oder Ringeln (nach dem zweiten Mann), also unsere Urahne, geholt; denn die konnte ,,besprechen". Sie zog sich dann in den Stall zurück, murmelte ihre Verse, hatte vielleicht auch ein Kräutlein dabei und, siehe da, der Gaul kam wieder auf die Beine. Hier stand sie jedenfalls hoch im Kurs.

Etwas anders muß es ein paar Häuser weiter in der anderen Richtung, beim Herrn Pfarrer, gewesen sein. Kaum zu glauben, daß er von dem gottlosen Treiben nicht wußte. Daß es zum Bruch zwischen beiden kam, hatte aber andere Ursachen. Nachdem sie ihren ersten Mann, den Telschow, in noch verhältnismäßig jungen Jahren verloren hatte, wollte sie wieder heiraten, einen Ringel. Wenn man den alten Fotografien trauen darf, fast derselbe Typ Mann. Übrigens verstarb auch er nach wenigen Jahren, so daß sie dann doch noch lange Jahre allein war. Aber als sie nun wieder heiraten wollte, den Friedrich Ringel nämlich, sollte das natürlich auch kirchlich sein. Also ging sie zum Herrn Pfarrer, um die Trauung anzumelden. Der studierte gerade in seinem im Ober­geschoß gelegenen Studierzimmer. Das Hausmädchen machte auf, ging hinauf und meldete den Besuch an. Wie das so üblich ist, wollte der Herr Pfarrer wissen, wer denn und warum. Er erhielt die gewünschte Auskunft und soll dann eine etwas abfällige Bemerkung über ,,olle Fraun", die noch heiraten, gemacht haben. In Hes­sen sagt man da, ,,wenn alte Scheuern brennen". Jedenfalls hat das der Besuch mitbekommen, sich sehr echauffiert, ist hinausgestürmt, hat die Tür zugeworfen und ist auch ohne geistlichen Segen glücklich geworden. Auch den zweiten Mann hat sie überlebt.

Henriette war die Empfängerin der vorher zitierten Briefe von Friedrich Telschow. Sie war eine geborene Welitz und kam vom Gut Düppel, wo schon ihre Mutter für das Federvieh gesorgt hatte. Die Familie Welitz stammte aus der Gegend von Landsberg an der Warthe. Henriettes Vater August Friedrich Wilhelm Welitz hatte in Scharnhorst bei Vietz auf dem Gut gearbeitet, das Mitte des 19. Jahrhunderts dem Prinzen Friedrich Karl von Preußen gehört haben soll. Als dieser 1859 das später nach dem deutschdänischen Krieg Düppel genannte Gut erwarb, soll er nach der Familienüberlieferung einen Teil des Personals dorthin mitgenommen haben. So kamen verschiedene unserer Vorfahren aus dem Warthebruch nach Zehlendorf. Unterschiedliche Berufe hatten die Verfahren im Osten, auch in verschiedenen Orten dort, ausgeübt. Einige hatten in Vietz gelebt, als Kossät und als Fischer. Ein Zeitungsausschnitt vom 2. April 1937 schildert die Verhältnisse von 1600 in Vietz. Manches davon dürfte auch noch 200 Jahre spä-ter Gültigkeit gehabt haben. Von zwei Krügern und dem Lehnschulzen ist ausführlich die Rede. „Der Schulze war der Vertreter des Amtes gegenüber den Untertanen, deren Gefälle und Abgaben er einzog, ihre Dienstleistungen beaufsichtigte und über sie in minder wichtigen Angelegenheiten zu Gericht saß." Ordentliche Gerichtssitzungen hielt der Hauptmann aus Himmelstädt ab. Im Dorf wohnten 12 Bauern, Hüfner genannt. Sie besaßen 1-2 Hufen Land und entrichteten je Hufe 4 Groschen 6 Pfennige Pacht. Außerdem gab jeder 2 Rauchhühner und den Zehnten an das Amt, den Schulzen oder die Kirche." Etliche zahlten auch den in Geld umgewandelten „Kahnhecht". Daß im Dorf zwei Krüge waren, spricht dafür, daß auf der Durchgangsstraße viel Verkehr war. Im Dorf gab es auch 36 Kossäten, die eigentlich Fischer waren. Von ihnen entrichteten 28 ihre Abgaben an Rauchhühnern, Zehnten und Kahnhecht an das Amt Himmelstädt, je vier an den Pfarrer und den Schulzen. Bei der Namensaufzählung taucht keiner unserer Vorfahren auf, so daß man annehmen kann, daß sie erst später zugezogen waren. Der Zehnte war eine Abgabe vom lebenden Vieh. Für jedes Kalb waren 1 Groschen 1 Pfennig, für jedes Lamm 6 Pfennig, für ein Ferkel 4 Pfennig, für die zehnte junge Gans 2 Groschen 3 Pfennig zu zahlen. Fohlen und Bienen waren frei. Das Amt konnte die Abgabe in Naturalien oder in Geld erheben. Außer den Genannten gab es im Dorf noch einen Schmied, einen Hirten und einen „Schweiner", den Schweinehirten. Das Dorf als Ganzes hatte auch noch eine Geldzahlung zu leisten, dazu einen Hopfenabgabe, das „Pfeffergeld" zu Martini und 10 Schock Krebse zu Walpurgis. Keine Angabe gibt es zu Schneidemühle, Ziegelscheune und zum Salzhaus wie auch zum Wald. Nicht erwähnt sind auch die sogenannten Hand- und Spanndienste.

4/17 Henriette Juliane Wilhelmine Welitz 1851 - 1937 >>> 4/16 Friedrich Johann Franz Telschow 1852 -1894 >>> 4 Friedrich Wilhelm Ringel 1845 -1908

Zehlendorf

Zehlendorf lag und liegt an der alten Straßenverbindung zwischen Berlin und Potsdam. Seit den Zeiten Friedrich Wilhelm I. war dies der Königsweg, der noch heute diesen Namen trägt, ab 1795 eine bequemere „Steinbahn", etwa die heutige Potsdamer Chaussee mit den preußischen Meilensteinen. Voraussetzung für diese neue Route war der Bau der Glienicker Brücke. Im heutigen Zentrum von Zehlendorf, Ecke Potsdamer Straße/Clayallee steht immer noch die Dorfkirche im friedericianischen Rokoko mit den Farben altrosa und grau. Sie wurde 1768 erbaut und hat einen, für märkische Dorfkirchen unüblichen, achteckigen Grundriß. In ihr wurden Telschows getauft und getraut.

Am Königsweg, dort wo heute die veterinärmedizinische Fakultät der Freien Universität untergebracht ist, findet man noch Reste des früheren Gutes Düppel: das Herrenhaus und ehemalige Insthäuser, Häuser, in denen Landarbeiter wohnten. In einem von ihnen hatte die Familie Welitz gelebt und war Otto Telschow geboren worden. Wie karg das Land dort einmal gewesen ist, kann man noch schön am Museumsdorf Düppel sehen. Hier wird übrigens an eine vorzeitliche Siedlung erinnert. Nachdem nämlich die Zehlendorfer Bauern nach der auf die Bauernbefreiung folgenden Separation frei über ihr Land verfügen konnten, erwarb der Berliner Holzschiffahrtsdirektor Bensch von der alten Zehlendorfer Familie Pasewaldt den Hof dort mit 845 Morgen Land, mehr Sumpf und Sand als anderes. Das Gut ging nicht besonders, und Bensch verkaufte es 1856 an den Berliner Schnapsfabrikanten Gilka (der „Gilka" ist bis heute ein Berliner Kümmelschnaps). Der wiederum verkaufte es drei Jahre später an den preußischen Prinzen Friedrich Karl. Dieser wieder forstete auf und errichtete ein Gestüt. Nach dem Sieg über Dänemark erhielt der Prinz zur Belohnung die Rittergutsqualität des Gutes verliehen und nannte das Gut nach den Düppeler Schanzen, aus Neu-Zehlendorf wurde das Rittergut Düppel. Die Erben des Prinzen verkauften das Gut nach und nach bis 1926 an die Stadt Berlin.

Mir sind alle Lieder lieb: Otto Telschow

Geboren wurde er in einem der Insthäuser am Königsweg in Düppel. Zu einer Zeit, als Zehlendorf nur wenig mehr als 2.000 Einwohner hatte. Hier wohnten die Landarbeiter im Gesinde des Rittergutes.Von seiner Geburt zeugt eine am 7.10.1905 ausgestellte Geburtsurkunde. Danach war die Mutter die unverehelichte Arbeiterin Henriette Welitz. Handschriftlich ist vom Standesbeamten vermerkt:

„Zehlendorf am 19.Juli 1876. Vor dem unterzeichneten Standesbeamten erschien heute, der Persönlichkeit nach bekannt, der Bäcker Friedrich Franz Johann Telschow wohnhaft zu Zehlendorf und erklärt, daß er nach Ausweis des Heiratsregisters des Standesamts Zehlendorf Nr. 9 de 1876 mit der unverehelichten Juliane Wilhelmine Henriette Welitz am 27. April die Ehe geschlossen habe und daß er das von der unverehelichten Henriette Welitz am 24. Februar geborene Kind als von ihm erzeugt hiermit anerkennt. Vorgelesen genehmigt und unterschrieben Fritz Telschow der Standesbeamte Pasewaldt"

Von seiner Kindheit verbrachte er einen Teil mit den Eltern in Neuruppin. Es muß eine schöne Zeit gewesen sein. Das kleine Städtchen mit seinen Fischern und Ackerbürgern, auch heute noch romantisch am Rhin-Kanal gelegen. Die wald- und seenreiche Landschaft mit dem Bienbach zwischen Kellersee und Teetzensee. Überhaupt die Natur. Davon schwärmte er noch im Alter und wäre gerne mit uns noch einmal dahin gefahren, um uns alles zu zeigen; aber das war wegen der Teilung Deutschlands nicht mehr möglich. Zur Schule ging er in Neuruppin und war dort beim Pfarrer Logiergast zum Mittagessen. Und da widerfuhren ihm doch zwei peinliche Sachen. Ganz zu Anfang meinte es Frau Pfarrer sehr gut mit ihm, als sie ihm einen schönen Berg heißer Kartoffeln auf den Teller tat. Nur Kartoffeln waren nicht so seine Sache, aber das konnte man im Pfarrhaus doch nicht sagen. Also steckte er verstohlen einige von den Dingern in die Hosentasche, um sie später zu entsorgen. Doch die waren halt sehr heiß und das tat ganz schön weh. Und dann erst. Sonntags ging es natürlich zu Fuß nach Neuruppin in die Kirche, auch im Winter. Kalter Weg in Schnee und Eis und natürlich kalte Kirche, das gab kalte Füße. Er saß auf der Empore und wollte sich die Füße während des Gottesdienstes etwas warm reiben. Also mußten die Schuhe ausgezogen werden. Aber das fiel den klammen Fingern schwer, und so fiel der erste Schuh mit lautem Gepolter auf den Bretterboden, mitten in der Predigt, und der Herr Pfarrer schaute sehr ernst her-über. Peinlich, peinlich. Bei dieser Kirche handelte es sich nicht um die alte Klosterkirche St. Nikolai sondern um die Pfarrkirche St. Marien. Diese Kirche, mitten in der Stadt, war im großen Stadtbrand am 26. August 1787 zerstört und dann in den Jahren 1801-1806 neu gebaut worden. Die Architekten Berson und Engel hatten eine evangelische Predigtkirche im klassizistischen Stil geplant. In einem weiten, lichten Quersaal befindet sich der Kanzelaltar an der dem Eingang gegenüber liegenden Längsseite. Zwei großzügig geschwungene Emporen übereinander umschließen den Raum. So war es Otto möglich gewesen, auf der Empore in unmittelbarer Nähe der Kanzel zu sitzen.

Ein Schulentlassungszeugnis bescheinigt den Schulbesuch der Schule Zehlendorf Krs. Teltow von April 1889 bis März 1890. Zwischen der Schulentlassung und der Töpferlehre lagen drei Jahre, in denen er eine dann wohl abgebrochene Musikerlehre absolviert hat. Carl Müller in Teltow war einer jener Musikunternehmer, die junge Leute zum Musiker ausbildeten, mehrere Musikkapellen unterhielten und für die damalige Freizeitgesellschaft nicht wegzudenken waren.

„In den grünen Bezirken rund um die Stadt gab es zahlreiche Kaffee- und Biergärten. Für wenige Groschen hatte der Städte hier im Sommer Natur, Geselligkeit und Konzertbelustigung. Tags unter schattigen Kastanien und abends unter Lampionketten spielte Blasmusik auf, brachten Einzelunterhalter mit Harmonika und Geige ihre Melodien zu Gehör oder schmetterten Regimentskapellen ihre Märsche" ( Berliner Sonntagsblatt 14.6.1987/ Nr.24, S. 3).

Das „Hier können Familien Kaffee kochen" war noch lange sprichwörtlich. „Krolls Etablissement" und „In den Zelten" am Tiergarten waren die größten, letzteres mit um 1906 mehr als 10.000 Besuchern an einem Abend. Es gab aber auch viele kleinere. Müllers Revier lag zwischen Teltow, Potsdam und Halensee. Otto lernte Klavier spielen und zog dann mit seiner Kapelle, vor allem an den Wochenenden aus. Weite Fußwege hin und nachts zurück waren zurückzulegen, das sumpfige Bäketal und andere Widrigkeiten der Natur waren zu bewältigen. Daß der körperlich kleine und nicht sehr robuste Otto dies auf Dauer nicht packen konnte, ist verständlich. Doch ob die Arbeit als Töpfer (Ofensetzer) auf den Bauten der wachsenden Großstadt leichter war? Zumindest die Kollegialität war nicht besser. Noch im Alter erzählte er, wie man sich bei mißliebigen Kollegen revanchierte, indem man heimlich mit dem Hammer einen harten Schlag auf dessen Winkelmaß gab; dem Kollegen brachte das dann Spott und Ärger wegen der schrägen Kacheln ein. Oder wie man sich bei einem miß-liebigen Bauherrn revanchierte, indem man Kot in den Lehm tat, was beim Heizen zu einem unangenehmen Gestank führte.

Kaum leichter erschien dann auch die Arbeit bei der Post. Otto gehörte zu den ersten Trupps, die zwischen Berlin und Brandenburg Telegraphenleitungen zogen. Das hieß: Löcher ausheben, den Telefonmast einsetzen und befestigen, Halterungen für die Telefonleitungen anringen und die Strippen ziehen. Als der Kleinste und Gewandteste war es seine Sache, auf die Telefonmasten zu klettern und die Arbeiten in luftiger Höhe zu verrichten. Die Deutsche Bundespost Berlin hat diesen Pionieren der Kommunikation im Jahre 1990 mit der Wohlfahrtsbriefmarke „Telefonarbeiten 1900" ein Denkmal gesetzt. Immerhin war er an der frischen Luft. Zweimal erlebte er allerdings Schreckliches. Ihre Aufgabe war es unter anderem, in Brandenburg die Telefonleitung vom Bahnhof zum Gefängnis zu legen. Dabei bemächtigte sich ein stets zu Späßen aufgelegter Kollege auf dem Bahnhof der Handschellen des Bahnhofsvorstehers und ließ sich damit fesseln. Nur - als die Herrschaften sie wieder öffnen wollten, stellte sich heraus, daß der Bahnhofsvorsteher gar keine Schlüssel hatte. Die waren nämlich im Gefängnis. So mußte Otto seinen Kollegen mit den Handschellen zu Fuß durch die Stadt zum Gefängnis begleiten. Und das fand er sehr, sehr peinlich. Und dann sollte ja die Telefonleitung im Gefängnis an einem kleinen Mast auf dem Dach ankommen. Die Arbeit in der Höhe war Ottos Sache. Doch als er da oben so schön bei der Arbeit war, ging auf einmal ein mächtiger Lärm los. Überall klapperten die Gefangenen mit ihren Eß-Geschirren. Randale nannte man das, nur Otto wußte nicht, was das war. Eine Heidenangst hatte er, bis nach einigen Stunden wieder Ruhe eingekehrt war und er unversehrt hinunterklettern konnte. Da war es doch angenehmer, im Winter als Aushilfsbriefträger zu arbeiten. Besonders schön war es in Ziesar, wo die Arbeit ganz ordentlich war und er bei einer Witwe wohnte, die wunderbaren Pflaumenkuchen backen konnte und ihn am liebsten da behalten hätte. Aber ihm war ein anderer Lebensweg bestimmt.

36 Jahre lang wurde sein Dienstsitz das Kaiserliche Postamt Steglitz, heute Postamt 41 an der Steglitzer Bergstraße 1. Ganz wilhelminisch steht es noch heute da, mit seinen Klinkern und dem Sandstein. Hier wartete er jahrelang die riesigen Säurebehälter der Batterien des Fernsprechamts. Von hier aus war er jahrelang als Postoberleitungsaufseher zu Fuß unterwegs, in Steglitz, Friedenau und Schöneberg, um die Telefonleitungen instand zu halten. Stressig war der Beruf kaum. Man war zwar bei Wind und Wetter draußen und legte bedeutende Strecken zu Fuß zurück. Aber man war an der frischen Luft, traf Leute (später pflegte er zu sagen, er sei in Steglitz bekannt wie ein bunter Hund) und man bekam die Dienstuniform gestellt. Jährlich eine Hose, alle paar Jahre eine Litewka (Uniform-Rock) und noch seltener einen Mantel. Aber pflegte man seine Sachen, dann reichten die abgelegten Uniformteile auch noch für das Privatleben. Und dieses Leben prägte auch die Weltsicht. Kurz vor dem Ende des Horizonts stand der Leiter des Postamts, darüber der Kaiser und dann der liebe Gott. Auf alle drei ließ nichts kommen. Aber auch seine Position in dieser Weltordnung war klar festgeschrieben. So lehnte er ein Stipendienangebot, das den Oberschulbesuch seines Sohnes finanzieren sollte, ab, weil der Sohn nicht mehr werden sollte als er selbst. So war das damals.

Als er im Februar 1941 65 Jahre alt wurde, konnte er noch nicht in den Ruhestand gehen. Vielmehr wurde er kriegsbedingt erst mit Ablauf des 31. 1.1944 in den Ruhestand versetzt. Nach einer ruhegehaltsfähigen Dienstzeit von 38 Jahren und 352 Tagen erhielt er als Ruhegehalt 77/100 des letzten Gehaltes von 3232 RM 50 jährlich. Da er ein hohes Alter erreichte, hat die Post ihm im Ruhestand mehr gezahlt als während der aktiven Dienstzeit.

Der der Zeit entsprechend gestaltete Trauschein zitiert nicht nur 1. Mose 1, 27/28. in der Übersetzung „Gott schuf den Menschen Ihm zum Bilde; zum Bilde Gottes schuf Er ihn; und Er schuf sie ein Männlein und Fräulein; und Gott segnete sie" und Epheser 5, 22-26 mit „Die Weiber seien unterthan ihren Männern, als dem Herrn.... Ihr Männer liebet eure Weiber....". Sondern er enthält als Trauspruch 1.Korinther 13, 13 „Nun aber bleibt Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; am größten aber unter diesen ist die Liebe."

In den fünfziger Jahren machte er mehrmals Urlaub in Wieda im Harz. Eine Karte vom 29.9. 1952 berichtet: „Liebe Kinder! Bin glücklich angekommen bei vollem Regen und ganz durch gefroren natürlich gleich ins Bett und geschlafen bis heute früh um 9 Uhr ich bin hier ganz gut aufgehoben." Mit einer Karte vom 22.7.1957 berichtet Annemarie Dietze: „ Wir sind alle noch wohl auf, vor allen Dingen Opa. Er buttelt den ganzen Tag im Garten."

Ja, zwei Leidenschaften hatte er. Die eine war der Garten. Im und um den 1. Weltkrieg herum hatte er einen Schrebergarten in Steglitz im früheren Bäketal, in dem er leidenschaftlich wirkte. Ein vergilbte Photo zeugt noch von seinem Stolz, als er einmal 12 große Kürbisse erntete. Als er dann später nach der Pensionierung mit seiner Frau wegen der Luftangriffe auf Berlin bei uns in Wilhelmshorst Unterschlupf fand, ließ ihm das sandige Grundstück, das zu dem Wohnhaus gehörte, keine Ruhe. Schon in aller Herrgottsfrühe pusselte er im Garten und versuchte aus märkischem Sand einen Blumengarten zu schaffen. Hauptärgernis dabei war, daß die Beetkanten nicht hielten. Also sammelte er überall Steine, um die Beetkanten zu befestigen. Das sprach sich rum. Und als er wieder einmal in Berlin nach der Wohnung sah und einen alten Bekannten besuchte, überreichte der ihm einen Waschmittelkarton voller kleiner Feldsteine; ein wirklicher Schatz für Otto Telschow. Gegen Abend machte er sich wieder auf den Weg nach Wilhelmshorst. Mit der S-Bahn gings vom Bahnhof Feuerbachstraße nach Wannsee. Von dort sollte es mit dem Dampfzug weiter nach Wilhelmshorst gehen. Nun, irgendein Luftangriff warf mal wieder die Fahrplan durcheinander. Man wartete auf dem Bahnsteig, als Otto ein menschliches Bedürfnis überkam. Er suchte um sich nach einem vertrauenswürdigen Mann, der in der Zeit auf den nicht gerade leichten Karton aufpassen konnte. Der war bald gefunden. So ging Otto beruhigt durch die Unterführung zur Toilette und kam fröhlich zurück. Doch wer nicht mehr da war, waren Karton samt Wächter. Tieftraurig kam Otto bei Dunkelheit schließlich im Rosenweg an. Wir waren schon beim Abendbrot (Bertha, Elisabeth, Charlotte, Isolde und Jürgen), und er erzählte seine traurige Geschichte. Die schönen Steine, die er doch so brauchte. Doch statt Mitleid erscholl ein lautes Gelächter. Jeder Zuhörer hatte sich vorgestellt, was der Dieb wohl zu Hause für ein Gesicht gemacht haben mag, als er den Karton auspackte. Doch Otto tröstete das wenig. Na, ja gegen Kriegsende fand er dann noch ein angemessenes Grundstück für seinen Betätigungsdrang. Der Hauseigentümer des Hauses Rosenweg 4 bot ihm an, sein komfortables Haus im Ort mit großem Grundstück zu hüten. Otto nahm gerne an, denn die 2,5-Zimmer-Wohnung war es doch arg eng. Und das nicht große andere Haus war modern eingerichtet. Wo konnte man damals schon Einbauschränke und eine perfekte Einbauküche sehen? Nach dem Krieg, wieder in der Markelstraße, grub er die Grundstücksspitze zwischen Markelstraße und Kreuznacher Straße um. Viele Quadratmeter waren das nicht; also mußte wichtiges angebaut werden: ein paar Tabackpflanzen und ein paar Sonnenblumen. Das wurde sorgsam bewacht. Die Sonnenblumenkerne wurden dann zur Ölmühle gebracht, ergaben ein paar Tropfen Öl und den sogenannten Kuchen, die mit Talg zusammengebackenen Schalen der Sonneblumenkerne. Für kurze Zeit lutschte und spuckte dann die ganze Familie diese Reste aus der Presse.

Die andere Leidenschaft war der Gesang im Männergesangverein. Ursprünglich hatte er der Liedertafel Zehlendorf von 1876 angehört, die sein Vater mitgegründet hatte und in die er am 3.8.1896 eintrat. Vom 1.8.1904 bis 1.2.1953 war er dort Notenwart. Am 10.8.1920 wurde er Ehrenmitglied. In Steglitz gehörte er dann später dem Männergesangverein Berlin-Steglitz von 1878 an, der wenn ich mich richtig erinnere, aus der Fusion mit den Zehlendorfern hervorgegangen war. Hier trat er am 17.2.1953 ein, wurde am 19.2.1953 Notenwart und Ehrenmitglied. Im Grunde spielte sich hier seine Freizeit ab. Er war 2. Notenwart, und ich kenne ihn aus der Nachkriegszeit kaum anders als Noten schreibend. Denn ganze Partituren für die einzelnen Stimmen konnte sich der Verein nicht leisten. Also schrieb Otto die Blätter für die einzelnen Stimmen ab. Das war ihm jahrelange Beschäftigung. Einzelne Beispiele sind noch erhalten. Für 1953 gibt es auch den Beleg dafür, daß er Mitglied des erweiterten Vorstands war und Ehrenmitglied des Vereins. So trug er auch die goldene Ehrennadel des Deutschen Sängerbundes. Wichtig war aber auch das Vereinsleben, in das die ganze Familie einbezogen war: die Konzerte, die Ausflüge, die Weihnachts- und Osterfeiern und vor allem das jährliche Eisbein-Essen.

Neben all dem war er auch gerne in der Natur unterwegs. Bis ins hohe Alter war er ein ausdauernder Spaziergänger, immer mit dem „wasserdichten" Stock in der Hand. Da konnte er den Begleitern viel erzählen, kannte die Pflanzen und die Tiere und wußte auch, Pilze zu finden. Ähnliches galt für Busfahrten, etwa mit dem Einser von Wilmersdorf nach Lichterfelde-Süd. Da kam man durch Zehlendorf, und die Erinnerungen kamen hoch. Wie er einmal mit einem beladenen Karren (zwei große Räder, eine große Ladefläche und zwei lange Griffe zum Schieben) die untere heutige Clay-Allee den leichten Anstieg hinauf musste, was ihm schwer fiel. Da sei ein freundlicher Mann gekommen und habe ihm schieben geholfen. Dann sei der im Wald verschwunden und nach einiger Zeit habe er einen Schuß vernommen. Am nächsten Tag erfuhr er, daß dieser nette Mensch sich das Leben genommen hatte. Auch im Alter wollte es ihm nicht in den Kopf, daß so ein netter und hilfsbereiter Mensch Selbstmord begeht. Oder er zeigte die heute nicht mehr stehende alte Kate südlich der Eisenbahnbrücke, an der er sich mit Bertha verabredet hatte. Da er immer so von seinen Kartoffelpuffern geschwärmt hatte, hatte sie - vielleicht verliebt, vielleicht etwas spitz - gesagt, er solle doch mal welche mitbringen. Nun hatte er sie dabei, und sie versetzte ihn. Da habe er dann die schönen Kartoffelpuffer vor Wut an die Hauswand geworfen und sei nach Hause gegangen. Aber er war eben kontaktfreudig und redselig. So erzählte er in Gesellschaft die alten Geschichten, von denen mir manche in Erinnerung blieb und sich hier wiederfindet. Bei Stromsperre konnte man mit ihm in der Küche viele Volkslieder singen, und alle Instrumente eines Sinfonie-Orchesters oder einer Militär-Musik-Kapelle kannte er auswendig.

Am Donnerstag, den 23.2.1956 berichtete der Berliner „Telegraf" unter der Überschrift „ Mir sind alle Lieder lieb":

„ Noch gibt es Berliner Originale - eins davon ist Otto Telschow aus der Markelstraße 29. Der alte Herr mit dem jugendlichen Temperament wird morgen 80 Jahre alt. Zum Geburtstagsständchen hat sich der ganze „Männergesangverein Steglitz 78" angemeldet.

Otto Telschow ist einer der ältesten Berliner Sangesbrüder, singt heute noch den ersten Baß, ist im Vorstand des Vereins, außerdem Notenwart (damit Hüter des kostbarsten Vereinsschatzes) und trägt die goldene Ehrennadel des Deutschen Sängerbundes. Weil er seit 60 Jahren mitsingt.

Sein Lieblingslied ? „Mir sind alle Lieder lieb", strahlt der alte Sänger mit der flotten Baskenmütze. Der Gesang war immer sein Steckenpferd, auch die Arbeit wurde ihm nie zur Last. Fast 50 Jahre war Otto Telschow Telegrafenoberleitungsaufseher bei der Post.

Der geborene Zehlendorfer ist auch der geborene Sänger. Schon sein Vater war in der „Zehlendorfer Liedertafel". Im Beruf lernte Telschow alle Landstraßen mit Post-Telegrafenleitungen zwischen Berlin und Brandenburg kennen. Übrigens: das mit dem jugendlichen Temperament war nicht übertrieben. Als wir Otto Telschow im vierten Stock besuchten, hatte er gerade zwei Eimer Kohlen aus dem Keller geholt, begann drei Öfen zu heizen und fand, daß es ohne Arbeit doch etwas langweilig würde."

Und der Steglitzer Lokalanzeiger schrieb am 19.2.1956 unter der Überschrift „ Seit 50 Jahren in Steglitz !":

„Wie in unserer Gratulationsspalte mitgeteilt, begeht Telegrafen-Oberleitungsaufseher i. R. Otto Telschow, Ste., Markelstraße 29, am Freitag, 24. Februar, seinen 80. Geburtstag. Wir erfahren dazu noch, daß Otto Telschow seit 1906 in Steglitz wohnt und von seinen insgesamt 46 Dienstjahren bei der Deutschen Reichspost 36 Jahre auf dem Fernsprechamt Steglitz tätig war. Seit 60 Jahren ist unser Geburtstags"kind" aktiver Sänger und Träger der goldenen Ehrennadel des Deutschen Sängerbundes. Er gehört als Vorstandsmitglied dem Männergesangverein Steglitz 1878 an. - Wir schließen uns den zahlreichen Glückwünschen vollinhaltlich an."

Im Berliner „Telegraf" erschien am Sonntag, den 25.3.1962 unter der Überschrift: „Angela liebt ihren „kleinen Opa" - Einsam im Alter ?" ein Artikel von Christel Poensgen, einer Nachbarin von Otto Telschow. Darin heißt es:

„Unsere dreijährige Tochter Angela liebt ihren „kleinen Opa". Der kleine Opa wohnt über uns. Er ist wirklich klein, 1,58 m groß, 87 Jahre alt und sehr lieb. Er trägt ein „Radio" in seinem Ohr und wird nie müde, auf Angelas Fragen zu antworten. Verwandt ist er nicht mir uns. Er lebt mit einer unverheirateten Tochter zusammen und ist für alle der „kleine Opa" .... Angela fragte uns neulich, ob alle Kinder einen kleinen Opa haben. Ihre Schlußfolgerung war, daß Kinder ohne kleinen Opa viel weinen müssen." Zwischen diesen beiden Textteilen wird von Wohnbauprojekten berichtet, wo Junge und alte zusammen leben können. Der „kleine Opa" war Otto Telschow.

Kurz vor seinem Tode äußerte der in Zehlendorf geborene alte Steglitzer aber doch den Wunsch, auf dem alten Zehlendorfer Friedhof in der Onkel-Tom-Straße beigesetzt zu werden. Hier ruhten auch seine Eltern. Ein entsprechender Antrag seines Sohnes Fritz blieb ohne Erfolg. So fand er dann seine letzte Ruhestätte auf dem Waldfriedhof in Zehlendorf.

Von seiner Frau Bertha erzählt anschließend ihre Tochter Annemarie mehr. Von Bertha existiert interessanter Weise ein Personalausweis aus dem Jahre 1945 in deutscher und russischer Sprache.

5/8 Franz Paul Otto Telschow 1876 - 1965 >>> Caroline Emilie Auguste Bertha Bieber 1878 - 1946

Theodor Fontane: Gruß

Blaue Havel, Grunewald,

Grüß mir alle beide,

Grüß und sag, ich käme bald,

Und die Tegler Heide.

Mai 1990

Am 20. Mai wollten wir Annemarie Dietzes geborene Telschow 80. Geburtstag feiern. Wo? Natürlich bei Pichlers in Lankwitz. Denn „Pichlers Victoria-Garten" war schon in der Kindheit von Annemarie ein beliebtes Ziel ihrer Eltern gewesen. Hier konnte man Kaffee kochen und selbst mitgebrachten Kuchen essen. Die Kinder konnten zudem schön spielen. Und Pichlers gab es, wenn auch in veränderter Form, noch. Sogar einige Hotelzimmer hatten sie. Also holten Bärbel und ich am Vortag mit dem Auto Fritz und Marthl in Nürnberg ab und fuhren nach Berlin. Gegen Abend kamen wir dort müde an. Wir bezogen die Zimmer und begaben uns dann in das nette Restaurant mit guter Küche. Angesichts der langen Speisekarte fiel uns die Entscheidung nicht leicht. Besonders lange überlegte Fritz. Dann entschloß er sich für „Berliner Eisbein". Wir rieten ihm ab, weil er müde sei und es schon spät, und wegen der großen Portionen. Er ließ sich aber nicht abbringen. Marthl wollte nur eine Kleinigkeit essen, „nur ein Pastetchen". Was Bärbel und ich aßen, weiß ich nicht mehr. Es kommt aber auch nicht darauf an. Der Ober kam. Fritz bestellte und fragte doch wirklich den Ober, ob er das Eisbein auch mit Pommes frittes bekommen könne. Ungläubiges Staunen des Obers: Berliner Eisbein mit Pommes frittes? Fritz wollte es und es kam, so groß, wie ein Berliner Eisbein eben ist, mit Pommes, Sauerkraut und Erbsenpürée, eine Riesenportion. Fritz machte sich an die Arbeit. Das Fett ließ er gleich liegen. Aber auch das magere Fleisch überforderte ihn, erst recht die Zugaben. Er kämpfte. Marthl hatte ihr Pastetchen bald vertilgt und richtete nun neugierige Blicke auf Fritzens Teller. Dann langte sie mit der Gabel mal rüber. Fritz war dankbar für die Hilfe. Schließlich gab Fritz auf. Marthl aber nahm sich seinen Teller und aß nach und nach alles auf. Nicht nur „ein Pastetchen" Am anderen Tag saß man nachmittags schön zusammen. Zum Schluß gab es ein Foto mit Annemarie, Fritz, den Cousinen Gretchen und Hannchen sowie dem Cousin Rudi. Das Bild wurde bemerkenswert. Eine Generation Telschows stand nebeneinander, alle unter 1,60 m. Sie machten ihrem slawischen Familiennamen alle Ehre.

Zerstörte Träume: Annemarie Dietze

Annemarie, geborene Telschow, hat kein einfaches Leben gehabt. Der Mann ist im Krieg geblieben, die Wohnung ist ausgebombt worden, der einzige Sohn nach Australien ausgewandert. Das will erst einmal verkraftet werden. Ein bißchen hat sie daran gearbeitet, indem sie ihre Erinnerungen aufgeschrieben hat. Diese sollen auch jetzt folgen.

Erinnerungen an unsere Kindheit

Angeregt durch das Buch von Gerhard Braun, sind auch bei mir sehr viele Erinnerungen an meine Kindheitsjahre wachgerufen worden. Es reizt mich sehr, zu versuchen, ob ich einiges davon zu Papier bringen kann. Jch habe nicht die Absicht, ein Buch zu schreiben. Das wäre für mich zu hoch gegriffen. Ich möchte es tun aus Freude am Mitteilen. Jedenfalls hat sich bei mir etwas aufgetan, was mich drängt, es zu erzählen.

Ich wurde am 20. Mai 1910 in Berlin-Steglitz geboren, und zwar direkt neben der Badeanstalt Bergstraße 91. Wie das Schicksal so spielt, hat diese Badeanstalt später nach dem Zweiten Weltkrieg für mich insofern Bedeutung erhalten, weil ich dort, der Not gehorchend, beruflich tätig war. Ja, aber an diesem 20. Mai 1910 sollte eigentlich unsere schöne blaue Erdkugel durch den Halleyschen Kometen zerstört wer­den, wie so viele Leute glaubten und befürchteten. Besagter Komet befand sich an diesem Tag in großer Nähe unserer klei­nen Welt. Schade, ich kann nun unseren lieben Vater nicht mehr fragen, wie er das damals miterlebt hat. Mein Bruder Fritz sagte zu mir, als ich ihn vor kurzem darauf aufmerksam machte, ,, na, da hast Du ja noch mal Schwein gehabt." Ha, ha, ha. Übrigens jetzt im Mai 1986 ist es wieder mal soweit. Man hat ihn schon gesichtet, den Halleyschen Kometen.

Ich weiß nicht, wie alt ich war, Fritz sagt, es war 1911, als unse­re Eltern mit uns drei Kindern und dem Großvater Bieber in die Albrechtstraße ,,115" zogen. Meine ersten Kindheitserinnerungen beginnen, als ich 3 bis 4 Jahre alt war. ,,115" hatte ein Vorderhaus mit zwei Hinterhöfen und Seitenflügeln sowie einen Platz für die Klopfstange und dahinter einen Garten. Unsere Wohnung war im zweiten Hinterhof und lag in der zweiten Etage. Sie war nicht sehr groß. Wir hatten 1 1/2 Zimmer mit Küche und Bad und Toilette und einen langen Korridor. Das große Zimmer war Wohnzimmer und Schlafzimmer für unsere Eltern, meinen Bru­der Fritz und mich. Meine Schwester Elisabeth hatte ihr Bett am Ende des langen Korridors in einer Ecke stehen. Das kleine Zimmer bewohnte unser Großvater, der Vater unserer Mutter.

Das schönste für mich war der Balkon. Wenn man von ihm runterschaute, sah man links auf den Hof und den Pferdestall von Kohlenhändler Niemeyer. In meinen Ohren höre ich noch heute das Klappern der Pferdehufe, wenn die Tiere morgens und abends aus und in den Stall geführt wurden. Ich dachte dann, sie werden müde sein und sich auf ihren Futtertrog freuen. Den ganzen Tag über mußten sie den schweren Kohlenwagen von Haus zu Haus ziehen. - In den Garten, der zu unserem Grundstück gehörte, konnte man auch sehen und auf die Hinterhäuser der Südendstraße.

Im Laufe der vielen Jahre kannte man auch die Leute, die sich dort hinter den Fenstern und auf den Balkonen bewegten. Welche Schicksale mochten sich dort abspielen? Aber viel mehr gehörten natürlich unsere Hausnachbarn mit ihren Kindern, unseren Spielgefährten, in unsere kleine Welt. Über uns wohnte die feine Frau Stimming. Sie machte schöne Handarbeiten, was meinen Vater sehr beeindruckte. Das Ergebnis war, ich mußte jeden Tag zwei Zacken an meinen Küchenkanten häkeln, vorher durfte ich nicht runter zum Spielen. Nun saß ich da auf dem Fensterbrett in der Küche und schaute sehnsüchtig auf meine Spielkameraden im Hof und schwitzte Blut und Wasser, denn die Zacken wurden gar nicht so schön zackig. Unsere direkte Flurnachbarin war Paula Maluschke. Wenn ich an sie denke und an ihre Küche, dann habe ich noch immer den Geruch von alten Kartoffelschalen in der Nase. Letztere sammelte sie, dafür bekam sie Anbrennholz auf dem Markt.

Die Familie Kirchhoff wohnte unter uns. Willi K. war in meinem Alter. Wir spielten viel zusammen und gingen später auch zusammen zur Schule. Vater K. war wenig zu sehen, er ging auf Montage. Ich kleines Ding konnte mir gar nichts darunter vorstellen. Die Familie zog später nach Steins­tücken. Sie hatten dort ein Häuschen mit Garten. Mein Bruder Fritz und ich besuchten sie noch mehrmals. Das war dann für uns ein Ausflug mit der Dampfbahn.

Einer der ersten Taxifahrer von Berlin war Herr Pirschel. Auch er wohnte mit seiner Frau in unse­rem Aufgang. Herr P trug immer einen Lederanzug, was wir Kinder sehr bestaunten. Rauchen im Auto tat er nie, das war wohl zu ,,gefährlich". Ab und zu durfte ich ein kleines Stück mitfahren. Ich war ganz glücklich und stolz darüber.

Die Geschwister Hans und Lotte Schmidt wohnten im ersten Hof. Mit ihnen gingen wir oft zum Grunewaldsee baden. Das waren für uns weite Wege. Fahrräder für Kinder gab es zu dieser Zeit nicht, das ging alles zu Fuß. Einmal ist dann folgendes passiert: Lotte war etwas älter und größer als ich. Wir gingen zusammen ins Wasser und hielten uns an der Hand fest. Lotte war einen Schritt voraus. Plötzlich verlor sie den Boden unter den Füßen. Statt mir etwas zu sagen, zog sie mich in ihrer Angst mit hinein. Wir klammerten uns aneinander, tauchten mehrmals auf und unter, und unsere beiden Brüder standen am Ufer und lachten sich halb schief. Fritz und Hans dachten, wir machen Spaß. Ein anderer Junge zog uns dann raus. Der konnte selbst noch nicht richtig schwim­men. Die Grunewaldseen sind dafür bekannt, daß der Grund plötzlich steil abfällt. In diesen paar Sekunden der Todesangst zog mein kleines Kinderleben wie ein Film an meinen Augen vorü-ber. Ich habe das nie wieder vergessen. Der Schock saß so tief in meinem Herzen, daß ich mein ganzes Leben lang nie richtig schwimmen lernte, obwohl ich viele Anläufe dazu gemacht habe. Gelegen­heiten dazu gab es viele.

Als Großvater Bieber gestorben war, hatten wir ja nun das kleine Zimmer dazubekommen. Groß­vater war übrigens Landbriefträger gewesen. Das war damals noch sehr schwer. Mutter erzählte uns, daß sie und ihre Schwestern dem Vater helfen mußten, die Post auszutragen. Als er bei uns wohnte, stand da in seinem Zimmer eine Kommode. Im oberen Schubfach lag immer sein Brot. Es war damals der Erste Weltkrieg und viele Lebensmittel gab es nur auf Marken zugeteilt. Den Ge­ruch, der aus der Schublade kam, das alte Holz und das Brot, habe ich noch heute in der Nase. Überhaupt hängen viele Erinnerungen mit Gerüchen und Geräuschen zusammen. Nun zum kleinen Zimmer und einem meiner kleinen Spielchen. Es war da eine neue Tapete mit vielen schönen Blu­men drauf. Der große Kachelofen war die Tafel und die Blumen auf der Tapete waren die Schulkinder. Ich spielte Lehrerin und schrieb mit weißer Kreide die Aufgaben an die grüne ,,Tafel". Lehrerin spielte ich über­haupt sehr gern.

Wir hatten in der Birkbuschstraße an der Bäke einen Schreber­garten, den mein Vater liebevoll bepflanzte und betreute, denn er war sehr naturverbunden. Der Hauptweg war schön sau­ber eingefaßt mit weißgestrichen Mauersteinen und führte auf die etwas tiefergelegene Laube. Im Frühling standen auf beiden Seiten, gleich hinter den weißen Steinen, rotleuchtende Tulpen wie die Soldaten bis runter zur Laube. Darüber wieg­ten sich weißblühende Kirschzweige im Wind. Im Frühling, wenn die Natur erwachte, roch es besonders gut im Garten; aber auch im Sommer und im Herbst die strengen schwarzen Johannisbeeren, die Tagetes, die Tomatenpflanzen. War es sehr heiß, dann spielte ich unten im Schatten der Laube, ich war ,,Gärtnerin". Ich sortierte die Pflanzen, Unkraut natür­lich.

Oben an der Eingangstür zum Garten hatte Vater uns eine Schaukel aufgestellt. Zu beiden Seiten standen hohe gelbe Ohrenkneiferblumen und die waren mal wieder meine Schul­kinder. Ich turnte ihnen etwas vor und redete auf sie ein. Da muß ich wohl mal einen zu großen Schwung genommen ha­ben, denn ich fiel mit lauten Plumps auf den Bauch. Ich hatte die Sprache verloren, im wahrsten Sinne des Wortes. Vater, der den Fall gehört hatte, kam atemlos den Weg raufgelaufen. Er hatte einen gehörigen Schreck bekommen. Nach einem Weilchen konnte ich dann wieder sprechen. Familie Kirchhoff hatte auf demselben Gelände ebenfalls einen Garten. Bei ihnen stand ein hohes Reck. Eines Tages bin ich auch da mal runtergefallen, so daß alle Zähne wackelten. Daß sie nach ein paar Stunden wieder fest waren, hat mich sehr gewundert. Ja, Vaters Garten. Darauf komme ich später bestimmt noch mal zu sprechen. Es existiert ein altes Foto. Ich glaube Bruder Fritz hat es konfisziert ha,ha, ha. Auf dem Bild sieht man einen Tisch, auf dem Kürbisse in allen Größen liegen, zum Aussuchen. Die Verwandtschaft durfte kommen und sich einen Kürbis aussuchen.

Die Albrechtstraße und Umgebung

Durch die Albrechtstraße fuhr eine Straßenbahn; ansonsten war ja damals wenig Verkehr auf der Straße. Wir Kleinen hatten unseren Spaß daran, Haarnadeln auf die Schienen zu legen. Ganz weit unten sahen wir die Bahn langsam den Berg raufgefahren kommen, und wenn sie vorbei war, sausten wir neugierig hin, unsere Nadeln waren plattgewalzt. Mutter wird so manches Mal ihre Haarnadeln gesucht haben.

Wenn man vor unserm Haus stand, war da links der Konsum und rechts der Buch- und Musikalien­laden von Herrn Kunze. Nicht weit vom Kohlenhändler Niemeyer war die Bäckerei Kirchenberger, wo wir unsere Backwaren kauften. Es war die Zeit des Ersten Weltkrieges und es gab wenig zu essen. Meistens hielt sich der alte Großvater der Kirchenbergers im Laden auf. Der konnte meinen Bruder Fritz gut leiden. Wir nannten ihn in unserem Familienkreis ,,Brummel", weil er immer vor sich hinbrummelte. War der Brotkasten mal wieder leer bei uns und alle Marken aufgebraucht, dann sagte meine Mutter zu Bruder Fritz: ,,Geh doch mal zu Brummel, vielleicht gibt er Dir was". Mein Bruder kam dann meistens mit einem halben Brot zurück. Die Söhne von Kirchbergers gin­gen aufs Gymnasium. Frau K. sprach meistens mit ihnen französisch. Hatte einer der Jüngeren die Tür offen gelassen, rief sie laut ,,fermez la porte". Von ihr hatte ich einen Spruch gelernt, d.h. ein kleines Zwiegespräch. Das fing so an: ,,Bonjour Madame de Sanssouci" usw. Einer ihrer Söhne wurde Arzt und hatte später in der Albrechtstraße seine Praxis.

Herr Kunze verkaufte Noten und hatte eine Leihbibliothek. Als ich etwas größer war, half ich ihm. Ich durfte Bücher raussuchen, die die Leute leihen wollten. In Karteikarten wurde alles eingetra­gen. Ich lernte dabei gleich, wie man Bücher ordentlich einpackt und wie man einen schönen Schutz­umschlag faltet. Ich kann heute noch nicht leiden, wenn man mit Büchern liederlich umgeht. Für mich kleine Leseratte war der ganze Laden eine Schatzinsel. Ich las alles, was mir in die Hände fiel. Aller­dings schrieb man damals noch nicht so freizügig wie heute. In den damaligen Liebesromanen ,,kriegten" sie sich noch und immer siegte das Gute. Herr Kunze saß an der Kasse und kassierte. Die No­ten suchte er selbst raus. Er war ein alter Junggeselle und hatte eine Haushälterin. Ihr Sohn Erwin war auch ein Spielge­fährte und Schulkamerad von mir. Oft saß ich bei den beiden hinten in der Küche. Abends nahm Frau Dierling ein Buch in die Hand und schlug nach, was sie am nächsten Tag im Haushalt zu machen hatte. Sie arbeitete genau nach Plan und alle paar Wochen fing sie mit ihrem Pensum von vorne an. Ich muß sagen, das hat mich mächtig beeindruckt. Ubrigens unserem Vater gefiel das gar nicht so sehr, wenn ich in den Büchern rumschmökerte. Ich hätte lieber Mutter beim Abwasch helfen sollen.

Und nun zum Logengarten. Wir kleinen Puppenmütter spielten mit Vorliebe im Vorgarten der Loge. Mit einem Stöckchen zogen wir Striche in den Sand und mal­ten einen Grundriß unserer ,,Wohnun­gen". Wir spielten Vater, Mutter, Kind. Meine kleinen Freundinnen, die Geschwister Schöbel, wohnten ebenfalls im 2. Hinterhof von ,,115". Mutter Sch. hat oft Kartoffelpuffer gebacken und Marme­lade draufgeschmiert, na das war schon Luxus. Ich bekam dann auch immer was ab. Und dann erst die selbstgebackenen Pfefferkuchen! Ich muß wohl doch immer sehr hungrig gewesen sein. Wenn wir dann dort im Logengarten eifrig spielten, kamen ab und zu sehr gut gekleidete ältere Herren vorbei. Was eine Loge ist, wußten wir damals nicht. Es sah alles sehr geheimnisvoll aus. Ein Vorge­setzter unseres Vaters war auch ein Logenbruder. Vater sprach darüber sehr ehrfurchtsvoll.

Wenn man die Albrechtstraße Richtung Stadtpark runterlief, sah man schon lange von weitem den markanten Turm der Markuskirche. Jeden Sonntagvormittag gingen wir Geschwister zum Kindergottesdienst. Am schönsten war es immer zum Pfingstfest. Wir Mädchen trugen ein Blumen­kränzchen im Haar, die Jungen ein Sträußchen im Knopfloch. Am Pfingstsonnabend brachte unser Vater frische Stiefmütterchen aus dem Garten und flocht mir das Kränzchen. Über Nacht wurde es auf einen Teller mit Wasser gelegt, damit es bis zum Pfingstmorgen frisch blieb. Wir trugen weiße Kleidchen, die meine Mutter selbst nähte. Meine Mutter nahm sich auch die Zeit und ging mit uns in den Stadtpark. Später gingen wir allein, wenn bloß nicht immer die ,,weiten" Wege gewesen wären. Einer der weitesten war der Weg zur Domä-ne Dahlem. Bis dorthin liefen wir von der Albrechtstraße, nur um etwas Milch aus dem Kuhstall zu bekommen.

Am Ende der Bergstraße, gleich hinter dem Steglitzer Friedhof, lagen die ,,Rauen Berge". Wir Kinder kamen uns vor wie in der Wüste. Es waren heiße Sommertage und Ernst Lubitsch, ein auch heute noch bekannter Filmregisseur, drehte den Film ,,Das Weib des Pharaos". Wir waren das Fußvolk. Es war alles sehr aufregend und spannend. Geschwister Schöbel und ich, ach wir waren eine ganze Kinderschar, zogen schon früh am Morgen los. In einem großen Kinderwagen lag der Proviant für den ganzen Tag. Auch Decken wurden mitgenommen. Wichtig war, daß wir genug zu trinken hatten, denn es war sehr heiß in der ,,Wüste". Wir schoben den schweren Kinderwagen die lange Bergstraße entlang. Man hätte sagen können ,,soweit die Füße tragen". Unsere Mütter waren wohl froh, daß wir für ein Weilchen aus dem Weg waren. Das Mörtelwerk wurde später sehr ver­kleinert, die Sandberge wurden planiert und ein Teil des Geländes kam zum Friedhof dazu.

Die Breitestraße war ein wichtiger Ausgangspunkt für unsere Räuber- und Schutzmannspiele. Gleich am Anfang der Ecke Albrecht- und Breitestraße stand ein großer Sandkasten, der war das Haupt­quartier. Wie oft saßen wir wohl darauf! Das ganze Gebiet zwischen Breite-, Mittel- und Belfortstraße bis runter zum Stadtpark waren schöne ruhige Straßen und ideal für unsere Verfolgungsspiele. Im Herbst lag die Breitestraße voller Laub, es raschelte so schön unter den Füßen. Mein Bruder Fritz fegte es zusammen und transportierte es auf einem kleinen Kastenwagen in Vaters Garten. Unzäh­lige Male sind wir die Breitestraße entlanggelaufen, wenn wir zu unserem Garten gingen. Als Kind kam einem alles so furchtbar lang vor.

Vater, Mutter, Schwester, Bruder

Unser Familienleben spielte sich hauptsächlich in der Küche ab. Es war alles viel zu eng, aber das war zu jener Zeit in anderen Wohnungen das gleiche Pro­blem. Wir kannten es nicht anders. Obwohl es an­derswo auch wenig Platz gab, hielt ich mich viel mehr bei den nachbarlichen Familien auf. Ich bin wohl, mir als Kind unbewußt, vor zu Hause geflohen. Es hat mich irgendwas schwer bedrückt. War es das Leiden meiner Mutter? Sie war asthmakrank und bekam oft, meistens nachts, schwere Er­stickungsanfälle. Wir konnten dann alle nicht schla­fen, und ich sehe heute noch meinen Vater hilf- und ratlos in der Stube hin- und herlaufen, weil er ihr nicht helfen konnte. Am nächsten Tag saß ich trau­rig in meiner Schulbank und wurde die nächtlichen Bilder nicht los. Vielleicht fühlte unsere Mutter sich überfordert, fühlte sich ihren Aufgaben nicht gewach­sen. Es waren ja schwere Zeiten. Jeden Tag mußte für die fünfköpfige Familie ein Essen auf dem Tisch stehen. Wo nun hernehmen? Wir hatten keine Ver­wandten auf dem Lande, die uns etwas schicken konnten. Vater arbeitete nach Dienstschluß stunden­lang, bis es dunkel war, im Garten, um uns vor allem mit Gemüse zu versorgen. Er war so fleißig, er gab sich so viel Mühe, aber er konnte es ihr nie recht machen. Ich kenne kaum einen Menschen, der in seinem Leben so viel geschuftet hat wie unser Va­ter. Ja, ich kenne noch einen, das ist mein Bruder Fritz. Am meisten hielt Mutter von ihm. Er hat ihr in den schlimmen Jahren viel Beistand geleistet, was ich selbst gar nicht so richtig mitbekommen habe.

Wir Kinder waren altersmäßig alle etwa 3 Jahre auseinander. Schwester Elisabeth, die älteste war die ,,Große", charakterlich schwierig, dickköpfig mit ziemlich großer Klappe. Ich glaube, heute würde man sagen, sie fühlte sich frustriert. Sie petzte gern, sie wußte immer etwas.Vielleicht wollte sie sich damit wichtig tun, auf sich aufmerksam machen. Fritz war der ,,Akin". Vielleicht hat er sich als kleiner Knirps selbst mal so genannt. Er war fleißig und ordentlich und half, wo er konnte. Für mich hatte Vater einen besonderen Namen. Ich war die ,,Thusnelda". Ich fand es immer schrecklich, wenn er mich so nannte. Heute sehe ich das anders.

Mutter wollte mich gar nicht haben, ich sollte gar nicht mehr kommen. Das hat sie mir mal gesagt. Das hat mir als Kind sehr weh getan. Wie sollte ich als kleines Ding das überhaupt verstehen? Das gleiche gilt für Elisabeth. Sie kam ja ,,außerfahrplanmäßig"' zu früh, auf die Welt. Und hier lag vielleicht das große Problem, das meine Eltern miteinander hatten. Mutter hatte einfach Angst in diesem besonderen Sinne. Flüchtete sie sich in die Krankheit? Am wohlsten fühlte sie sich, wenn wir alle aus dem Haus waren, denn Vater wanderte gerne mit uns; er liebte die Natur. Er hatte auch sein besonderes ,,Hobby", das war sein Gesangverein. Dort fühlte er sich wohl, dort war er fröhlich und im Nachhinein freue ich mich für ihn. Sänger sind fröhliche Menschen, und er fand in diesem Kreis den wohlverdienten Ausgleich. Fünfzig Jahre war er Notenwart und schrieb die Noten selbst. Mit seiner schönen Handschrift stand der Text darunter.

Nun komme ich zu unserer Küche Da war immer Leben. Bruder Fritz bekam Geigenunterricht und mitten in der Küche stand das Notenpult. Fritz und Vater übten! Vaters Taktstock schlug auf das Notenpult, und laut wurden die Takte gezählt. Unser Vater verstand was davon, er hatte nämlich als junger Mann Musiker gelernt. Sein Meister schickte die jungen Leute von Teltow nach Potsdam. Dort mußten sie bei den Soldaten zum Tanz aufspielen. Unzählige Geschichten hat er uns erzählt, was sie alles anstellten, wenn sie auf dem langen Königsweg nach Hause wanderten. Wie der Zufall es will, haben wir ihn später ganz dicht an seinem geliebten Königsweg auf dem Waldfried­hof beigesetzt. Er spielte übrigens Klavier; eins, zwei, drei, eins, zwei, drei, das höre ich noch immer. Vater gab sich viel Mühe auch mit uns Kindern. Wie er es fertig brachte, für Fritz und mich das Schulgeld zusammenzukratzen, weiß ich nicht. Aber Fritz hatte, wenn ich mich nicht irre, eine Freistelle.

Andere Szene: Großreinemachen in der Küche. Vor dem Küchenschrank steht die Leiter. Mutter wollte das ganze Geschirr rausräumen, um es gründlicher zu reinigen. Elisabeth, die ja nun schon ein Fräulein war, hatte die Angewohnheit, ihren Kneifer in den Küchenschrank zu legen, damit er heil blieb. Fritze wollte damals schon Pastor werden. Er stieg auf die Leiter, setzte sich den Kneifer auf die Nase, um mir von der Kanzel eine Predigt zu halten. Da fiel plötzlich der Kneifer auf den Fußboden und war nun in tausend Scherben, wie man so schön sagt. Er war drei Jahre älter als ich. Wenn er seine Gedichte und Balladen laut auswendig lernte, lief er in der Küche auf und ab. Auf diese Weise lernte ich gleich mit. Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland usw.

Um unseren Speisezettel ein wenig zu erweitern, machte Vater vorsichtig den Vorschlag, Kanin­chen anzuschaffen. Mutter wollte durchaus nicht mitmachen. Aber eines Abends brachte Vater doch welche mit. Sie waren so klein und niedlich, daß auch Mutter ganz begeistert war. Sie wurden auf dem Balkon einquartiert. Zu Weihnachten gab es Kaninchenbraten. Weihnachten lief bei uns immer sehr langsam an. Vater war nicht als Soldat eingezogen, er hatte nicht das ausreichende ,,Maß". Er war am Postamt Steglitz beschäftigt und hatte Heilig Abend lange Dienst. Für uns Kin­der war das eine lange Zeit, auf die Bescherung zu warten. Mutter war der Napfkuchen, ich weiß nicht zum wievielten Mal, nicht gelungen, weil der Ofen nicht in Ordnung war! Und dann hieß es immer, dieses Jahr gibt es nichts zu Weihnachten. Aber dann wurde es doch noch schön. Am 1. Feiertag kochte ich in meiner Puppenküche ein feines Essen für Willi Kirchhoff. Vater hatte heim­lich für die Puppenstube aus lauter bunten Perlen einen Lampenschirm gebastelt. Meine Puppe bekam ein neues Kleidchen aus Mutters Hand. Und dann ging es zur Weihnachtsfeier nach Zehlendorf zum Gesangverein. Wir Kinder spielten Theater, was wochenlang vorher eingeübt worden war. Lange vor Weihnachten fuhren Fritz und ich sonntags mit der Dampfbahn ,,allein" zur Theaterpro­be. Zum Abschluß der Weihnachtsfeier gab es noch ein Tänzchen.

Hatte Vater sich mal wieder nach der Gesangstunde verplaudert und die letzte Bahn war schon längst abgedampft, pilgerte er eben zu Fuß nach Steglitz. Es war ja auch meistens eine Pilgerfahrt für ihn. Mutter hatte nicht schlafen können vor Sorgen um ihn und uns Kinder auch noch wach gemacht. ,,Denkt Euch, Vater ist noch nicht da". Aber dann kam der fröhliche Otto doch noch angetrudelt. Zehlendorf war sowieso beinahe unsere zweite Heimat, vor allem für Otto Telschow. Seine Mutter, die olle Ringeln - sie hatte nochmals geheiratet als der Vater unseres Otto starb - wohnte später dicht am Zehlendorfer Gemeindewald. Es war ein kleines Haus, das der Gemeinde gehörte. Unten wohnten Zerniks. Auf dem Hof gab es u. a. einen Schweinestall. Da war es doch tatsächlich mal passiert, daß das Schwein die kostbaren Brotmarken aufgefressen hatte. Die olle Ringeln färbte sich ihre roten Haare mit Ofenruß, ha, ha, ha. Elisabeth und mich konnte sie nicht leiden, wir waren die dünnen Zicken. Ich spürte diese Abneigung, sie beruhte auf Gegenseitigkeit, und ich war immer froh, wenn ich diesen Pflichtbesuch überstanden hatte. Auch hier war Bruder Fritz Favorit, aber ich sage das ohne Neid. Unser Vetter Rudi wurde mehrere Jahre von ihr betreut. Sein Vater, der jüngste Sohn und Bruder unseres Otto war gefallen, und seine Mutter mußte arbeiten gehen. Ich sehe noch unsere drei Kusinen, Lottchen, Gretchen und Hannchen auf Großmutters Sofa sitzen. Sie waren sehr lustige Mädchen und ihr Lachen und Kichern hörte man schon auf der Treppe. Vetter Rudi hatte viel Spaß mit ihnen.

Die olle Ringeln hatte eine besondere Gabe, sie konnte Krank­heiten besprechen, besonders bei Tieren, und auch mit Erfolg. Ich selbst reagiere sehr stark auf Gedanken und ahne oft Din­ge voraus. Leider keine guten, sondern die negativen. So et­was ist schlimm und belastet einen sehr. Ich möchte für mein Leben gern mal was Gutes vorausahnen. Zumindest muß un­sere Mutter, als sie unseren Fritz unter dem Herzen trug, eine fröhliche Phase gehabt haben, denn er ist sehr vital und le­bensbejahend. Seine Kraft holt er aus seinem Glauben. Wenn mich heute jemand fragen würde, wann warst du in deinem Leben besonders glücklich, dann würde ich antworten, als der Arzt mir sagte, sie erwarten ein Baby. Ich glaube, das war der glücklichste Augenblick in meinem Leben.

An der Ecke der Kleinen Albrechtstraße, einer Sackgasse, war der Laden des Fotografen Herter. Als wir etwa 3 bis 4 Jahre alt waren, ging unser Vater mit uns zu ihm. Fritze hatte Angst vor dem schwarzen Kasten und plärrte los. Zur Beruhigung bekam er ein Spielzeug in die Hand. Eines Tages war ich dann an der Reihe. Mutter sollte das Bild zum Geburtstag bekom­men. Vater sagte zu mir, das ist unser Geheimnis, Mutter soll vorher nichts wissen. Ich kleines Ding war wohl stolz und dachte wohl, versprochen ist versprochen. Ich verriet nichts. Das Bild wurde sehr niedlich, aber Mutter fand, daß ich schon sehr hinterhältig sei. Ja, so wird man verkannt. Ja, ja.

Wenn man zum Bahnhof Steglitz wollte, mußte man von uns aus bergab laufen. Ganz in der Nähe war der Wochenmarkt. Wenn Mutter uns mitnahm, reagierte jeder anders. Kamen wir zum Käsestand, blieb Fritze ein ganzes Stück weiter weg stehen. Er konnte den Käse nicht riechen und aß auch keinen. Vater hat ihm mal ganz heimlich einen kleinen Käsekrümel in eine Schrippe gezaubert. Der Junge biß ahnungslos hinein, aber in einem hohen Bogen flog ihm der Bissen aus dem Mund. Was mich als Kind schon verrückt machte, war das planlose Hin- und Herlaufen unserer Mutter.

Wesentlich besser ging es unserer Mutter gesundheit­lich, als wir von der Albrechtstraße in die Markelstraße zogen. Das war im Winter 1928/29. Die neue Woh­nung war hell und sonnig und hatte 2 1/2 Zimmer. Wir dachten, wir kommen in ein Paradies, aber da war ich selbst schon 18 Jahre alt. Eines Tages hörte ich jeman­den im anderen Zimmer vor sich hinpfeifen. Ich war aber mit Mutter ganz allein in der Wohnung. Das war vielleicht eine Uberraschung für mich, Mutter pfeift! Als der Umzug gestartet wurde, bekam die ganze Fa­milie neue eiserne Betten und Federbetten. Wir hatten nämlich in ,,115" jahrelang einen wahren Feldzug ge­gen die Wanzen geführt, der für uns alle aussichtslos war, und den wir nie gewonnen hätten. In unserer Schlafstube war ja immer, wie in der Küche, etwas los. Hatte Mutter mal ruhige Nächte, dann kämpfte Vater zur Abwechslung verzweifelt gegen die Wanzen. Die Bettstellen wurden mit Petroleum eingepin­seIt, so daß die ganze Wohnung penetrant danach roch. Vater tanzte mit dem Leuchter in der Hand hin und her, um die Dinger mit dem Pantoffel zu erschlagen. Alles ohne Erfolg, die Biester saßen im ganzen Haus, sogar bei der sauberen Frau Stimming.

Mir fällt auf, daß ich bisher nur von den ,,Sommerspielen" berichtet habe. Aber im Winter gab es auch Spaß. Die schönste Rodelbahn von ganz Steglitz war am Fichtenberg, und zwar in der Kaiser-Wilhelm-Straße. Zu meiner Kinderzeit gab es ja noch einen richtigen Winter und auch einen rich­tigen Sommer. Wir hatten wochenlang dicken Schnee und wochenlang schöne warme Sommerta­ge. Ja, der Fichtenberg, da war vielleicht ein fröhliches Leben und Treiben. Dort tummelten sich viele Kinder von nah und fern mit ihren Rodelschlitten. Fritze saß vorne auf unserem Schlitten und hatte zum Steuern einen Schlittschuh an. Mit Schwung ging es die Kaiser-Wilhelm-Straße runter und unten landeten wir in der Rothenburgstraße. Es gab oftmals Bruch. Es war eine ziemlich ge­fährliche Angelegenheit, die Rodelbahn war manchmal schon sehr vereist. Gott sei Dank hatten wir immer Glück. Wenn ich heute Leute treffe, die in Steglitz groß geworden sind, und wir kommen auf dieses Thema, alle waren damals dabei. Genauso, wie jedes Kind den Flohkintop an der Florastraße kannte. Die ganze Woche hofften wir darauf, daß Vater die 25 Pfennige spendierte, damit wir am Samstag die Fortsetzung des Trapper- und Indianer-Films sehen konnten.

Die Not wurde immer größer. Wir schrieben das Jahr 1918, als unsere Elisabeth eingesegnet wurde. An diesem Tag mußten wir, wie an allen anderen Tagen, das Essen aus der Volksküche holen. Meistens gab es Kohlrüben oder Graupensuppe, und Mutter hatte einen Mohrrübenkuchen gebac­ken. Vater und unser lustiger Onkel Willi sprachen lebhaft Vaters selbstgezogenem Obstwein zu. Scheinbar schmeckte er besonders gut aus Blumenvasen! Am Montagmorgen kam ich das erste Mal zu spät zur Schule, weil alle verschlafen hatten. Ich traute mich gar nicht in die Klasse, aber ich spendierte dann Mutters Mohrrübenkuchen. Auch der Lehrerin schmeckte er.

Vater zog selbst den Johannisbeerwein. Der große Weinballon aus Glas stand auf dem langen Kor­ridor, und wenn der Wein zu gären anfing, dann roch es mal nicht nach Petroleum. Elisabeth schlief ja auf dem Korridor, und da fällt mir ein, daß sie, solange sie lebte, immer gern und viel schlief; vielleicht aus Erinnerung an die Kindheit. Otto konnte auch alles mögliche für seinen Garten ge­brauchen. So fand er mal irgendwo auf der Straße ein liegengelassenes Entwässerungsrohr, ca. 1 m lang. Er lud es auf seinen kleinen Kastenwagen und fuhr es in den Garten. Es wurde ein Stückchen gerade in die Erde versenkt, am Lau beneingang. Was heraussah, strich er schön weiß an und pflanzte Blumen rein. Da kreuzte eines Tages an Vaters Gartenzaun ein Spaziergänger auf, ein kleiner ,,Wich­tigtuer", der bei der Stadtentwässerung beschäftigt war. Der nahm nun unseren Otto ins Kreuzver­hör und Otto mußte das Rohr wieder dahin schaffen, wo er es gefunden hatte. Er bekam auch mal ein bißchen Arger, weil ihn ein Aufsichtsbeamter im Botanischen Garten dabei erwischte, als er ganz verstohlen etwas Stiefmütterchensamen organisierte. Na schön, wenn das jeder machen wür­de .... Aber die Sache mit dem verrosteten Rohr ist ja schon ganz schön pingelig. Das hatte man sicherlich mit Absicht liegen lassen.

Onkel Pelle und ,,Hier können Familien Kaffee kochen"

Wir hatten einen sehr lustigen Onkel mit dem schönen Namen Willi. Er wohnte mit seiner Anna und unserer Kusine Wally in Wilmersdorf, in einer sehr kleinen Wohnung. Sie hatten nur eine Stube und eine Küche. Die Toilette war außerhalb der Wohnung, auf dem Treppenabsatz ein paar Stufen tiefer. Anna war eine Schwester unserer Mutter. Der verwandtschaftliche Verkehr war sehr rege. Dazu gehörte u.a. zumindest einmal im Sommer eine Dampferfahrt nach Potsdam. Wir marschier­ten alle mit Gesang durch den Wald; Onkel Willi blies dazu auf dem Kamm. Aber jedesmal hatten wir das Pech, daß ausgerechnet an diesem Sonntag ein Gewitter aufzog. Der Ausflug fiel beinahe jedesmal in's Wasser. Selbstverständlich waren wir auch alle zusammen, wenn in der Laubenkolo­nie das Sommerfest stattfand. Vater hatte den Garten schön mit Lampions und Girlanden geschmückt. Eine weißgedeckte Tafel wurde aufgestellt und Mutter kochte Kaffee. Die Wespen summten um den appetitlichen Apfel- und Pflaumenkuchen, und auf dem nahen Festplatz spielten die Musikan­ten. Abends wurden die Lampions und Stocklaternen angezündet, und der Fackelzug der Kinder zog durch das ganze Laubengelände; voraus marschierte Onkel Pelle. Die Fröhlichkeit unseres Onkel Willi wurde oft ausgelöst durch Vereinnahmung einiger Gläschen Bier. Einmal fand ein Sängerwettbewerb statt, an dem Vaters Chor und u.a. der Steglitzer Blindenchor teilnahmen. Bei der anschließenden Nachfeier vermißten wir unseren Onkel. Aber ein blinder Sangesbruder lieferte unseren lieben angesäuselten Onkel Willi in der Albrechtstraße bei uns ab.

Sonntags war überhaupt oft Ausgehtag. ,,Hier können Familien Kaffee kochen", stand damals an beinahe jedem Gartenrestaurant. Gingen wir nicht zu Pichlers nach Lankwitz, dann waren wir auch oft im Albrechtshof in Steglitz. Bei Pichlers gab es ein kleines Karussell und eine Luftschaukel. Dort waren wir Kinder bestens versorgt. Mutter nahm von zu Hause ein Tütchen Kaffee mit, und an der Kaffeeküche bekam man eine dicke weiße Porzel­lankanne mit heißem Wasser. Tassen wur­den auch geliefert. Kuchen brachte man selbst mit. Im Albrechtshof wurde schon ein bißchen mehr geboten. Im Garten stand ein Pavillon; es wurde Kabarett vorgeführt, Gesangseinlagen und Sketche geboten. Wir Kinder standen ganz vorn vor dem Pavillon, um ja alles mitzukriegen.

Mit der Schule machten wir auch ein paar­mal im Jahr Ausflüge. Einer ging mal in den Berliner Zoo. Wir besichtigten das Aquarium. U.a. kamen wir in eine große Halle, die mit tropischen Pflanzen und Tie­ren ausgestattet war. Da lagen nun in ei­nem Becken die unheimlichen Krokodile. Wir standen auf einer Holzbrücke; die Viecher lagen ganz faul da und man dachte, sie schlafen. Aber plötzlich regte sich da etwas. Mit uns stand eine alte Dame auf der Brücke; sie hatte einen kleinen Hund auf dem Arm. Als hätte das Krokodil den kleinen Mops hypnotisiert, sprang der kleine Kerl vom Arm des Frauchens in das ganz schnell aufgerissene Maul des Krokodils und war weg. Wir standen wie erstarrt; die alte Dame jammerte entsetzt los. Wie hat sie ihren kleinen Freund durch die Sperre geschmuggelt? In der Schule hatte ich nicht viel Spaß. Ich schrieb eine fünf nach der anderen für die Arbeiten in englisch und französisch, zu meinem und Vaters Kummer, denn er mußte immer unterschreiben. Im Rechnen war ich gut; die größte Uberraschung gab es bei der Abschluß-prüfung. Die Arbeiten in den Sprachen schrieb ich gut, die in Mathematik hatte ich verhauen, wie man so schön sagt. Im Mündlichen konnte ich das dann aber wieder geradebiegen. Ich atmete erlöst auf, als alles vorbei war.

Anschließend siedelte ich dann hinüber zum städtischen Gewerbesaal, wo ich als technische Zeich­nerin ausgebildet wurde. Das wurde ein fröhliches Jahr. Ich war das lustigste Mädchen der ganzen Klasse und hatte nur Flausen im Kopf und steckte alle an. In die Abschiedszeitung schrieb mein Klassenlehrer ,,Johann, dem munteren Seifensieder". - Und dann begann der Ernst des Lebens.

Ramelow in Pommern und die Geschichte einer langen Freundschaft

Ja, wir hatten viel gelernt in den Kriegsjahren, auch das Brotbacken. Wie Kuchen schmeckte uns die erste Scheibe vom selbstgebackenen Brot, meiner lieben Freundin Erika und mir. Erika ist nun schon lange tot. Wir waren von Kolberg auf das Land evakuiert worden. Berliner durften nicht in Kolberg bleiben. Das war im Mai 1944. Aber ich will der Reihe nach berichten.

Günter Bergener und mein Mann Rudi lernten sich als junge Männer am Anfang der dreißiger Jahre im Restaurant ,,Berliner Kindl" kennen. Und wir jungen Mädchen kamen dann dazu. Günter lernte seine Erika an der ,,Krummen Lanke" (einem See im Grunewald) beim Tanzen kennen. Bei mir und Rudi war es umständlicher. Der ,,Kraft durch Freude" - Zug fuhr uns erstmal 28 Stunden von Berlin zum Schwarzwald, bis wir beim ersten Mittagessen zufällig an einem Tisch saßen. Es gab Kartoffelsalat und Kotelett. Kartoffelsalat war Rudis Leibgericht! Ich staunte nur, wie er dar­auf losfutterte. Die Koteletts waren riesengroß. Ich dachte, das schaffe ich im ganzen Leben nicht. Die Hälfte mußte ich liegen lassen. Da kam die Frage: ,,Mögen sie das nicht mehr?" Als ich ver­neinte, wieder die Frage: "Darf ich? Geben sie mal her". Und dann futterte er weiter. Und ich kam aus dem Staunen nicht heraus. So fing es an.

Wir jungen Paare waren oft zusammen. Rudi war Bankangestellter und wohnte bei einer typichen Berliner Schlummermutter in der Potsdamer Straße. Die Frau wußte, wie man zu Geld kommt. Wenn ich zu Besuch kam, mußte er sogar die Klosettpapier­rolle extra bezahlen, ha, ha, ha. Günter arbeitete als Drogist in einer Drogerie am Bahnhof Schlachtensee, soviel ich weiß. Meine liebe Erika stammte von den Hugenotten ab. Sie war eine wunderschöne junge Frau und sah aus wie Schneewittchen, mit ihren schönen dunklen Haaren und einem ganz zarten Teint, wie Pfirsich. Sie hatte in ihrem Wesen viel Charme. Sie wohnte am Müggelsee in Friedrichshagen; das ist auch immer ihre Heimat geblieben. Ubrigens, wenn ich mir ihren Sohn Jürgen betrachte, er ist heute ein junger Mann von 50 Jahren, so finde ich, er hat einen stark französischen Einschlag, ihm fehlt nur die Baskenmütze. Wir hatten im Oktober 1937 geheiratet. Die Friedrichshagener waren oft unsere Gäste in unserer schönen neuen Wohnung in der Kreuznacher Straße, die 1945 ausgebombt wurde. Es war ein kur­zes Glück, wofür ich auch heute noch dankbar bin. 1939 begann das große Völkermorden. Unsere Männer wurden Soldaten. Als Rudi 1940 eingezogen wurde, war ich im 8. Monat schwanger. Wir hatten uns so sehr auf unser Kind gefreut. Der Sornziger Opa hatte mit dem Bäcker im Ort eine Wette abgeschlossen, daß es ein Junge wird. Bisher hatte er nur zwei kleine Enkelin­nen. Er sagte: "Mein Großer läßt mich nicht im Stich." Man nannte ihn den Mädelopa. Als ich dann das erste Mal mit dem Baby nach Sornzig kam, überraschte uns eine Kontrolle aus der Bäckerfamilie, während ich meinen kleinen Jungen badete. Soviel ich weiß, ging es um drei Flaschen Sekt.

In den letzten Kriegsjahren waren wir ja alle zeitweilig in Wilhelmshorst beisammen. Schwägerin Charlotte hatte auch mir und Wolfgang Asyl gewährt (bis wir dann nach Ramelow aufbrachen). Wolfgang und Cousinchen Isolde waren ein Herz und eine Seele. Wenn wir durch den Wald spa­zierten und Pilze suchten, dann hing sich ,,Pummelchen", so nannten wir Isolde, weil sie so lieb und mollig war, bei Wolfgang ein, und er schleppte sie ganz eifrig stundenlang durch den ganzen Wald. Sie hatten sich immer so viel zu erzählen. Ab und zu bekam sie dann auch mal einen kleinen Klaps auf den Po von ihm, und zwar recht zärtlich. Unsere Mutter sagte: ,,Nun seht euch das mal an!" Einmal sagte Isolde: ,,Aber heiraten dürfen wir uns nicht, sonst werden unsere Kinder doof!" Unter anderem sam­melten wir natürlich jede Menge Kienäpfel. Übrigens beim Pilzesammeln hatten Charlottchen und unser Vater den größten Erfolg. Ja, und dann gabs da noch in Langer­wisch den wunderbaren Spargel!

Rudi hatte zwischen 1940 bis Dezember 1943 nur dreimal Urlaub bekommen. Im Januar 1944 erhielt ich die Nachricht, daß mein lie­ber Mann seit dem 21. Januar 1944 in Rußland vermißt wird. Trotz vieler Nachforschungen habe ich nie etwas Positives erfahren. So wie mir, ging es vielen, vielen Frau­en und Müttern. Jede hatte ihr eigenes Schicksal. Der Krieg hat all' unsere Träume zerstört und uns alle aus der Bahn geworfen. Was haben wir alles gelernt! Ganz allmählich ging es dann aufwärts; wir hatten durchgehal­ten und fanden dann auch unsere Fröhlichkeit wieder. Aber nach der Vermißtenmeldung kamen zusätzlich die schweren Angriffe der Bomber. Ich war nervlich sehr ange­schlagen. Erika, die mit ihrem kleinen Jürgen, auch der Angriffe wegen, nach Kolberg zu einer Verwandten gefahren war, redete mir zu, doch auch nach Kolberg zu kommen. Sie hatte schon ein Zimmer für uns besorgt. Als wir ankamen, sagte die Wirtin zu mir: ,,Kriegen sie keinen Schreck, über ihrem Zimmer ist eine Luftschutzsirene." Sehr lange konnten wir aber aus vorher genannten Gründen nicht bleiben. Zuerst machten wir eine Fahrt ohne Gepäck nach Ramelow. An diesem Tag regnete es in Strömen. Wir kamen am ,,Bahnhof" Ramelow, das Gebäude ein kleiner häßlicher Schuppen, an. Zu Fuß ging es bei dem schrecklichen Wetter auf schlammigen Wegen zum Ort. Eine Frau, eingesetzt von der NSV, empfing uns. Sie erklärte uns alles. Der Ort war ein Tagelöhner-Dorf. An jedem Ende war ein Gutshof. Auf dem einen sollten wir nun Quartier nehmen. Eine von uns bekam die ehemalige Plättstube, die andere die ehemalige Rollstube. Und dann sagte sie, daß wir ein Stückchen Acker bekommen würden. Es war alles ziemlich deprimierend; dazu das schlimme Wetter. Es ließ alles noch trostloser erscheinen.

Nach Kolberg zurückgekommen, fingen wir an zu packen. Erika hatte viel Gepäck, denn sie hatte allein schon eine Kiste mit Büchern, eben Dinge, die ihr lieb und wert waren. Und dann besorgten wir uns einen großen Karton mit Samen. Wir zogen aus wie die Kinder Israel. Am ,,Bahnhof" Ramelow wartete ein Pferdewagen auf uns. Der Kutscher war ein Russe. Im Ort war nämlich unter anderem ein Gefangenenlager. Der Mann wollte natürlich wissen, woher und warum wir kommen. Für den Ort waren wir eine Sensation, als wir ,,Bombenweiber" ankamen. Neugierig standen Ein­wohner und Gefangene am Straßenrand. Es hatte sich schnell rumgesprochen, ,,Berliner" kommen. Wir richteten uns in unseren primitiven Stuben ein. Gott sei Dank stand in jeder Stube auch ein Kinderbett. Und dann beguckten wir uns unseren Akker. Das Stück war schon mal umgepflügt, aber voller Unkraut. Wer immer auch diese Zeilen mal liest, wird lachen, denn ich machte als erstes eine Zeichnung, wie unser ,,Garten" mal aussehen soll. An diesem Stückchen Erde hatte ich schon jetzt meine helle Freude. Es war Anfang Mai 1944. Zunächst gruben wir noch einmal alles um und legten Beete und Wege an. Alles staunte. Der Sonntagsspaziergang der Dorfbewohner war in Zu­kunft der Weg zu unserem Garten. Es wurde ein typisch Berliner Schrebergarten. Für unsere klei­nen Söhne legten wir einen Buddelplatz an. Der war umrandet von einer Rabatte von Tausend­schönchen. Erikas Vater besuchte uns; er war Möbeltischler. Der baute uns eine Bank hin. In der Mitte des Gartens war ein Blumenrondell. Zum Wochenende harkten wir die Wege und zupften Unkraut; alles für die Spaziergänger! Es wurden Mohrrüben, Petersilie und Spinat gesät und Zwie­beln gesteckt. Pech hatten wir mit den ersten frischen Salatpflanzen, die wir beim Gutsgärtner bekommen konnten. Am nächsten Morgen sah ich, daß die Hühner vom Dorf alles weggefressen hatten. Traurig und entsetzt stand ich da. Der Inspektor kam dazu und sagte: "Frau Dietze, ihr be­kommt einen Zaun, was ihr da gemacht habt, hat mir imponiert." Nun muß ich sagen, der Inspektor war ein ungemütlicher Zeitgenosse, der den ganzen Tag in der Gegend rumschrie. Man hörte ihn ständig mit seiner Stentorstimme brüllen. Am anderen Morgen sah ich schon von weitem etwas blitzen und blinken. Ein Russe war dabei, den Garten mit einem funkelnagelneuen Maschendraht einzuzäunen. Die Hühner waren ausgesperrt. Bei uns gab es Radieschen, später Tomaten und Boh­nen, viel Gemüse.

Nur Milch, Eier und Fleisch hatten wir nicht. Den Dorffrauen waren wir ein Dorn im Auge. Wir waren ja die ,,Bombenweiber". Ein Mann stand mal am Zaun und fragte mich, was wir denn mit dem vielen Gemüse machen wollen ohne Fleisch. Das wußten sie also alle! Ich glaube, die Männer hatten wir im Stillen auf unserer Seite. Und dann fingen wir an zu tauschen. Unsere Gartenerzeugnisse gegen Milch, Eier und manchmal auch etwas Fleisch. Mitten im Dorf stand ein Steinofen. Einmal in der Woche wurde er von einem alten Mann mit Reisig angeheizt. Alle Bewohner brachten ihr Brote und Kuchen zum Backen. Wir wurden mal wieder unter die Lupe genommen. Es ging das Gerücht, wir hätten mindestens 10 Eier im Kuchen (es waren zwei).

Eine meiner größten Feindinnen war die Gutsmamsell. Sie hatte eine kleine Tochter. Ihr Mann war gefallen, meiner aber nur vermißt. Abends ging ich oft noch mal zum Garten für eine halbe Stunde. Da hörten sie meinen kleinen Jungen weinen. Er hatte wohl die Bombennächte noch nicht verges­sen. Die Mamsell spottete über das Kind. Da ließ ich meinen Spaziergang fallen. Eines Tages wurde die Mamsell krank. Sie war in der Küche ausgerutscht und hatte sich mit einem langen Küchenmesser den Arm verletzt. Keine von den Küchenfrauen wollte nun die Vertretung überneh­men. Wir waren ahnungslos, als der Inspektor bei uns erschien und uns fragte, ob wir das machen würden. Erika und ich sahen uns an; wir verstanden uns immer auf Anhieb und sagten ja. Es war zu kochen für die zwei Wachsoldaten, vier polnische Gefangene (die ihre eigenen Vorräte hatten) und für die Familie Walsthenig. Der Mann war am Kolberger Stadttheater Schauspieler. Als Erika und ich die Speisekammer öffneten, war nur eine große Schüssel mit Speckschwarten da! Alles andere war ausgeräumt. Wir kochten erst mal eine deftige Erbsensuppe mit den Speckschwarten. Die beiden Wachsoldaten waren begeistert. Sie hätten noch nie eine so gute Erbsensuppe gehabt. Jeden Morgen kam der Gutsgärtner und fragte, was wir brauchen. An einem Sonntag öffneten wir für die Polen ein Fleischglas und stellten fest, daß das Fleisch verdorben war. Wir verständigten die Polen und sagten, es könnte eine halbe Stunde später werden. Wir kochten schnell etwas anderes. Die Polen haben uns das hoch angerechnet. Sie hackten später unser ganzes Holz. Die Russen haten ihren eigenen Koch und auch ihre eigenen Vorräte. Als einen Tag vor dem Brotbacken kein Mehl zu finden war, mußte ich das leider melden. Die Mamsell hatte immer einen Tag vorher mit dem russischen Koch den Sauerteig für die Russenbrote angesetzt. Wer das Mehl ver­schwinden ließ, weiß ich nicht. Jedenfalls wurde das vom Inspektor und den Wachsoldaten in Ordnung gebracht. Über die kleinen Intrigen sahen wir hinweg. Uns konnten die nicht vertreiben! Wir kriegten auch sehr schnell mit, daß mit dem Zucker der gefangenen Polen das Obst des Gutsbesitzers eingekocht worden war. Letzterer saß in Berlin beim Stab. Als in Berlin bekannt wurde, daß die Mamsell krank ist und wer die Vertretung macht, wurde sie ganz schnell gesund. Wir haben über unsere Entdeckung mit niemandem gesprochen.

Da fuhr an einem Tag ein Leiterwagen auf den Hof. Der war vollbeladen mit nicht sehr starken Holzstämmen. Neben mir stand ein Wachsoldat und erklärte, daß das unser Holz sei. Als ich er­staunt fragte, wie wir das wohl klein kriegen sollen, meinte er, ,,Ich gebe ihnen zwei Russen, die können nach Feierabend die Stämme zersägen. Vielleicht können sie außer Geld etwas anderes geben." Gesagt, getan. Wir saßen mit unseren Kindern beim Abendbrot, da hörten wir den Inspek­tor toben. ,,Erika", sagte ich, ,,es geht um unser Holz." Erikas Antwort: ,,Laß nur, ich gehe mal raus." Die Wachsoldaten haten inzwischen dem Inspektor klar gemacht, daß es ihre Sache sei, was die Männer nach Feierabend freiwillig tun. Der Inspektor wollte nun von Erika wissen, was wir den Männern dafür geben. ,,Kein Problem" sagte sie in ihrer charmanten Art, ,,sie bekommen Brot und Zigaretten". Sie hatte ganz lässig den Streit beigelegt. Da wir beide Nichtraucherinnen waren, konnten wir unsere Zuteilungen für solche Zwecke sparen.

Im Ort war ein einziger Kaufmannsladen mit Bierausschank. Mit der Besitzerin verstanden wir uns gut. Wir wollten uns nützlich machen und klebten für sie die Lebensmittelabschnitte ein. Wenn Not an Mann war, halfen wir ihr. Der Inspektor wollte mich wohl foppen: ,,Aber Frau Dietze, sie schen­ken Bier aus?" ,,Na und ..." war meine Antwort. Die Kartoffelernte sollte beginnen. Erika hatte sich schon mit zwei Frauen verständigt, Mutter und Tochter. Sie hatten einen kleinen Hof. Ihre Männer waren auch Soldaten. Wir wollten ihnen beim Kartoffelbuddeln helfen. Am frühen Morgen sammelten sich die Frauen vom Gut. Als sie an unse­ren Türen vorbeikamen, hörten wir sie mit Absicht laut reden; so in etwa: ,,Die beiden liegen noch faul im Bett". Wir waren aber auch schon startbereit. Kaum waren sie fort, da zogen wir auch los. Als wir fleißig bei der Arbeit waren, kam ein kleiner Wagen über den Acker, kutschiert vom In­spektor. Er fuhr ganz dicht zu uns heran, um zu schauen, wer dort hilft. Er war baff, wie man so schön sagt. Wieder hatten wir ihnen ein Schnippchen geschlagen. Diese unsympathischen Berline­rinnen!

Inzwischen waren die Russen schon bis an die ostpreußische Grenze vorgerückt. Mich erfaßte eine schreckliche Unruhe. Mir brannte buchstäblich die Erde unter den Füßen. Ich wollte weg. Als der Inspektor davon Wind bekam, sagte er, ich soll doch die Leute nicht unruhig machen. Auch der liebe Günter meinte zu meinen Plänen, Erika soll sich von mir nicht verrückt machen lassen. Er war der Meinung, daß wir dort gut aufgehoben seien. Mein Schwiegervater hatte auch für Erika ein Quartier organisiert. Der Inspektor sagte zu mir: ,,Wollen Sie denn den schönen Garten im Stich lassen? Da ist ja noch so vieles zu ernten." Aber Erika blieb dort, und es war ja auch ihr Garten. Später hat sie mir erzählt, als wir morgens abfuhren, hätte sie im Bett gelegen und geweint. Ich weinte auch. Ich fuhr dann zuerst nach Berlin, packte meine Koffer um, und landete mal wieder in Sornzig, der Heimat von Rudi. Der Sornziger Opa hat keinen Russen ins Haus gelassen; er hat gut auf uns aufgepaßt und uns gut beraten. Wir hatten das große Glück, daß wir kaum belästigt wurden, denn natürlich rückten die Russen auch hier immer näher ran. Zunächst waren wir ein Stück Niemandsland. Es ging um die Oder-Neiße-Linie, worüber verhandelt wurde. Erst hieß es, die Amerikaner kom­men.

Aber nun zu meiner Erika. Sie hatte sich nach unserer Wegfahrt sehr an die Kaufmannsfrau ange­schlossen und auch mit anderen Kontakt. Die Russen rückten immer näher und dann wurde ein Treck geplant. Es war aber auf keinem Wagen ein Platz für sie und das Kind. Erikas Schutzengel sorgte für eine Lösung. Ein deutsches Wehrmachtsauto kam in den Ort reingefahren. Der Fahrer sollte noch Lebensmittel vom Gut nach Berlin schaffen. Erika schaltete schnell und fragte, ob sie mitfahren darf. Sie durfte! Kein Gepäck, nur ein Kissen für das Kind und nur eine halbe Stunde Zeit, wurde ihr gesagt. Sie mußte alles stehen und liegen lassen: das viele Eingemachte, ihre Bü­cher, ja eben alles. Die Kaufmannsfrau winkte noch mit einer Wurst und warf sie aufs Auto. Nach Kriegsende hat Erika noch lange Zeit Nachforschungen angestellt. Sie hat nie erfahren, was aus den Dorfbewohnern geworden ist. Ob der Treck noch abfahren konnte und wohin ..... Sie selbst fuhr nur bis Mecklenburg mit dem Auto. Es fiel ihr ein, zu ihrer Großmutter zu gehen.

Sornzig, der Geburtsort von Rudi. Er wurde dort am 28.2.1908 geboren, d.h. es wurde erzählt, es war schon die zweite Stunde des 29. Februar, eines Schaltjahres, liegt in etwa zwischen Leipzig und Dresden bei Oschatz/Mügeln. In den ersten sechs Jahren meines Jungen Wolfgang, waren wir ständig unterwegs. Das war zwischen 1940 und 1946. Ruhelos trieb es mich der Bomben wegen von Ort zu Ort. Es war die reinste Odyssee. Mein kleiner Junge war damals schon eine Reiseonkel. Heute lebt er in Australien, seit 22 Jahren. Kurz vor Kriegsende warf ein russischer Bomber über unserem Haus eine Kettenbombe ab. Es war das einzige Flugzeug über Berlin. Die Leute mußten ausgegraben werden. Zwei alte Männer waren tot. Beinahe hätte es uns erwischt. Ich hatte schon die Fahrkarten in der Tasche.

Unsere Schutzengel

Im Mai dieses Jahres wurde ich 84 Jahre alt, und in all den Jahren wurde ich von meinen Schutzen­geln begleitet, denn ich war viele Male in großer Lebensgefahr. Es fing damit an, daß ich als kleines Mädchen beim Baden im Grunewaldsee kurz vor dem Ertrinken war. Darüber habe ich schon in meinen Kindheitserinnerungen berichtet. Als junges Mädchen hatte ich einen Paddelbootfreund, das war Paul Richter. Meine Freundin Anita und ihre beiden Brüder hatten ebenfalls Boote. Unsere Wasserkutschen waren in einem Bootsschuppen am Pohlesee untergestellt. Meistens tummelten wir uns entweder auf dem kleinen Wannsee oder auf dem Griebnitzsee bis weiter Richtung Glienicker- Brücke rum. Abends war Hochbe­trieb; alles fuhr heimwärts durch die verhältnismäßig schmale Durchfahrt unter der Brücke, denn Dampfer und Motorboote rauschten stolz an uns vorbei; man mußte höllisch aufpassen. Am klei­nen Wannsee, direkt an der großen Wannseebrücke, die die beiden Gewässer voneinander trennt, lag ein alter Dampfer, den man als Tanzlokal ausgebaut hatte. Wir lagen oft mit unseren Booten vor dem Lokal und hörten der Musik zu. Paule hatte sich einen geklinkerten Kanadier mit Außenbord­motor zugelegt. Ein Grammophon mit sehr schönen romantischen Musikplatten hatten wir auch.

Eines Sonntags waren wir aber nicht mit der ganzen Klicke unterwegs und hatten ein Plätzchen am Ufer des Griebnitzsees gefunden. Auf dem Spirituskocher wärmten wir unser Essen, und dabei ist dann folgendes passiert. Ich hatte den Eindruck, daß kein Spiritus mehr auf dem Kocher ist und wollte nachgießen. Es ist oft so, daß man bei Sonnenschein die kleine Flamme nicht mehr sieht. Beim Nachgießen war ich vorsichtshalber in ganzer Armlänge vom Kocher entfernt. Eine riesige Stichflamme zischte hoch und im Handumdrehen brannte rundum das trockene Gras. Paule ergriff die Flasche und warf sie in hohem Bogen in den See. Wie leicht hätte das Ding auf ein Boot fallen können! Gott sei Dank passierte das nicht. Das war Fehler Nr.2. Die Wasserfreunde daneben lösch­ten das Feuer mit Decken. Sie sagten nachher: ,,Warum habt ihr nicht ,,Hilfe" gerufen, sondern ,,Hallo"?" Das war Fehler Nr.3 und auch sehr wichtig. Es ist mir nichts passiert und auch niemand anderem. Ich hätte am lebendigen Leibe verbrennen können. Wir haben mal erlebt, wie ein kleines Kind, das erst anfing zu laufen, mit seinem Ärmchen in einen heißen Essenstopf gefallen ist. Als sie mit dem Boot zur nächsten Rettungsstation fuhren, hörte man noch lange das schreckliche Schreien des armen Kerlchens. Übrigens, Paule Richter ist im Kessel von Stalingrad gefallen. Nach dem Krieg traf ich zufällig seine Mutter. Sie hat mir das erzählt. Er war jung verheiratet und sie hatten ein kleines Kind. Paules Vater war Chauffeur bei dem Papierfabrikanten Max Krause. Letzterer hatte eine schmucke Villa in der Grunewaldstraße in Steglitz. Im Souterrain der Villa wohnte Familie Richter. In ganz Berlin las man die Reklame: ,,Schreibste mir, schreibste ihr, schreibste auf MK-Papier."

Meinem Bruder Fritz gefiel diese Freundschaft seiner kleinen Schwester gar nicht, aber wir waren damals viel harmloser als er dachte! Übernachtet hatten wir nur einmal, und da war die ganze Klicke unterwegs. Es waren sehr heiße Pfingsttage und Mutter Timm war mit der Bahn nachge­kommen. Wir hatten zwei Zelte und Mutter Timm sortierte die Belegschaft. In einem Zelt schliefen die männlichen Wasserfreunde und im zweiten Zelt die Jungfrauen, ha, ha, ha! Frau Timm war eine kugelrunde Matrone. Sie schnarchte und schnaufte wie ein Walroß. Ich habe die ganze Nacht kein Auge zugemacht. Das war kein Spaß, und die ganze Nacht auf einer Baumwurzel liegen, war auch nicht das Gelbe vom Ei. Paule war ein guter Hundertmeter-Läufer. Er lief für den Verein seiner Realschule. Seine Sportkameraden, die sich ja auch auf dem Wasser rumtummelten, lachten uns aus, weil wir so harmlos waren. Aber Paule war ein kleiner Schwindler. Ich war so naiv, daß es 1 1/2 Jahre dauerte, bis ich das merkte. Seine Mutter wollte das kitten, aber ich wollte nicht mehr. Übrigens, mein Bru­der Fritz hatte auch ein Boot. Unser Vater warf ihm mal ein Stück Schokolade von einer Brücke in den Kahn.

Ende Juni 1940 sollte mein kleiner Sohn auf die Welt kommen. In einer Gewitternacht klopfte er ganz vorsichtig pünktlich an. Meine Schwester Elisabeth rief eine Taxe, und ich fuhr allein zum Erstaunen des Taxifahrers und der Schwestern zum Rittberg-Krankenhaus nach Lichterfelde. Elisabeth mußte ja zur Arbeit. Mein kleiner Krebs krabbelte aber ganz schnell zwei Schritte zurück als er das Donnerrollen hörte. So ging das dann drei Nächte und Tage, ein Schritt vor, zwei zurück. Ich hatte fürchterliche Schmerzen und war am Ende meiner Kräfte. Der kleine Krebs dachte wohl ängstlich, wo will ich denn da hin, bei Donner und Flie­geralarm? Endlich machten die Ärzte meinen Qualen ein Ende, kamen mit einer Zange und zogen den kleinen Krebs an Land. Endlich hielt ich meinen kleinen Siebenschläfer (es war inzwischen der 27. Juni geworden) in meinen Armen. Zwei stahlblaue Augen schauten mich an, und ich dachte, ich schaue dem Sornziger Opa ins Gesicht. Der Siebenschläfer machte aber jedesmal großes Spekta­kel. Er hatte keine Lust zu trinken. Ich bekam Fieber und mußte ein paar Tage länger im Kranken­haus bleiben. Die anderen Mütter sammelten Milch für meinen Krakeeler. Die Schwestern sagten: ,,Machen sie sich keine Sorgen, sie kriegen ihren Sohn auch groß." Eine Tante fragte mich vor der Entbindung: "Hast du denn keine Angst?" Meine Antwort: "Nein warum? Wir sind doch alle so auf die Welt gekommen."

Berlin, Fliegeralarm

Wieder einmal heulten die Sirenen. Die Alliierten hatten schon Leuchtraketen an den Himmel ge­setzt. Das Planquadrat war schon abgesteckt, die sogenannten Christbäume standen schon am Him­mel. Diesmal waren wir dran. Mein kleines Köfferchen mit den wichtigsten Papieren usw. stand schon jeden Abend an der Wohnungstür bereit, wir wohnten im 3. Stock. Ich trug meinen kleinen Sohn nach unten in den Luftschutzkeller. Diesmal war es besonders schlimm. Serienweise wurden die Brandbomben über uns abgeworfen, die Erde bebte von den schweren Bomben. Die ganze Straße war ein Flammenmeer. Meine Eltern wohnten auf der anderen Straßenseite. Mein Vater wollte nach uns sehen; er kam die paar Schritte durch das Feuer nicht durch. Als Entwarnung kam, trug ich meinen Jungen nach oben. Die anderen Leute waren schon wieder in ihren Wohnungen und stürzten entsetzt raus. Das zerfetzte Verdunklungspapier knatterte laut im Feuersturm und das Kind schrie auf. Ich nahm den Kleinen zu mir ins Bett, hielt ihn fest in meinen Armen. Er streckte seinen Ärmchen um meinen Hals und drückte mit seinen Händchen fest zu. Ich dachte, ich muß ersticken. Am nächsten Morgen rief ich in Sornzig an, ob wir kommen dürfen. Selbstverständlich durften wir. Soldaten, die auf Heimaturlaub kamen, sagten alle, das ist ja hier schlimmer als an der Front.

Der Krieg war noch nicht ganz beendet, da packte mich wieder das Heimweh. Wir waren ja in Sornzig gut aufgehoben, aber ich hatte Probleme mit meiner Schwägerin Gertrud, mit meinen Schwiegereltern nicht. Ich hatte schon zwei Fahrkarten für den Tag vor dem Bombenabwurf in der Tasche. Telefonisch war ich noch mit Berlin verbunden, da sagte meine Schwester Elisabeth: ,,Komm nicht her, wir haben den Eindruck, daß Berlin in wenigen Tagen fällt. Wir haben gehört, daß die Bahnstrecke bei Elsterwerda schon unterbrochen ist, wir wissen dann vielleicht nicht, wo ihr ge­blieben seid." Schweren Herzens habe ich mich entschlossen, nicht zu fahren. Und dann, Anfang Mai 1945 war dieses Völkermorden beendet. Russen, Amerikaner, Engländer und Franzosen trafen sich im Cäcilienhof in Potsdam. Es dauerte noch ein paar Wochen, bis wir unsere Heimreise antreten konnten. Eines Tages war eine Mitteilung am ,,Schwarzen Brett" mitten im Ort angeschlagen mit dem Inhalt in etwa, daß es die Möglichkeit gibt, mit der Bahn nach Berlin zu fahren; Treffpunkt Oschatz, morgens 5.30 Uhr. Nun verständigte ich Frau Battke, die mit ihren drei Kindern ebenfalls in Sornzig bei Verwandten einquartiert war. Sie bat mich vor längerer Zeit, sie mitzunehmen, wenn es heimwärts geht. Ihre Wohnung war in der Odenwaldstraße, ganz in der Nähe unserer Wohnung. Eine der Erntehelferinnen, eine sehr nette verständnisvolle Frau, hatte uns angeboten, bei ihr zu übernachten. Einen Tag vor der Reise mit der Bahn fuhren wir mit einem Pferdewagen von Sornzig ab. Den Wagen zog ein Ochse, die Pferde waren ja konfisziert worden. Proviant (für wieviel Tage? Das war ja alles noch unbestimmt!) waren ein Stückchen Brot und für Wolfgang ein halber Buddeleimer voll Kirschen. Meine liebe Schwägerin Gertrud hatte sich vor die Speisekammertür gestellt, und die Oma getraute sich nicht, uns mehr mitzugeben; und das, wo doch alles in Hülle und Fülle zur Verfügung stand. Jetzt sind alle tot, aber das kann ich heute noch nicht verzeihen.

Am nächsten Morgen waren wir pünktlich am Treffpunkt in Oschatz und warteten, wie es wohl nun weitergeht. Mit uns warteten noch ca. 10 Personen. Und dann kam ein leerer Laster angefahren, ein Kohlenauto. Der Fahrer sagte uns, daß er uns bis Elsterwerda mitnimmt. Zurückfahren könnte niemand, denn sie haben dann das Auto mit Kohlen beladen. Die Leute erzählten, sie hätten gehört, daß in Elsterwerda viele Polen sind und plündern. Wir hatten ja alle nur das Notwendigste mit und versuchten, was wir für wertvoll hielten, zu verstecken. In Elsterwerda angekommen, hielt das Auto mitten im Ort. Es war ein sehr schwüler Sommermorgen, die betrunkenen Polen grölten aus den offenen Fenstern. Wir wurden nicht von ihnen behelligt und suchten den Weg zum Bahnhof. Dort angekommen, fragten wir einen alten Bahnbeamten, der den Bahnsteig kehrte, wo denn der Zug nach Berlin hält, und er zeigte auf einen Güterzug, der vollbeladen mit Kohlen war. ,,Das ist der Zug nach Berlin", sagte er. Es war ein langer Güterzug. Auf einigen Waggons saßen schon Polen, die auch nach Hause wollten. Wir kletterten über die Gleise, ließen ein paar Wagen zwi­schen den Polen und uns und bestiegen unseren ,,Salonwagen". Oben breiteten wir Decken aus und setzten unsere Kinder in die Kohlen. Frau Battkes Kinder waren sehr lebhaft. Der jüngste von ihnen, ein dreijähriger Wonneproppen, nahm seinen Daumen und schlief sofort ein. Habe das dann noch öfter erlebt. Hatte er sich ausgetobt, setzte er sich in irgendeine Ecke und schlief ein. Der Zug fuhr pünktlich um 10.30 Uhr ab. Er fuhr langsam, aber er fuhr und fuhr Richtung Heimat, ohne anzuhalten. Wir waren etwa eine halbe Stunde gefahren, da brach das erste Gewitter los. Die Blitze zuckten immer an den Telegrafenleitungen entlang, der Regen goß in Strömen und wir saßen schutzlos in den Kohlen. Der Zug fuhr und fuhr Richtung Berlin. Je näher wir nach Berlin kamen, waren die Gleise von den Trümmern freigelegt, und der Zugführer fuhr sehr vorsichtig. Wir sahen die ersten Soldatengräber, ein schrecklicher Anblick. Plötzlich kam ein Gegenzug voller Russen. Sie riefen zu uns rüber, wo wir denn hinwollen. Als wir riefen ,,Berlin", schüttelten sie die Köpfe, ,,oh, Berlin kaputt, kaputt." Den ganzen Vormittag war ein schwe­res Gewitter nach dem anderen über uns hernieder geprasselt.

Am frühen Nachmittag waren wir schon in Berlin. Ich überlegte fieberhaft, wie ich mit dem Kind vom Zug runterkomme. Dann kam die günstige Gelegenheit. Am Priesterweg hält der Zug. Ich dachte: Priesterweg, Bergstra­ße, Badeanstalt, Vater und Mutter Rex! Ich sprang vom Zug runter, Frau Battke reichte mir meinen Jungen und mein Gepäck. Gott sei Dank, der Zug hielt noch immer. Da rief sie: ,,Ich komme auch." Sie reichte mir die Kinder und ihr Gepäck, dann sprang sie. Sie hatte Rucksäcke schwer wie Blei. Ich frage mich heute noch, was da wohl drin war. Frau Battke ging Richtung Innenstadt zu ihrem Vater. Wolfgang und ich gingen ganz langsam, vollkom­men erschöpft und verdreckt die lange Bergstraße entlang; die Bergstraße, die uns als Kinder so oft zu den Rauhen Bergen führte, diesmal entgegengesetzt. Das ganze Leben ist ein Kreislauf, das habe ich in späteren Jahren bei anderen Gelegenheiten noch oft festgestellt. (In den Gärten am Priesterweg ging ich oft mit meiner ersten Schülerliebe, Kurt Rex, spazieren). Dann waren wir an der Badeanstalt. Zwei Häuser neben meinem Geburtshaus, vor dem Tor standen Vater und Mutter Rex, die große, erstaunte Augen machten, wer da ankam. Wir wurden gleich ins Badehaus gebracht und Mutter Rex sagte: ,,Ihr kommt vom Land? Da haben wir ja mehr zu essen als ihr." Vater Rex war schon längst in der Kreuznacher Straße gewesen, er hatte gesehen, daß wir kein Zuhause mehr hatten. Aber sie getrauten sich beide nicht, uns das zu sagen. Vater Rex war Maschinenmeister im Stadtbad Steglitz. Sohn Kurt ist mit 17 Jahren gestorben. Mit elf Jahren war er der beste Jugendschwimmer in Deutschland. Durch übermäßiges Training und später mit den Eltern im Radsportverein, bekam er ein zu großes Herz. Er hat dann eine Lungenentzündung, die er sich als Lehrling beim Landvermessen zugezogen hatte, nicht verkraftet.

Am anderen Tag ging ich also mit Wolfgang zur Kreuznacher Straße. Rexens hatten nur gemeint: ,,Seht mal zu, was da noch ist." Ich war noch immer ahnungslos. Als wir näher an die Häuserzeile kamen, sah alles so fremd aus. Das Nebenhaus, ein Eckhaus, war schon bei einem früheren Angriff zerbombt worden, das wußte ich. Wir standen auf der anderen Straßenseite und schauten hinüber. Ich fing die Häuser an zu zählen und stellte fest, daß unser Wohnhaus nicht mehr da war. Und dann sagte ich: "Wir ha­ben kein Zuhause mehr. Da fing der kleine Kerl an zu wei­nen, hatte er sich doch auf der ganzen Heimfahrt so sehr auf sein neues Dreirad gefreut, das im Keller stand, und dann mußte ich auch weinen. Wir standen ja auf der anderen Stra­ßenseite, und zwar genau vor dem Wohnhaus meiner Eltern. Ich drehte mich um und sah, daß dieses Haus noch da ist. Gott sei Dank! Die Wohnung meiner Eltern war im 3. Stock. Frau John wohnte eine Etage tiefer. Meine Eltern waren der Bomben wegen in Wilhelmshorst. Es waren schon eine gan­ze Menge Leute gekommen, die keine Bleibe mehr hatten, aber weil die Wohnung meiner Eltern so stark beschädigt war, hatten sie es aufgegeben. Frau John meinte, wenn wir die Wohnung behalten wollen, müßte ganz schnell jemand von der Familie wieder zurückkommen.

Also auf nach Wilhelmshorst! Wilhelmshorst ist ein sehr schö­ner, ruhiger, idyllischer Ort, mitten im Wald, in der Nähe von Potsdam an der Bahnstrecke nach Belzig. Mein Bruder Fritz zog dort mit seiner jungen Frau Char­lotte hin, und sie gründeten dort eine Familie. Sie wohnten in einem 8-Familien-Haus. Der Hauswirt, Herr Jentsch, hatte ein weiteres Privatgrundstück im Ort, und meine Eltern betreuten in diesen Kriegstagen das Haus und den Garten. Sie, und meine Schwester Elisabeth, waren auch vor den Bomben auf Berlin geflüchtet. Ich fuhr also mit Wolfgang unter großen Schwierigkeiten mit der Bahn dorthin. Die Züge waren total überfüllt. Die Leute saßen sogar auf den Dächern der Wagen und standen auf den Trittbrettern. Alles war im Aufbruch in jenen Tagen, zum Hamstern und Brennmaterial heranzuschleppen. Ich hatte noch nie so viele Menschen mit so schwerem Gepäck gesehen. Ich schob also Wolfgang durch ein Zugfenster, Leute halfen mir dabei, und ich stieg nach. Mein Vater arbeitete im Garten, und als wir am Zaun standen und Wolfgang ,,Opa" rief, war die Überraschung und Freude auf beiden Seiten sehr groß. Wir lagen uns in den Armen und weinten vor Freude über das Wiedersehen. Ich ließ Wolfgang bei meinen Eltern und fuhr mit meiner Schwester Elisabeth zurück nach Steglitz, um erst mal die kaputte Wohnung zu retten. Die Steglitzer Hausgemeinschaft hatte einen Mieter zum Hausobmann gewählt, der mich auch kannte. Mit ihm regelten wir unsere Probleme. Ich bekam Lebensmittelkarten für Wolfgang und mich und eine Einweisung in die Wohnung.

Elisabeth war in den ersten Nachkriegsmonaten arbeitslos. Sie war Chefsekretärin bei der Firma Koch & Kienzle, einem Ingenieurbüro, wo Zeichnungen für Waffen hergestellt wurden. Anfang des Krieges hatte ich auch dort gezeichnet. Abends kamen sämtliche Arbeiten unter Verschluß. Die Firmenchefs setzten sich kurz vor Kriegsende mit dem Firmenkapital von Berlin ab. Russen und Amerikaner hatten großes Interesse an solchen Fachleuten, wie z.B. an Wernher von Braun usw., auch Prof. Oberth, die ja später mit den Amerikanern die Mondrakete bauten.

Ich machte mich also daran, die Trümmer aus der Wohnung zu räumen. Sämtliche Decken hingen runter, woran ich nichts ändern konnte. Die kaputte Wohnung wurde so vorläufig unsere Bleibe. Es dauerte 12 Jahre bis Wolfgang und ich ein eigenes Heim beziehen konnten. Einmal in der Woche fuhr ich mit dem Proviant nach Wilhelmshorst. Als die Alliierten im Cäcilienhof bei Potsdam Ver­handlungen führten, war die ganze Umgebung gesperrt; es fuhr keine Bahn. Ich fuhr mit der U-­Bahn nach Krumme Lanke und lief zu Fuß über Wannsee nach Wilhelmshorst. Einmal war Elisa­beth dabei. Wir waren auf dem Weg nach Berlin kurz vor Wannsee, als plötzlich der ganze Wald voller Russen war. Ich sagte zu Elisabeth, ,,Die dürfen nicht merken, daß wir Angst haben", und wir marschierten tapfer durch die Reihen. Die Russen grinsten, taten uns aber nichts, es waren ja Offi­ziere dabei! Als wir aus dem Wald heraustraten, sahen wir zwei Amerikaner bei einem Jeep stehen. Wir dachten, wir sehen nicht recht. ,,Elisabeth, das sind ja Amerikaner!" sagte ich. Wir hatten das große Glück, im amerikanischen Sektor zu leben, denn die Alliierten hatten Berlin in vier Sektoren geteilt. Die Russen dort im Wald hatten sich wohl zum Abzug gesammelt. Leider waren sie aber noch lange Zeit in Wilhelmshorst. Ich holte nun Wolfgang zu mir nach Steglitz, meine Eltern blie­ben noch in Wilhelmshorst.

Die Berliner krempelten erstmal die Ärmel hoch und räumten auf. Trümmerfrauen packten herz­haft zu, gab es doch dafür Sonderlebensmittelkarten. Der schwarze Markt blühte, an allen Ecken und Enden wurde getauscht, Zigaretten gegen Brot usw. Zum ersten Weihnachtsfest nach dem Krieg bekam Wolfgang einen kleinen Schlitten, eingetauscht gegen ein Tischtuch! Unser ganzes Leben bestand aus Improvisieren. Wir hatten Hunger, aber wir waren glücklich, daß der Krieg vorbei war. Meine Mutter war 1946 gestorben. Sie fand ihre letzte Ruhe auf dem Waldfriedhof in Wilhelmshorst. Sie wollte und kam auch nicht mehr nach Berlin zurück. Sie hatte wohl keinen Lebensmut mehr. Meinen Vater holten wir nach Berlin zurück. Er, meine Schwester, Wolfgang und ich lebten zuerst mal allein in der Wohnung. Eines Tages hatten wir vier zusammen in der Küche gefrühstückt. Der Tisch stand in der Mitte des Raumes. Nach dem Frühstück war ich allein in der Küche. Meine Schwester legte sich wieder ins Bett, weil sie krank war. Das Kind ging spielen und mein Vater zu seinen Tabakpflanzen. Ich stand am Tisch und pellte Kartoffeln. Plötzlich hörte ich ein ganz kurzes knacken, und ich sprang zur Seite. Die ganze Decke stürzte herunter, nur ein Strei­fen hatte auf dem Tisch halt gemacht. Ich stand unter einer schrägen Brücke. Unsere Schutzengel hatten uns mal wieder vor Schlimmerem bewahrt, denn fünf Minuten vorher saßen wir noch alle am Tisch. Der ganze Schutt lag in der Küche und versperrte die Tür.

Was wir damals auch für Schwierigkeiten hatten, unser Mittagessen zu kochen! Wir haben regel­recht gezaubert. Ich konnte meinen armen Vater gar nicht satt kriegen. Der Winter 1946/47 war ein furchtbar kalter. Sogar die Toilette war eingefroren, erst im April hörten wir sie wieder spülen. Ach, das war ja wie Musik. Als Elisabeth Geburtstag hatte, kamen die Hausbewohner gratulieren. Kurt John brachte eine Preßkohle, Prochnows spendierten eine Scheibe geröstetes Toastbrot. Ar­nold Prochnow hatte immer selbst Schnaps gebrannt, und Silvester wurde unten bei Prochnows gefeiert. Der Kater war dann auch nicht von Pappe. Charlotte Prochnow mußte sich übergeben, und dabei fiel ihr Gebiß in die Toilette. Aber Luise John angelte die Prothese ganz beherzt wieder raus. Luise ging auch immer Blut spenden, dafür bekam sie etwas zu essen. Mich hatte sie schon vorher nach oben verfrachtet. Als ich am Morgen wach wurde, konnte ich meinen Kopf gar nicht heben, so brummte mir der Schädel. Der Kater ist mir dann aber ganz schnell vergangen. Ich rief meinen Jungen, aber der sagte nicht mal piep. In der Ofenecke kauerte der kleine Kerl. Ich guckte einmal, ich guckte zweimal, wie sieht denn das Kind aus? Das Gesicht war voller roter Flecken! Das sind ja die Masern! Ich sprang ganz schnell aus dem Bett und trug das frierende Kind in sein Bett und deckte es ganz fest zu, wir hatten ja minus 3 Grad im Zimmer. Unser Vater saß meistens in der Küche auf dem Herd und merkte gar nicht, daß seine Jacke schon anfing zu kokeln. Sein Arzt sorgte dafür, daß er ins Krankenhaus kam, wegen Unterernährung. Dort aß Otto alles auf, was die anderen Patienten übrig ließen, und warm hatte er es auch. So war er wenigstens versorgt. Später hackte er ständig Löwenzahnblätter, die wurden aufs Brot gelegt. Dadurch hatte er sein Blut vollständig erneuert, ganz unbewußt. Von den Wurzeln der Kö-nigskerzen, die wir rieben, machten wir uns mit Salz, Pfeffer und Zwiebeln „Schabefleisch", aus Mehl und Majoran Leberwurst. Wir waren alle schlank und gesund, ohne Pillen!

Schön warm war es in der Badeanstalt. Wolfgang und ich wärmten uns dort oft auf. Vater Rex gab uns dann immer eine Tasche mit Kohlen mit, im Dunklen natürlich! Bei Rexens war immer eine gefüllte Tafel. Ein Beispiel: Frau Rex war eine gute Köchin und Hausfrau, und sie hatte an diesem Tag Geburtstag. Mehrere Kuchen standen auf dem Tisch, Wolfgang bekam eine Tasse Schokolade. Wir waren ca. 10 Leute, Wolfgang war das einzige Kind. Alle fingen an zu schmausen und genie­ßen. In diesem Augenblick sagte doch der kleine Witzbold, ,,Na endlich kann man sich mal satt essen". Alle lachten laut los und ich bekam einen roten Kopf. Sie wußten ja alle, daß mein Söhnchen ein schlechter Esser im ganzen Umkreis war. Jedesmal sagte Frau Rex: ,,Das war das letztemal, daß ich meinen Geburtstag so groß feiere", aber im nächsten Jahr wurde wieder gefeiert. 1947, kurz bevor mein Bruder Fritz aus der Gefangenschaft heimkam, fuhren Wolfgang und ich noch einmal nach Sornzig, um die kranke Oma zu pflegen, sie war schwer krank. Wolfgang ging sogar für 1/2 Jahr dort zur Schule. Im letzten Kriegsjahr hatten meine Schwiegereltern zwei Flüchtlingsfrauen aus Schlesien aufgenommen, Mutter und Tochter. Die Tochter war Lehrerin und unterrichtete die Kinder in der Dorfschule. Wolfgang hat die Lehrerin gefragt, ob sie ihm erlaubt, daß er mal die Schulglocke läuten darf. Schwierig war es insofern, weil er morgens noch 10 Minuten vor acht auf dem Küchentisch saß und fröhlich sang. Viel zu erzählen hatte er auch immer. Letzteres ist noch heute so. Er lebt seit 27 Jahren in Australien und unsere Ferngespräche sind meistens sehr lang und unser Taschengeld geht dabei drauf. Aber das macht uns nichts aus!

Die Russen wollten uns erpressen, aber die Alliierten, Amerikaner, Engländer und Franzosen orga­nisierten die ,,Luftbrücke", weil die Russen sämtliche Zufahrtsstraßen nach Berlin gesperrt hatten. Wenn Stromsperre war, spielten wir mit den Kindern ,,Städteraten" im Finstern, denn mein Bruder Fritz war mit Familie inzwischen zu uns gestoßen. Wir waren 8 Personen in der kaputten Wohnung. Überall regnete es durch, überall wurden Wannen aufgestellt. Mein Vater war ein Spaßvogel. Als ich ihn eines morgens wecken wollte, lag er mit einem aufgespannten Regenschirm im Bett (wie das bekannte Bild vom Maler Spitzweg) und freute sich schon auf unser verblüfftes Lachen. Er kletterte auch auf dem Dach rum; er war der einzige, der sich das zutraute. Während der Luftbrücke donnerten die schweren Rosinenbomber alle 5 Min. über unser Haus. Wir wohnten direkt unter der Fluglinie nach Tempelhof. Das ging so Tag und Nacht. Die Bomber flo­gen über uns schon sehr tief, denn sie waren ja schon kurz vor dem Landen. Hauptsächlich wurden Trockennahrung und Kohlen eingeflogen. Einer der amerikanischen Piloten warf für die Kinder kleine Fallschirme mit Schokolade ab. Dieser Mann hat seine Heimat in Berlin gefunden. Hier lebt er heute noch.

Die Berliner hielten tapfer durch, bis die Russen es aufgaben und die Zufahrtswege wieder offen waren. Wir lebten ja wie auf einer Insel. Kabarettisten sangen durch das Radio das bekannte Lied ,,Der Insulaner verliert die Ruhe nicht." In der ganzen Welt hörten es die Menschen. Die Berliner sind dafür bekannt, daß sie vielen Dingen gleich einen anderen Namen geben. Das waren z.B. ,,die Rosinenbomber". Vor dem Tempelhofer Flughafen wurde später ein Denkmal errichtet für die Flie­ger, die bei dieser Aktion ums Leben kamen. Der Berliner Volksmund nennt es die ,,Hungerharke", die Kongreßhalle im Tiergarten ist ,,die schwangere Auster" und das Kongreßcenter ,,Panzerkreu­zer Charlottenburg".

Als Wolfgang ca. 11 Jahre alt war, hatte er sich ein Hobby zugelegt. Er saß am Breitenbachplatz an der Endstation einer Autobuslinie auf einer Bank und machte sich Notizen. Ein Busfahrer setzte sich zu ihm und fragte: ,,Sag mal, was machst du hier eigentlich, du sitzt doch hier schon stunden­lang?" Wolfgangs Antwort: ,,Ich notiere mir, ob sie pünktlich abfahren und ankommen." Dem Kollegen des Busfahrers, der dazukam, sagte der Fahrer: ,,Du, auf den müssen wir aufpassen, der kontrolliert uns." Mein Kronsohn legte sich eine Kartei an für alle Autokennzeichen, die er am Tag gesehen hatte. Wenn wir einen Familienausflug machten, saßen wir immer auf dem Oberdeck eines Busses ganz vorn in der ersten Reihe. Mein Vater war genauso interessiert wie die Kinder an allem, was es zu sehen gab. Letztens sagte mir Wolfgang am Telefon, er wollte auch mal Pfarrer werden. Dazu fällt mir folgendes ein. Isoldchen und Wolfgang sollten zusammen eingesegnet wer­den. Ein paar Wochen vor der Einsegnung gab es ein Problem. Mein Söhnchen fuhr mal wieder auf Entdeckungsreisen. Er hatte schon mehrere Male den Konfirmandenunterricht geschwänzt, bevor wir dahinter kamen. Isolde hatte Unterricht in einem anderen Pfarramt. Und das, wo doch Onkel Fritz im Kirchendienst war!!! Wolfgang war immer pünktlich von zu Hause weggegangen und kam auch pünktlich zurück. Was hatte er getrieben? Er fuhr mal schnell eine Stunde Autobus. Wenn mal einer von uns nicht wußte, wie er da oder dort hinkommt, hieß es ,,Wolfgang fragen." Zur Einsegnung schenkte ihm Onkel Fritz ein Religionsbuch. Nun setzte sich der Junge hin, nahm eine Bibel zur Hand und prüf­te, ob der Text im Religionsbuch mit dem in der Bibel übereinstimmt.

Nachdem ich versucht hatte, mich mit Heimarbeit finan­ziell über die Runden zu bringen, fing ich in der Badean­stalt Steglitz in der Wäscherei an zu arbeiten. Ein paar Monate später kam ich in die Schwimmhalle und im Som­mer war ich Kassiererin im Sommerbad am Insulaner. Mit 52 Jahren ging ich in meinen alten Beruf als techni­sche Zeichnerin zurück, aber das ist alles ein anderes Kapitel.

Um meinen Vater hatten wir einmal große Sorgen, als er einen Unfall hatte. Er wurde von einem Auto, das bei dickem Schneematsch auf den Bürgersteig sauste, bis auf die gegenüber liegende Straßenseite geworfen. Als Feuerwehrleute ihn auf einer Bahre ins Krankenauto schoben, kam Wolfgang zufällig dazu. Er hatte keine Ahnung, daß es sein Opa war. Mein Vater hatte einen Bec­kenbruch. Als er seinen Geburtstag im Bett verleben mußte, kam sein Männerchor und brachte ihm ein Ständchen und Otto sang fröhlich mit.

So war das also mit unseren Schutzengeln. Ich bin sehr dankbar für alles. Das war aber bei wietem nicht alles. Ich möchte nur nicht, daß meine Leser sich gestreßt fühlen. Ha, ha!

Soweit Annemarie selbst . Und nun noch einige Ergänzungen. Sie war1936 aus der Kirche ausgetreten (ihr Mann war strammer Nationalsozialist) und 1950 wieder eingetreten. Für den Verlust der Zwei-Zimmer-Wohnung wurde ihr schließlich 1955 eine Hausratsentschädigung von 800,-DM zuzüglich 100,-DM für das Kind gewährt. Als Schaden hatte sie 2.165,- DM angegeben. Ausgezahlt wurden ihr zunächst jedoch nur 300,-DM und 50,-DM für das Kind. Da sie zu einem „bevorzugten Personenkreis" gehörte, wurde der Rest 1957 ausgezahlt. Um aus der gemeinsamen Wohnung mit Vater, Schwester und 17-jährigem Sohn heraus zu kommen, erhielt sie im gleichen Jahr als „Kriegssachgeschädigte" ein zinsloses Mieterdarlehen in Höhe von 3.000,-DM. Mit dessen Hilfe konnte sie die Zwei-Zimmerwohnung in der Offenbacher Straße 29 anmieten. Witwenrente wurden ihr 1952 in Höhe von 43,10 DM zuzüglich Berlin-Zuschlag von 10,-DM bewilligt. Die Waisenrente für Wolfgang wurde ab 1947 gezahlt und betrug zunächst 29,20 DM, 1951 40,-DM. Das war der Dank des Vaterlandes. 1991 schreibt sie, daß sie nun wieder regelmäßigen telefonischen Kontakt mit ihrem Sohn Wolfgang hat.

6 Annemarie Bertha Telschow 1911 -1998 >>> 6 Emil Rudolf Dietze 1908 - 1945 >>> Wolfgang Dietze 1940

Vermißt im Osten: Rudolf Dietze

An Rudolf Dietze habe ich nur wenige Erinnerungen. Charlotte erzählte, daß er mir als kleinem Jungen mal etwas besonders Gutes antun wollte und mir einen Karamellbombon schenkte. Statt zu lutschen wollte ich ihn herunterschlucken. Er blieb aber im Hals stecken, und ich drohte zu ersticken. Da habe mich Fritz auf den Kopf gestellt und den Bonbon im letzten Augenblick mit den Fingern aus dem Hals geholt. Die eigene Erinnerung betrifft den Heimaturlaub, den Rudolf erhielt, als er von Frankreich nach Rußland verlegt wurde. Da kam er eines Tages den Rosenweg entlang, wohlgenährt, schwer bepackt und mit einem Fäßchen eingelegte Heringe vor dem Bauch. Aber von ihm sind die letzten, eindringlichen Briefe von Dezember 1943 und Januar 1944 erhalten. Da lag er an der Ostfront in der Nähe von Gomel. Einige Auszüge sollen seine Lage schildern.

„Im Osten, den 8.12.43

Mein liebes kleines Muttchen und Wölfchen!

Heute will ich Euch mal ein paar Zeilen mehr als in den letzten Tagen schreiben. Der heutige Tag war zwar nicht weniger ereignisreich als verschiedene vorher im Gegenteil, es war bisher der tollste von allen. Ich weiß nicht, ob die Karte, die ich gestern im vordersten Graben schrieb noch angekommen ist, auf jeden Fall konnte ich sie nur im Graben knieend schreiben und nach jeder Zeile mindestens lag der Vatchen auf dem Bauch weil uns der Iwan mächtig mit seinen berühmten Granatwerfern beharkte. Nebenbei bemerkt ist das eine nicht gerade gefährliche aber heimtückische Waffe. Wenn man lang liegt und so ein Ding fällt einem nicht gerade auf den Kopf, dann kann praktisch nichts passieren. Nun kam gestern Abend noch der Befehl, daß ich zum Troß zurück sollte, um meine Arbeit als Rechnungsführer wieder aufzunehmen. Das ist ansich nicht schlecht, denn wir hausten Tag und Nacht in Erdlöchern und ich war nicht böse darüber. Wann ich nun heute früh weg will und kaum 200 m von der Kp. weg bin ging der Zauber los und ich war über meine Ruhe erstaunt als ich eine halbe Stunde lang im tollsten Trommelfeuer aller Waffen einschl. der berühmten „Stalinorgel" lag. Rühren konnte ich mich ja nicht, aber trotzdem hatte ich die felsenfeste Gewißheit, daß ich aus diesem Schlamassel herauskomme, trotzdem die Granaten dicht vor, neben und hinter mir einschlugen ....

Euer Vatchen"

„Im Osten, den 29.12.43

Heute habe ich mir seit dem 22.11.43 also genau nach 5 Wochen das erste Mal wieder meine Zähne mit meiner Zahnbürste und Zahncreme geputzt .... Bisher habe ich immer mit einem Stoffaden in meinem Gebiß herumgespickt ..."

„Im Osten, den 3.1.44

... Jedenfalls gehe ich jetzt wieder in den Graben und mache Gruppenführer. Leicht wird es mir bestimmt nicht fallen, denn wenn man, wie gesagt, 2 ½ Jahre heraus ist, dann ist das nicht einfach. Aber ich denke, daß ich das auch schaffen werde. ..."

„Im Osten, den13.1.44

... Als wir hierher fuhren durch die endlosen Sümpfe und Wälder sagte ich einmal „hoffentlich brauchen wir das alles nicht mal zurückzulaufen". Damit habe ich aber wahrscheinlich recht behalten. Leider. Wenn es nur immer so einigermaßen geht, dann wollen wir das ganz gerne auf uns nehmen...."

„Im Osten, den 15.1.44

... und befinde mich wieder im Graben. Nun wollen wir mal sehen, wie die Sache geht. Man muß nur bei jeder Sache ein bißchen Glück haben. .... Heute ist Sonnabend und ein herrlicher Wintertag. Ich denke dabei an den schönen Nachmittagskaffee. ...."

Und dann kam mit Datum vom 21. Februar 1944 der folgende handgeschriebene Brief:

„Sehr geehrte Frau Dietze!

In Pflichterfüllung muß ich Ihnen heute leider die Mitteilung machen, daß Ihr Mann Rudolf Dietze seit dem 21.1.1944 vermißt wird. Alle Nachforschungen über seinen Verbleib blieben bisher erfolglos. Eine Benachrichtigung war daher nicht früher möglich.

Bei den schweren Abwehrkämpfen zwischen Pripjet und Beresina gelang es den Rusen bei dem Kampf um Ssoloweika, einem Dorf südwestlich Gomel, in unsere Stellungen einzubrechen, sodaß wir zu einem Stellungswechsel nach rückwärts gezwungen wurden. Bei dem darauf erfolgten Gegenstoß wurde Ihr Mann zum letzten Mal gesehen. Seit dem fehlt von ihm jede Nachricht. Ob er in Gefangeschaft geraten ist, kann nicht gesagt werden.

Ihr Ehemann war ein in der gesamten Kompanie beliebter und angesehener Soldat. Er besaß die Achtung seiner Vorgesetzten und das Vertrauen seiner Kameraden. Die Kompanie verliert mit ihm einen ihrer besten Soldaten. Wir werden ihn in seiner Frische und Zuversicht nie vergessen.

Die Kompanie hofft mit mir, über das ungewisse Schicksal Ihres Mannes eine Klärung zu erfahren.

In vollem Verstehen Ihrer Ungewißheit, verbleibe ich mit den besten Grüßen

Und Heil Hitler
Ihr Gez. Nadler
Hauptmann u. Btl.-Führer"

Mit Datum vom 13.3.1944 erhielt Annemarie von Nadler noch den folgenden Brief:

„Für seinen besonderen Einsatz wurde Ihr Mann, der Unteroffizier Rudolf Dietze, noch vor dem Tage seines Vermißtseins mit dem Infanterie-Sturmabzeichen in Silber ausgezeichnet. Leider konnte ihm die Auszeichnung und die Besitzurkunde nicht mehr persönlich überreicht werden, weshalb die Kompanie Ihnen diese in der Anlage übersendet. Die Kompanie grüßt Sie mit Heil Hitler"

Das Abzeichen existiert noch. Doch es ist nicht aus Silber sondern aus einem billigen Material. So stand es damals schon um des Reiches Herrlichkeit.

Unter dem gleichen Datum schrieb der Feldwebel Gustav Winkel, der mit Rudolf befreundet gewesen war:

„ ....Ich nehme an, daß Rudi Ihnen gelegentlich darüber geschrieben hat, daß er mit anderen Männern des Trosses, darunter auch den Rechnungsführern, in den Graben befohlen wurde. Das war anfangs Januar. Wir waren dann in verschiedenen Stellungen, bis wir am 18. Januar die Stellung vor dem Ort Ssoloweika bezogen. Diese Stellungen belegte der Russe mit sich täglich steigerndem Feuer und griff die ganzen Tage bis zu 21. Januar an. Rudi war an diesen Tagen beim KP. Gefechtsstand, ich bei meinem Zuge. Wir haben uns aber dauernd gesehen. In den Mittagsstunden des 21. griff der Russe auf breiter Front nach starkem Feuer an, und es gelang ihm auch ein Einbruch von uns aus rechts. Um nicht überrannt zu werden, zogen wir uns auf den Dorfrand eines 800 m zurückliegenden Dorfes (Lessez) zurück. Ich hatte in diesen Augenblicken mein ganzes Augenmerk auf meinen Zug gerichtet. Aber sofort nach Erreichen des Dorfes fragte ich die Männer: „Wo ist Uffz. Dietze?" Von Mehreren kam die Antwort: „Ist im Dorf." Der Uffz. Grünler vom Stab weiß mit Bestimmtheit, daß Rudi aus dem Gefechtsstand herausgekommen ist, dieser hat Rudi dann aber aus den Augen verloren. Nun traten wir kurze Zeit später zum Gegenstoß an. Gleich nach Rückkehr von diesem Unternehmen habe ich die Nachforschungen nach Rudi wieder aufgenommen, aber nun hatte ihn niemand der noch Anwesenden mehr gesehen. Bei dem Gegenstoß selbst ist er scheinbar nicht dabei gewesen, jedenfalls habe ich und die noch anwesenden Männer ihn dabei nicht gesehen. Ich mußte deshalb annehmen. Daß er bei Sicherungen im Dorf Lessez verblieben war. Es war für mich sehr schmerzlich, als er in der Nacht beim Sammeln nicht mehr dabei war.

Nun hatten wir am 21. eine Anzahl Verwundeter, die gleich zurückkamen. Mit allen diesen Männern habe ich schon Verbindung aufgenommen, um nachzuforschen, wer und wo man Rudi zuletzt gesehen hat. Die Kp. ist am 2. Februar in Ruhe gekommen. Ich mußte ja nun erst warten, bis die Verwundeten ihre Anschrift der Kp. mitteilten. Nun war ich selbst vom 10. Febr. bis 8. März in Urlaub, da mein Heim in Frankfurt/M. durch Bomben zerstört wurde. Nach meiner Rückkehr habe ich die Nachforschungen wieder aufgenommen, aber es hat bis jetzt noch keiner der Verwundeten geantwortet. ......."

Mit Datum vom 10.9.44 schrieb noch einmal Gustav Winkel:

„Wenn ich nach so langer Zeit erst dazu komme, die Ihnen versprochene Nachricht zu geben, so bitte ich Sie zunächst, mein Schweigen nicht übel zu vermerken. Das letzte halbe Jahr hat uns Allen manches gebracht, an das wir wohl vorher nicht gedacht haben. Zudem habe ich in der ganzen Zeit nur einen einzigen Kameraden gefunden, der etwas von Rudi wußte. Dieser ist nun auch, wie fast alle übrigen ehemaligen Kameraden aus unserem alten Bataillon im Kessel von Bobruisk geblieben. Dieser Kamerad, ein Ogfr Kurt Rudloff, wußte auch nur zu berichten, daß er Rudi zuletzt beim Zurückgehen von Ssoloweika gesehen hat. Wenn ich es Ihnen nun genau so schreibe, wie es mir dieser Kamerad erzählte, so tue ich es in der Hoffnung, daß Ihnen die Wahrheit lieber ist, obwohl diese Schilderung leider keine Klärung über Rudis weiteres Schicksal bringt.

Rudi ist beim Zurückgehen von Ssoloweika weiter nach rechts herausgelaufen, während wir zu etwa 7 Mann direkt auf Lessez zu liefen. Bei ihm Rudi war der später gefallene Kp.-Chef Oblt. Spaeth. Rudloff ist in etwa 50 m Entfernung an Rudi vorbeigekommen und hat gesehen, daß Rudi am Boden lag und mit dem rechten Arm winkte. Ob er etwas gerufen hat, wußte Rudloff nicht, es war dazu auch der Gefechtslärm zu stark. Leider ist unsere Annahme, daß Rudi Lessez erreicht hat, dadurch hinfällig. Rudloff wurde verwundet, und diese Schilderung habe ich erst später nach seiner Genesung erfahren.

Bei dem Gegenstoß, den wir kurze Zeit später unternahmen, sind wir an den Platz, an dem Rudloff Rudi zuletzt sah, gar nicht mehr herangekommen. Der Iwan war uns mit seinen schweren Waffen so haushoch überlegen, daß der Gegenstoß nur weitere schmerzliche Verluste für uns brachte.

Mir selbst, liebe Frau Dietze, tut es bitter weh, daß ich nun auch nichts mehr erfahren kann, was weiter aus Rudi geworden ist. Ich bin aber trotzdem der Überzeugung, daß er in Gefangenschaft, wahrscheinlich verwundet, geraten ist. Teilen Sie mit mir diese Überzeugung, ich glaube, daß er nach diesem Krieg zurückkehren wird. .... Unser schönes Bataillon, wie wir aus Frankreich ausrückten, hat wirklich alle Schmerzen und Leiden dieses verfl. Ostens erfahren. ..."

Nachfragen beim Suchdienst des Deutschen Roten Kreuzes haben bis zum Jahre 2005 keine Klärung ergeben.

Märkische Heide

Märkische Heide, märkischer Sand
Sind des Märkers Freude,
sind sein Heimatland.
Steige hoch, du roter Adler,
Hoch über Sumpf und Sand,
Hoch über dunkle Kiefernwälder
Heil dir,Brandenburger Land.

Uralte Eichen, dunkler Buchenhain,
Grünende Birken
steh´n am Wiesenrain.
Steige hoch, du roter Adler,
Hoch über Sumpf und Sand,
Hoch über dunkle Kiefernwälder
Heil dir, mein Brandenburger Land.

Bürger und Bauern
vom märk´schen Geschlecht
Hielten stets zur Heimat
in märk´scher Treue fest.
Steige hoch, du roter Adler,
Hoch über Sumpf und Sand,
Hoch über dunkle Kiefernwälder
Heil dir, mein Brandenburger Land.

Gustav Büchsenschütz

Ein Zeitungsausschnitt aus der Berliner Morgenpost von 1986. Die Überschrift: „Märkische Heide" machte Beamten aus Steglitz berühmt. Der Text beginnt mit „Unverzagt blüht seit numehr 63 Jahren die „Märkische Heide" und gedeiht zur Zeit besonders prächtig." Von Gustav Büchsenschütz ist die Rede, dem jugendbewegten Wanderer, der im Jahre 1923 für einen märkischen Abend das bekannte Lied textete und komponierte. Schnell wurde es bekannt. In der DDR durfte es nicht gesungen werden. Aber es war und ist die (heimliche) Nationalhymne der Märker. Handschriftliche Anmerkungen machen den Ausschnitt interessant. Von Fritz in Druckbuchstaben mit blauem Kugelschreiber: „von Annemarie". Gemeint ist seine Schwester. Von Annemarie mit Bleistift in Schreibschrift: „Schlimmster Poussierstengel als Chef im Stadtbad." Offenbar war er ihr Vorgesetzter im Steglitzer Stadtbad. „Poussieren" war für den Berliner früher das, was heute flirten ist. „Poussierstengel" ist also eine abfällige Berliner Bezeichnung für einen Mann, der mit jeder Frau flirtet.

Teltow

Der Teltow ist eine alte Landschaft und politische Region südwestlich von Berlin. Teltower Platt, sagte man, späche Groß-vater Otto Telschow. Den Namen hat der Teltow gemeinsam mit dem Städtchen Teltow, in dem Biebers gewohnt haben und andere Vorfahren, als Weber. Deshalb wollen wir uns mit diesem Städtchen etwas näher befassen.

Teltows erste urkundliche Erwähnung datiert auf den 6. April 1265. Seitdem aber fristete es ein bescheidenes Dasein im Schatten von Berlin und Potsdam. Einmal nur wurde es für die Geschichte von Bedeutung, als sich am 18. April 1539 im Haus des Erblehnrichters Matthias von Schwanebeck in der Teltower Ritterstraße neun Vertreter des Adels des Landes Teltow mit dem Brandenburger Bischof Matthias von Jagow trafen. Gegenstand der Beratung war die Einführung der Reformation in der Mark Brandenburg. Das Schlußdokument, die „Teltower Einung" wurde ein wichtiger Baustein zur Einführung der neuen Konfession. Sonst dämmerte Teltow vor sich hin, litt unter drei großen Stadtbränden in den Jahren 1520, 1711 und 1801 und erreichte im 18. Jahrhundert kaum 700 Einwohner. Bergauf ging es erst ab dem 19. Jahrhundert mit dem Bau der Chaussee nach Zehlendorf (1850), der Dampfstraßenbahn Groß-Lichterfelde - Teltow (1888), dem Teltowkanal (1906), der Teltower Industriebahn (1909) und dem Vorortverkehr Berlin- Lichterfelde-Süd -Teltow (1938).

Nachdem Kurfürst Friedrich Wilhelm die Hugenotten und die Schweizer ins Land geholt hatte und König Friedrich Wilhelm I. die Salzburger, holte König Friedrich II. vor allem Spinner und Weber ins Land. Unter seinem Vater hatte sich nämlich die Tuchfabrikation in Brandenburg-Preußen hervorragend entwickelt. Brandenburgische Stoffe glichen in der Qualität nun denen aus England und Frankreich. Stoffe waren auch ein Exportartikel. Deshalb wurde zusätzliches Personal benötigt, das vor allem in Sachsen, Mecklenburg und Polen angeworben wurde. So entwickelte sich auch das Städtchen Teltow im Südwesten von Berlin zu einer Weberstadt.

Einem Zeitungsausschnitt aus den dreißiger Jahren entnehme ich die folgende Beschreibung eines Reisenden, der Teltow 1791, also kurz vor der Ankunft der Biebers besucht hat:

„Ich kam nach Teltow, der churbrandenburgischen adeligen kleinen Stadt im Teltowschen Kreise in der Mittelmark. Auf der Nordseite ist das Teltowfließ, auf der anderen Seite, besonders auf der Südseite, ein großer Morast, der jetzt aber größtenteils ausgetrocknet ist.

Der Ort hat ein Vorwerk, 2 Windmühlen, 118 Feuerstellen, worunter 26 Groß- oder Ackerbürger, 49 Klein- oder Gartenbürger und 29 Büdnerhäuser, die übrigen aber das Lehnrichtergut und öffentliche Gebäude sind. Man spinnt hier viel Flachs und bleicht Leinwand. Außer der kleinen Armenkasse ist hier auch noch das Predigerwitwenhaus. Auf der hiesigen Feldmarkung werden die berühmten kleinen Teltower Steckrüben gebaut, deren Vorzug darin besteht, daß sie mürbe und von aromatischem Geschmack sind. Man baut zwar dergleichen auch in einigen Dörfern bei Potsdam, und zwar am stärksten in Stolpe und Marquard, allein sie kommen den hiesigen an Güte nicht gleich, und wenn man auch an diesen und anderen Orten mit teltowschem Samen den Versuch gemacht hat, so arten sie doch meistens aus. Die Einnahme aus dem Rübenverkauf beträgt etwa 1600 Thaler. Die umliegenden Orte, besonders Berlin und Potsdam, konsumieren einen großen Theil davon, jedoch versichert man, daß durch Bestellungen, besonders aus Berlin, eine ansehnliche Partie nach Hamburg versandt wird, von wo solch eine Delikatesse nach Malaga, Konstantinopel, Smyrna, ja sogar nach Batavia und Ostindien sowie nach Westindien und nach Nordamerika von europäischen Handelshäusern an ihre dortigen Freunde abgeschickt werden.

Die Leingarnweberei bestand im Jahre 1763 aus 14 Meistern, 17 Gesellen und einem Lehrjungen. Die Stadt Teltow hat auch von der Brauerei gute Nahrung. Der ihr zuständige Krugverlag umfaßt 6 adelige, 3 Domänen- und 2 städtische, mithin 11 Dörfer....."

Man sieht also, daß die Leineweberei stark vertreten war, aber von den Rübchen und der Brauerei offenbar in der öffentlichen Wahrnehmung und vielleicht von der wirtschaftlichen Bedeutung her in den Schatten gestellt wurde.

Bürger und Weber: Johann Gottlob Christoph Bieber

Teltow war lange eine Ackerbürgerstadt mit etwas Handwerk. Beim Handwerk dominierten im 19. Jahrhundert die Weber und die Schuhmacher. In diese Stadt kam um 1800 unser Vorfahr Johann Gottlob Christoph Bieber. Die Trauurkunde von 1804 sagt in der Abschrift, die wir haben, daß er aus „Würlitz" gebürtig sei. Würlitz gab und gibt es aber gar nicht. Würbitz in Schlesien ja, Wurlitz in der Nähe von Hof ja, Wörlitz in Sachsen-Anhalt ja. Was also könnte richtig sein. Würbitz lag nicht in der Gegend, für die die schlesische Weberei sprichwörtlich war. In der Umgebung von Hof wurden früher auch Stoffe hergestellt. Gegen beides spricht aber, daß ausweislich der Bürgerrolle von Teltow von so weit her kaum jemand nach Teltow zugezogen ist. Andererseits findet sich in der Bürgerrolle auch ein Johann Georg Bieber, der 1804 das Bürgerrecht erwarb, zu dem Zeitpunkt also, als unser Bieber heiratete Für eine Verwandtschaft haben wir jedoch keinen Nachweis. Dieser Bieber kam nach der Bürgerrolle aus Wörlitz in Sachsen-Anhalt. Ein Gottfried Bieber und ein Christian Friedrich Bieber könnten seine Söhne sein. Vermuten könnte man auch, daß er vielleicht ein Verwandter von Johann Gottlob Christoph war. Dann könnte unser Bieber vielleicht doch auch aus Wörlitz gekommen sein. Auch wenn Fritz Telschow 1939 vom Pfarramt Wörlitz die Mitteilung erhielt, daß ein solcher Bieber in den Kirchenbüchern dort nicht vorkomme. Betrachtet man auch noch die Familien, aus denen die Frauen der Biebers kamen, dann spricht weiteres für diese Fantasie. Die und deren Vorfahren kommen in erheblicher Zahl aus der Gegend um Jüterbog, das bis Anfang des 19. Jahrhunderts ebenfalls noch anhaltisch war. Und ganz hübsch wäre es auch. Wurlitz würde an die einstmals berühmten Wurlitzer-Orgeln erinnern, erste Musikautomaten. Wörlitz aber, da öffnet sich eine andere Welt. Wörlitz liegt zwischen Wittenberg und Dessau am linken Ufer der Elbe. Schloß und Park wurden im 18. Jahrhundert von Fürst Leopold Friedrich Franz von Anhalt - Dessau errichtet. Das Schloß ganz klassizistisch, der Park ist ein früher englischer Landschaftspark in Deutschland. Nicht zu vergessen, daß die zugehörige Domäne schon früh ein fürstliches Mustergut wurde. Dort herzukommen, das würde sich doch ganz anders anhören.

Die Biebers wurden in Teltow heimisch. Sie heirateten Frauen aus der Umgebung, vor allem aus der Gegend von Jüterbog, das kurz zuvor noch sächsisch gewesen war. Sie heirateten aber auch Töchter einheimischer Webermeister. So gibt uns die Bürgerrolle von Teltow Auskunft, daß Johann Gottlieb Bieber (3/36) am 18.7.1832 für 3 Reichsthaler, Johann Christian Kupsch (2/74) am 4.5.1817 für 3 Reichsthaler und 18 Groschen und Johann Friedrich Schulze (1/146) am 10.5.1759 für 11 Groschen das Bürgerrecht der Stadt Teltow erworben haben. Alle drei sind unsere Vorfahren.

Was bedeutete das Bürgerrecht, warum legte man Wert darauf? Seit dem Mittelalter galt der Grundsatz „Stadtluft macht frei". Diese volle Freiheit hatte man aber nur, wenn man das Bürgerrecht erwarb. Das Bürgerrecht war also ein begehrter Rechtsstatus, den zu erlangen nicht einfach war. Das Bürgerrecht blieb in der Regel, und auch in Teltow, bis Mitte des 19. Jahrhunderts denen vorbehalten, die ein selbständiges Gewerbe ausübten und in der Stadt Grundbesitz hatten. Der Bürger hatte so auch die Pflicht zum Gewerbebetrieb und Hausbesitz, mußte sich an den städtischen Lasten durch Steuerzahlung beteiligen und bei der Verteidigung der Stadt mitwirken. Voraussetzung des Erwerbs des Bürgerrechts waren auch eheliche Geburt und persönliche Freiheit von einer Gutsherrschaft oder dem Militärdienst. Zu seinen Rechten gehörte die Mitnutzung der städtischen Äcker und Wiesen sowie das aktive und passive Wahlrecht zum städtischen Rat.

Mein Urahn, der Weber

Manchmal findet man in alten Zeitungsausschnitten seltsame Abfallprodukte. Lasen wir eben noch aus der Zeitung „Der Märkische Adler" vom 22.Januar 1937 den Artikel „Mein Urahn, der Weber" über das Weberhandwerk, so finden wir auf derselben Seite den folgenden „Leitartikel":

Ein seltsamer Heiliger

Von der großen Strafkammer in Düsseldorf mußte ein 42jähriger Zeitgenosse wegen Rassenschande verurteilt werden, weil er noch im Jahre 1936 intime Beziehungen zu einer jüdischen Witwe unterhalten hatte.

Vor Gericht versuchte sich der Angeklagte damit herauszureden, daß er nicht geglaubt habe, sich gegen das Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre zu vergehen, da die Frau sich bereits 1932 habe katholisch taufen lassen und er in derselben daher keine Jüdin mehr gesehen habe.

Nun glauben wir ja an sich zwar dem Vorbringen des Angeklagten keineswegs, denn wenn er wirklich so dumm ist, wie er sich hinzustellen für gut befand, dann sind wir der Ansicht, daß seine geistigen Kräfte auch nicht dazu hätten ausreichen können, Männchen oder Weibchen zu unterscheiden. Denn schließlich dürften vier Jahre nationalsozialistischer Aufklä-rungsarbeit und gesetzgeberischer Maßnahmen wohl ausreichen, jedem klarzumachen, daß das Taufwasser aus einem Neger keinen Weißen und aus einem Juden keinen Deutschen macht. Daran ändert auch die Tatsache nichts, daß die Religionsgemeinschaften auch heute noch nicht von der Judentaufe abgekommen sind und so dazu beitragen, den Rassegedanken zu verwässern."

Die Hervorhebungen entsprechen dem Original. DerArtikel ist ein kleiner Beitrag zum Geist der dreißiger Jahre in Deutschland.

Landbriefträger im Grunewald: Carl Albert Bieber

Auf einem alten und dunklen Bild sehen wir ihn in zerknitterter Leinenuniform, am kräftigen Stock über dem Rücken ein Paket. Im Alter blickt uns auf einem anderen Bild ein zahnloses, verschmitztes Gesicht entgegen. Wie seine Vorfahren hatte er den Weberberuf erlernt und den Meister gemacht. Anfangs hat er wohl auch noch als Weber gearbeitet. Aber dann ernährte das nicht mehr Mann und Familie. Er zog nach Zehlendorf und wurde dort Landbriefträger. Zu seinem Revier gehörte der Grunewald mit Paulsborn, Hundekehle, Saubucht und so weiter. Da waren weite Wege zurückzulegen, mit Briefen, Päckchen und durchaus auch Paketen. Auch Telegramme mußten zugestellt werden, natürlich sofort. Das funktionierte nur, wenn auch die drei Töchter, unter ihnen Großmutter Bertha, mithalfen. Der Grunewald war damals noch königliches Jagdrevier und nicht so einfach zugänglich. Auf den Wegen mußte man sich schon auskennen. Das galt auch für die Kremserkutscher. Denn eine Kremserpartie in den willden Grunewald war für betuchtere Herren aus dem fernen Berlin ein besonderes Abenteuer. Nicht selten war es dann wohl so, wenn man in der Wildnis den Briefträger traf, daß man sich des Weges vergewissern konnte. Und eine Begegnung mit so einem Mann vom Lande animierte die feinen Herren auch, ihre Zigarrentasche hervorzuziehen und dem Briefträger eine Zigarre anzubieten. Carl nahm das ganz gerne an, auch wenn ihn diese Städter eigentlich störten.War er doch selbst Zigarrenraucher. Ein Kremser mit zehn Herren machte immerhin zehn Zigarren. Offenbar lief das Geschäft gut, denn Carl konnte längst nicht alle geschenkten Zigarren selbst verbrauchen. Also sammelte er, sammelte so gut, daß sein Vorrat schließlich wunderbare Geschenke ergab, Hochzeitsgeschenke. Drei Töchter, drei Hochzeiten, drei Schwiegersöhne. Jeder bekam von ihm zur Hochzeit eine Kiste Zigarren, natürlich mit Löschblatt. Denn die trockenen Dinger mußten ja erst vorsichtig befeuchtet werden, wenn man sie richtig genießen wollte. Otto Telschow fand daran so sehr gefallen, daß er für seinen Lebtag Zigarrenraucher wurde. Auch mit fast neunzig rauchte er täglich seine zwei bis drei Zigarren. Ausgenommen nur die schlechte Zeit, wo die Pfeife herhalten mußte. Carl liebte seinen Beruf. Er konnte in der Natur sein und im Wald allein. So fiel es ihm schwer zu akzeptieren, daß er, älter werdend, mit zunehmender Schwerhörigkeit nicht mehr als geeignet für seinen Dienst angesehen wurde. Käme jemand auf die Idee, ihn zu überfallen, würde er den ja nicht herankommen hören. Carl wollte das nicht einsehen, fühlte sich immer noch stark und wehrhaft. Wozu hatte er schließlich den derben Knotenstock bei sich. Die Vorgesetzten aber wollten ihn auf die Probe stellen. Also schickten sie ihm im Grunewald einen Kollegen, der so tun sollte, als wolle er ihn überfallen. Gesagt, getan. Der Besagte schlich sich an Carl heran. Fast hätte er ihn erreicht. Ab da ... gerade noch eben konnte er einer kräftigen Tracht Prügel entgehen. Carl war zufrieden. Auf Dauer half es ihm aber nicht. Er mußte dem Alter Tribut zollen und wurde in den Ruhestand geschickt. Den Lebensabend verbrachte er bei Tochter Bertha und Schwiegersohn Otto. Dort war er immer für einen Spaß gut.

Carl Albert Bieber 1838 - 1924 <<< Johanna Caroline Seyfert 1837 - 1904

III. Die Schweizer

Anfang August 1989

Bei dem sommerlichen Besuch in Pfalzheim 1985 besuchten wir auch R. Nebel. Wenig später schickte er uns einen undatierten Zeitungsausschnitt aus einer nicht genannten Zeitung. Unter der Überschrift „Mit vielen Versprechungen wurden sie ins Land geholt" wurde über 12 Berner Familien berichtet, die 1691 nach Storbeck gekommen sind. Unter anderen wurde auch der Name Moser genannt. Doch wie konnte man an Genaueres herankommen. Immer wieder, mehrere Jahre lang, habe ich über diesem Zeitungsartikel gegrübelt, doch kein Hinweis auf die Zeitung oder das Erscheinungsdatum half. Da kam Anfang August 1989 die Idee. Der Autor hieß Stirnemann, stammte also wohl von Schweizern ab. Der Artikel berührte Stor­beck so liebevoll, daß der Mann vielleicht dort zu Hause war. Also schrieb ich einen Brief an „Heinz Stirnemann in Storbeck" und bekam postwendend Antwort. Meine Vermutungen war richtig gewesen. Ich hatte den Ortschronisten von Stor­beck erwischt, der sich bestens auskannte.

Aber der Anfang war spröde. Er klagte über die Augen und die vielen Anfragen. Erste interessante Informationen schickte er gleich. Mehr wollte er aber nur herausrücken, wenn ein Päckchen Kaffee herüber käme. Das Päckchen wurde geschickt, und nach diesen Anlaufschwierigkeiten, wie es sich für einen richtigen Märker gehört, wuchs so etwas wie eine Freundschaft. Wie mühsam das Geschäft war, schilderte er anschaulich in einem Brief vom 28.9.89:

„Die Sache ist in Ihrem Fall etwas kompliziert. Storbeck u. Pfalzheim hatten zeitweise ein gemeinsames Kirchenbuch, Geburten, Copulationen u. Sterbebücher getrennt und nicht immer für den gleichen Zeitraum, sodaß man nicht immer so schnell fündig wird. Ab etwa 1900 war die Pfarrgemeinde Rägelin, dann Katerbow zuständig. Da beide seit längerem Vacant sind, ist heute die Pfarrgemeinde Walsleben zuständig. Ich muß sicher drei Pfarrarchive heranziehen. Da ich an Star opperiert bin, darf ich (polizeilich) nur mit Kontaktlinsen Autofahren, die ich aber schlecht ertrage." Im Sommer 1990 schickte er mir dann eine Chronik von Storbeck, zu der er folgendes bemerkte: „ Ich habe diese Chronik geschrieben im Jahre 1982, in meinem Rentenjahr, nach einer schweren Darmoperation. Ich hatte bisher keine Erfahrung darin und auch keine Unterstützung, als eine einmalige Einsicht in das Archiv des Heimatmuseums, wo ich mir einige Notizen machen durfte, an Ort und Stelle. Bei uns war noch eine andere politische Richtung maßgebend und ich mußte möglichst alle politischen und nach Patriotismus anklingenden Aussagen vermeiden. Ich habe auch keine Hilfe bei der Durchsicht gehabt. Dank des damaligen Bürgermeisters war es überhaupt möglich, ohne Einflußnahme einer Dienststelle, derartiges an die Öffentlichkeit zu bringen. Bei einem Kurzartikel für die Zeitung, worin ich die großzügige Aufnahme durch die Churfürstliche Regierung, Zuteilung an Land + Lebensmittel für den Anfang usw. hervorgehoben habe, war ich erstaunt, dass dieser von der Redaktion mit dem Untertitel versehen war, „Mit vielen Versprechungen wurden sie ins Land gelockt." - Man hat mir bedeutet, ich müsse dann schon eine politische Bewertung vornehmen. Ich wollte nicht, daß ein Parteimann mit die Hand im Spiel hat, dann hätte es anders ausgesehen."

Das Ergebnis der Zusammenarbeit war schließlich eine Festschrift, die wir gemeinsam im Mai 1991 zur Erinnerung an die Gründung von Storbeck durch Schweizer herausbrachten. Außerdem aber brachte diese Bekanntschaft Informationen über die Schweizer Vorfahren der Luise Moser und über die so gut dokumentierte Über- und Ansiedlung der Schweizer in der Mark Brandenburg. Die Linie unserer Vorfahren ließ sich um einige Generationen verlängern. Und im Februar 1992 begab ich mich mit Bärbel in das in Bern gelegene Staatsarchiv des Kanntons Bern, wo wir alte Kirchenbücher durchsa­hen und noch ein Stückchen weiter kamen. So endet derzeit die Familiengeschichte um das Jahr 1640. Doch nicht nur Bern war von Falkau aus Ausflugsziel, auch Münsingen, von wo Christian Moser, der erste Schulze von Storbeck, gekommen war, und Ütendorf, wo Hans Schnyder herstammt, der Mann, dessen Frau auf der Fahrt in die Mark starb und der mit großer Kinderschar den Start in der neuen Hei­mat allein wagte. Neuigkeiten, die alle auf den ersten Besuch in Pfalzheim zurück­gehen.

Die Schweizer Auswanderung in die Mark

Aus- und Einwanderung im 17. Jahrhundert

Ende des 17. Jahrhunderts entstanden östlich der Elbe zahlreiche Schweizer-Siedlungen, erst in der Mark Brandenburg, später verstreut sogar in Pommern, in Ostpreußen und bis nach Litauen. Zunächst scheinen es Einzelwanderer gewesen zu sein, die sich hier eine neue Existenz erhofften. So finden sich im Berliner Bürgerbuch schon ab 1666 Eintragungen, also bevor die Massenzuwanderungen begannen. Nach anfänglichem Zögern, wohl wegen der immer noch bestehenden Unsicherheit und aus Mißtrauen, was ihrer erwartete, setzte die erste organisierte Einwanderung im Jahre 1685 ein, die sogenannte ,,erste Welle". Sie ist beispielsweise unter dem 28. Juni 1685 im Golmer Kirchenbuch belegt. Die ,,zweite Welle", die eigentliche ,,Hauptwelle", setzte im Jahre 1691 ein und brachte größere Gruppen, die als ganze Kolonien angesiedelt wurden. Eine dritte Gruppe folgte nach 1700.

Auswanderung war auch in jener Zeit nicht risikolos. Sicher sind einige Einzelgän­ger aus Abenteuerlust, aus Wanderlust, oder um überhaupt aus ihrem engen Lebensraum herauszukommen, zu diesem Wagnis bewogen worden. Jede Einzelwanderung barg besondere Gefahren. Aber auch Gruppenwanderungen waren nicht gefahrlos, auch wenn sie meist von erfahrenen Anführern, so mancher Name ist noch bekannt, geführt wurden. Wie viele Gefahren lauerten auf dem unsicheren Wege. Pässe und Flüsse mußten überquert werden, Wegelagerer waren an allen Enden zu erwarten. Hinzu kam, daß die meisten Auswanderer bereits Familien mit kleinen Kindern hatten; ja, es wurden auch unterwegs Kinder geboren. Auch alte Leute zogen mit der Familie mit. Eine solche Familie trug ihr gesamtes Hab und Gut mit sich. Und wenn es auch sicher nicht viel war, belastete es ebenso wie die Verpflegung für den ganzen Weg, die der Treck mitführen mußte. Ein nicht unbeträchtliches Hindernis waren außerdem die unzähligen Kleinstaaten, die durchwandert werden mussten, und deren jeder seine eigenen Zollbestimmungen hatte. Also waren Genehmigungen und Freibriefe einzuholen, die der Einzelne sich gar nicht beschaffen konnte. Man darf annehmen, daß viele, sowieso nicht begüterte, Auswanderer allein dadurch einen Teil ihrer Habe bis zum Ankunftsort verloren hatten oder daß diese durch die Wegezölle sehr geschmälert war. Der Entschluß zur Auswanderung konnte also für die meisten auch damals nicht leicht fallen. Die Not in der übervölkerten und verarmten Heimat und die Hoffnung auf eine bessere Zukunft mußten wohl sehr groß sein, wenn man den Entschluß zur Auswanderung faßte.

Dies galt insbesondere für die Schweiz. Sie war ein übervölkertes Land. Die Familien hatten meist acht bis zehn Kinder. Die kleinen Höfe erbrachten häufig nicht das Nötigste, um solche Familien zu ernähren. Um allen ein bescheidenes Auskom­men zu ermöglichen, war das Leben folgerichtig streng reglementiert. Deshalb suchten nicht wenige Schweizer ihr Glück im Ausland, die jungen Männer häufig als Soldaten, z.B. in der berühmten Schweizergarde des Vatikans.

Die Mark Brandenburg als Einwanderungsland

Gegen Ende des 17. Jahrhunderts war die Mark Brandenburg unter den Territorien des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation wohl das, das am meisten darniederlag. Schon vor dem Dreißigjährigen Krieg hatte sie unter den ständigen Fehden der Raubritter oder einzelner Territorialfürsten zu leiden gehabt. Gegensei­tige Überfälle mit Verwüstungen der Dörfer und Viehdiebstählen waren geradezu Kavaliersdelikte gewesen. Aber auch Seuchen, wie schwarze Pocken und Cholera, oder Mißernten dezimier­ten immer wieder die Bevölkerung. Die Pest wütete in den Jahren 1583, 1590, 1598, 1607 und 1611. Und auch wenn die Bevölkerung von diesen besonderen Ereignissen verschont blieb, war das Leben schwer genug. Die Ernten waren oft so gering, daß nichts für Saatkorn oder gar Vorräte für schlechte Zeiten übrig blieb. Jede Mißernte war so eine Katastrophe. Dies führte immer wieder zu frühen Formen der Landflucht in die Städte, zu Auswanderung in andere Länder, aber auch dazu, daß im 16. und 17. Jahrhundert nicht wenige Bauernhöfe von Rittergütern vereinnahmt wurden (Bauernlegen). So waren denn schon lange vor dem Dreißigjährigen Krieg viele Dörfer im Lande entvölkert und verlassen, ,,wüst" wie man damals sagte. Ja, dem Landbuch von 1525, also kurz nach Beginn des Dreißigjährigen Krieges, kann man entnehmen, daß zu dieser Zeit im Norden des Kreises Ruppin von 48 Dörfern 43 wüst waren.

Während des Dreißigjährigen Krieges war die Mark Tummelplatz aller Kriegspar­teien gewesen, der Kaiserlichen unter Wallenstein ebenso wie der Schweden unter Gustav Adolf, oder wen man auch nennen mag. Kurfürst Georg Wilhelm hatte es nicht verstanden, sich von einer Kriegspartei freizuhalten. Zu Plünderungen und Brandschatzungen waren die Pest und andere Seuchen hinzugekommen. Doch auch der Westfälische Friede, mit dem im Jahre 1648 der Dreißigjährige Krieg sein Ende fand, brachte der Mark Brandenburg noch lange keine Ruhe. Nicht nur Vorpommern war an Schweden gefallen, Schweden hatte sich insgesamt an der deutschen Nord- und Ostseeküste festgesetzt. Und noch mehr als fünfundzwanzig Jahre wurde die nordostdeutsche Geschichte durch Schwedenkriege geprägt. Erst nach dem Sieg Kurfürst Friedrich Wilhelms, des Großen Kurfürsten, über die Schweden bei Fehrbellin im Jahre 1675 kehrten für die Mark Brandenburg ruhigere Zeiten ein. Um die Mark Brandenburg war es also schlecht bestellt: viele Dörfer waren zerstört, viele Menschen waren gestorben, die Äcker waren verwüstet, Vieh war nur noch wenig vorhanden. Manche Wildnis wie die Havelbrüche war überhaupt noch nicht kultiviert. In den Dörfern der Prignitz wurden 1652 insesamt noch 373 Bauern gezählt. In der Herrschaft Ruppin waren von 2320 Bauern- und Häuslerstellen 1410 verlassen. So fehlte es überall und in jeder Hinsicht an Arbeitskräften.

Gegen Ende des 17. Jahrhunderts hat Brandenburg zwischen 300 und 400.000 Einwohner gehabt. In der Kurmark lebten durchschnittlich auf den qkm 14,7 Menschen. Verglichen mit anderen Ländern (Sachsen 45,2; Niederlande 48,2; Frankreich 53,6; Lombardei 67,3) war das sehr wenig und zeigt auch hier die Rückständigkeit der Mark. Die Rückständigkeit der Mark zeigte sich aber auch in der Lebens- und Arbeitsweise der Menschen. Leibeigenschaft, vielfältige Abhängigkeiten vom Grund- oder Landesherrn, die lebenslange Militärzugehörigkeit wie auch ein eher mittelalterliches Denken führten zu einem mangel­haft ausgebildeten Erwerbssinn. So wurde über die Brandenburger gesagt: ,,Den meisten Landleuten in der Churmark fehlt es gänzlich an rechter Betriebsamkeit und esprit d'entreprise. Es ist alles nachlässig und denkt nicht an Vortheile, wenn sie gleich vor Augen liegen" oder vom Arbeitsgeist der Schiffszimmerleute ,,die lieber ihren geringen aber bequemen Verdienst genießen, als die lockende Aussicht auf höheren Gewinn durch eine angestrengtere Arbeitstätigkeit eintauschen wollten" (Hinze, a.a.O. S.42 f.). Allerdings hatten nicht nur die politischen Verhältnisse und die Bevölkerungszah­len einer Neubesiedlung wüster Feldmarken entgegen gestanden. Viele dieser wü­sten Feldmarken standen auf gutem Boden, und so mancher Antrag auf Besiedelung wurde von der Obrigkeit mit der Begründung abgelehnt: ,,Gutes Kienholz". Sieht man sich in den Wäldern bei Storbeck um (z.B. Lukow Grund, Jagen 14 am Stern, Revier Pfefferteich) und betrachtet die herrlichen schlanken Eichen, Buchen und Kiefern, dann mag man das wohl verstehen.

Die Ländereien gehörten ja dem Kurfürsten. Der wollte sie also nicht gerne herausgeben, wegen der guten Holzung und auch wegen des guten Wildbestandes. Sicher wird auch der Gedanke mitgespielt haben, sich einen guten Waldarbeiterstamm zu halten und die Arbeiter nicht dadurch zu verlieren, daß sie sich als Bauern niederließen. So wurden häufig Flächen mit viel schlechteren Boden zur Besiede­lung freigegeben. Natürlich hatte das andere Vorteile: der Waldbewuchs wird dort geringer und die Rodung deshalb wesentlich einfacher gewesen sein. Beispiele hierfür sind Pfalzheim und Braunsberg. Gerade Pfalzheim zeigt aber auch, wie schwer es die Siedler dann hatten. Gab es doch hier mehrere Anläufe, bis sie sich festsetzen konnten. Übrigens hatte der gute Wildbestand in den nahe Neuruppin gelegenen Wäldern auch noch andere Konsequenzen. Wurde doch von den Bürgern Neuruppins mehrmals Klage geführt wegen der häufigen Treibjagden. Die dauerten mitunter tagelang, und Neuruppin hatte die Treiber zu stellen.

Friedrich Wilhelm, auch sonst ein praktischer Mann, erkannte, daß nur die Neube­siedlung der verwüsteten Ortschaften und die Ansiedlung tüchtiger, erfahrener Bauern und Handwerker ein neues Aufblühen der Mark Brandenburg ermöglichen konnte. Eine möglichst große Zahl von Bewohnern auf dem eigenen Staatsgebiet sicherte die Ernährung der Bevölkerung, den Wohlstand der Herrschenden und das für die Sicherheit des Staatsgebietes oder die territoriale Expansion benötigte, unverhältnismäßig große Heer. Also reagierte er pragmatisch, als Frankreich im Jahre 1685 das Edikt von Nantes aufhob und den Protestanten ihre Rechte nahm: er ließ die Hugenotten in seinem Land Schutz und Unterkommen finden. Schon vorher jedoch hatte er die guten Beziehungen zum Rat des Kantons Bern genutzt. War ihm doch die Schweiz schon durch die Erzeugnisse ihrer Viehzucht gut bekannt. Und außerdem war der Kanton Bern reformiert, wie die Brandenburgische Linie der Hohenzollern auch. Das wog damals sicher schwer, und so lag es nahe, hier bei den Glaubensbrüdern um Siedler nachzusuchen. Die Anfrage wurde von den Bernern wohlwollend aufgenommen.

Verhandlungen um Siedler

Am 24. November 1683 wandte sich der Kurfürst schriftlich an den Rat der Stadt Bern mit der Bitte, zehn bis zwanzig Familien zur Übersiedlung in die Mark Brandenburg zu bewegen, ,,woselbst sie wohl aufgenommen, mit Wohnungen versehen und gegen eine leidliche jährliche Pacht wohl akkomodirt werden sollen". Das war ein verlockendes und vorteilhaftes Angebot. Konnten doch die Ansiedler mit weit größeren Flächen rechnen, als sie sie bei ihren kleinen heimatlichen Berghöfen hatten. Die Berner Regierung ließ daher sofort den oberländischen und emmenthalischen Oberämtern mitteilen, daß diejenigen Familien, die sich in die Mark begeben wollten, sich anschreiben lassen sollten. "... doch da es eine Ehrensache ist, die unser Land und Nation angeht, sollen nur solche zugelassen werden, die ehrlichen Wesens und Leumunds, der Viehzucht, etliche auch des Ackerbaus und des Grabens und Wasserleitens verständig, und dazu gute Haushälter sind; keineswegs aber lüderli­che und dem Müßiggang ergebene, oder die da sonst ihren Sachen und Hauswesen nicht vorzustehen wissen". Beide Seiten nahmen also die Sache wichtig und ernst. Anmeldungen von Männern aus den Ämtern Thun, Frutigen, Saanen und Trachselwald trafen daraufhin ein. Aber die Leute waren vorsichtig. Sie stellten Bedingungen: Freiheit von allen Lasten, keine Leibeigenschaft, keine Verpflichtun­gen gegenüber dem Adel, Reisegeld vor Reiseantritt und freie Heimkehr, falls sie es wünschten.

Seine Kurfürstliche Durchlaucht war durchaus bereit, die meisten Bedingungen zu erfüllen. Die Auswanderer sollten kostenfrei rheinabwärts über Amsterdam und Hamburg nach Potsdam gebracht werden. Dort sollten ihnen dreihundert Thaler ausgezahlt sowie die notwendigen Häuser und anderen Gebäude kostenfrei erbaut werden. Jeder sollte soviel Rindvieh und Pferde erhalten wie er wünschte. Den Preis hierfür sollten sie nach ihren Möglichkeiten nach und nach abzahlen oder zu 5 % verzinsen. Jeder sollte soviel Land erhalten, wie er sich zu wirtschaften getraue. Diese Güter sollten ihnen erb- und eigentümlich gegen einen gewissen Zins und eine so ,,leidentliche Rekognition" verbleiben, daß sie damit zufrieden sein würden. Die nötige Saat sollte im ersten Jahr gegeben und bei der Ernte in natura erstattet oder bezahlt werden. Von den Ländereien, die schon nutzbar seien und sofort kultiviert werden könnten, sollten sie Zins und Pacht zahlen. Von dem unnutzbaren Land aber sollten sie eine Anzahl von Jahren frei sein. Die Gräben, Dämme und Brücken sollte jeder auf seinem Lande, so wie er sie empfangen habe, auch unterhalten. Auch sollten sie eine eigene Kirche mit einem Prediger aus der Heimat erhalten. Dessen Besoldung sollte einhundert Thaler in bar und einhundert Thaler an Viktualien, dazu Haus, Garten und Land, ausmachen. Der Schulmeister sollte 20 Thaler erhalten und die Familien zu dessen besserer Unterhaltung beitragen. Außerdem sollten sie einen eigenen Krug erhalten. Holz sollte frei sein. Saat und Werkzeug sollten vorgestreckt werden. Im übrigen sollten sie von Lasten frei sein. Zum Start wollte der Kurfürst jeder Familie von neun bis zehn Personen zwölf Scheffel Roggen (bei fünf Personen die Hälfte), eine Tonne Bier und ein Scheffel Salz schenken. Jeder, der schuldenfrei sein würde, sollte ungehindert in die Heimat zurückkehren dürfen. Stürbe eine Familie aus, sollte das Gut an die Landsleute fallen.

Vergleicht man dieses Angebot mit den Bedingungen, unter denen die bernischen Bauern zu leben hatten, dann müssen die bernischen Einwanderer geradezu als privilegiert angesehen werden. In der Schweiz lenkten bis zum Beginn des neun­zehnten Jahrhunderts Feldrecht und Flurzwang die landwirtschaftlichen Arbeiten im Dorf. So hieß es: ,,Niemand soll im Heuet oder in der Ernte mähen und Korn schneiden, bevor es der Amtmann erlaubt hat". Jeder soll seinem Nachbarn das Trittrecht gewähren; doch der darf nicht einfach über die Wiese gehen, sondern muß sich einen Weg mähen. Auch Holz- und Fischrechte waren genau geregelt. Bei Verstößen gegen diese Ordnungen wurden drastische Strafen angewandt. Noch etwas anderes beschwerte die Bauern. Im Mittelalter war der Bauer Lehns­mann gewesen und hatte einen Bodenzins in Naturalien oder Geld zu zahlen gehabt. Im Laufe der Jahrhunderte war er entweder Eigentümer geworden, hatte aber den Bodenzins weiter zu zahlen. Oder er hatte Grund und Boden verloren. Nur der Bürger mit angestammten Heimatrecht hatte auch Anteil an der ,,Almend". Die anderen waren Einwohner minderen Rechts.

Nicht viel anders ging es den oft genug auch noch leibeigenen märkischen Bauern. Es ist anzunehmen, daß das anfängliche Mißtrauen der Berner von diesen Verhält­nissen herrührte. Wegen ihrer eigenen Erfahrungen und wegen dieser Situation der märkischen Bauern verstanden sie es dann lange, die ihnen zugesicherten Rechte zu verteidigen. Andererseits wird von hier aus auch der Neid verständlich, mit dem die Einheimischen der Sonderstellung der Einwanderer begegneten.

Sehr eindücklich beschreibt das Urbarium von 1786 für die in der West-Prignitz gelegenen Dörfer Abbendorf und Haverland die Situation des gutsherrlichbäuerlichen Verhältnisses. In nicht weniger als 258 Paragraphen werden sämtliche Details geregelt. In den beiden Dörfern lebten 31 Hofwirte (Vollhüfner, Halbhüfner, Viertelhüfner und Kossäten).

Die Dienste waren bestimmte und unbestimmte, entweder mit dem Gespann, mit der Hand oder mit Laufen verrichtet. Die Arbeitszeit war im Sommer von 8.00 bis 18.00 Uhr, auf dem Felde eine Stunde früher. Bei Spanndiensten gab es mittags zwei Ruhestunden, bei Handdiensten, die vor allem die Kossäten betrafen, eine Stunde. Ein Vollhüfner leistete wöchentlich zwei Spanntage, ein Halbhüfner einen und ein Viertelhüfner einen halben. Der Untertan konnte entscheiden, ob die Pflichten persönlich oder durch Kinder bzw. Gesinde erfüllt werden, nur mußte der Betreffende entsprechend qualifiziert sein. Gerätschaften mußten mitgebracht werden. Zu den Spanndiensten gehörten Holz, Mist, Heu, Korn, Sand, Ziegelsteine, Busch, Lehm fahren, Personen fahren im Hofdienst, Reisen fahren, Pflügen. Reisen waren Fahrten nach außerhalb für Personen und jegliche Transportgüter. Futter, Mehl, Stallgeld und Trinkgeld gab es bei Reisen nicht. In der Erntezeit war der Sechswochendienst zu leisten, während dessen die anderen Dienste wegfielen. Während der Dienste durfte der Untertan sein dafür benötigtes Vieh in den Ruhestunden auf eine dafür bestimmte Weide führen. An gewöhnlichen Spanntagen bekam er kein Essen oder Trinken. Bei der Getreideernte erhielten Mäher und Binder täglich 3 Pfund Brot 1 Pfund Speck und 6 Quart Bier zum Mittagbrot. Am zweiten Tag gab es statt Speck Käse und so weiter abwechselnd. In gewissem Rahmen war auch eine Umwandlung der Dienste in Geldleistungen möglich. Zu den Diensten gehörten auch Baudienste zu allen Wirtschafts- und Wohngebäuden der Herrschaft, d. h. zu Tagelöhnerhäusern, Hirtenhäusern, Mühlen, Pflaster auf dem Rittersitz, zur Zugbrücke auf dem Rittersitz, zur Mühlen-Arche, zu Gartengehegen und Mauern, zur Ziegelscheune und Ziegler-Wohnung.

Pflichten der Herrschaft waren die Sorge um die Untertanen und die Verpflichtung, ihnen den Broterwerb auswärts zu ermöglichen, wenn sie ihr Brot nicht am Ort verdienen konnten; die Fürsorge für verwaiste oder von ihren Eltern verlassene Kinder; Erlaß der Dienste für ein Dreivierteljahr, wenn der Bauer eine neue Scheune oder ein neues Haus baute; eineinhalbjährige Befreiung, wenn das Haus des Untertanen abbrannte.

Die Bauern waren keine Erb- oder Laßbauern sondern gemeine Bauern, hatten also keine Verfügungsgewalt über ihren Hof. Wollte ein Besitzer seinen Hof verlassen, mußte er der Herrschaft einen tüchtigen Gewährsmann stellen. Das Kind eines Untertanen war derjenigen Herrschaft unterworfen, der seine Eltern zur Zeit der Geburt unterworfen waren. Vor der Heirat war die Genehmigung der Herrschaft nachzusuchen. Kinder der Bauern mußten sich dem Bauernstande und dem Gewerbe der Eltern widmen und durften ohne Erlaubnis der Herrschaft kein anderes Gewerbe ausüben. Kinder aller Untertanen, die im elterlichen Betrieb entbehrlich waren, mußten ihre Dienste erst der Herrschaft anbieten und, wenn diese es verlangte, zu dem in dem Dorfe üblichen Lohn dienen. Dieser Dienst wurde Zwangsdienst genannt und dauerte drei Jahre. Bei Tod des Hofbesitzers mußten die Kinder den Hof übernehmen. Wollte ein Sohn oder Tochter sich auswärts etablieren, mußte er um Erlassung der Untertänigkeit nachsuchen.

Jeder, der einen Hof annahm, erhielt z. B. als Vollhüfner 4 Pferde, 2 Kühe, 1 Zuchtsau, 2 Gänse, 1 Ganter, 2 Hühner, 1 Hahn, einen großen Wagen mit Zubehör, 4 Sielen, 1 Vorder- ,1 Hintertau, 1 Halskoppel, 4 Zäume, 1 Haarzeug, 1 Axt, 1 Beil, 1 Schneide-Lade, 1 Heu-, 1 Mistforke, 1 Misthaken, 1 Holzkette, 1 Korn-, 1 Gras-Sense, 1 großen kupfernen Kessel, 1 Biertonne, 1 großen Tübben, 1 Kohltonne, 1 Legel, 1 Tabelkiepe, 1 Dreschflegel, 6 Säcke, 1 Knechts- und Magdsbett, die vollen vorhandenen Gebäude und komplette Aussaat auf dem Felde oder Boden. Die anderen Bauern entsprechend weniger. Der Bauer hatte den Bestand zu erhalten.

Schulze und Schöppen zusammen machten die Dorfgerichte aus; sie beratschlagten, was für Gemeindearbeiten zu verrichten waren, und sorgten für die ordentliche Ausführung. Gemeindearbeiten waren: Unterhaltung der Elbdeiche, Ausbesserung der Wege und Brücken, Haltung der Schlagbäume, Räumung der Dorf- und Feldgräben.

Diese Situation machte es nötig, die Neusiedler in der Mark so weit wie möglich abzusichern. Um nun nichts zu unterlassen und um jegliches Mißtrauen abzubauen, reisten aus Bern zunächst einmal der Stadtarzt Albrecht Bauernkönig, ein Zimmermeister und zwei weitere Berner in die Mark Brandenburg. Sie sollten alles in Augenschein nehmen. Ihr Reisebericht ist erhalten. Ihm zufolge war die Reise, vor allem von Ulm bis Berlin, wegen der großen Dürre sehr teuer und unbequem. Andererseits war es aber auch wegen Unwetters und ständigen Regenwetters wieder nicht möglich, die ganze Strecke zu Fuß zu gehen. So mußten sie in den Ansbachischen und Anhaltischen Fürstentümern mit Hilfe des Kurfürstlichen Passes die Amtsfuhr benutzen. Schließ­lich erreichten sie aber doch wohlbehalten Potsdam, und am 30. September 1684 wurden sie bei der ersten Audienz vom Kurfürsten huldreich aufgenommen. Ja, es wurde sogar Kurfürstin Dorothea hinzugeholt. Nach anfänglicher Befangenheit haben die beiden Emmenthaler den Majestäten Rede und Antwort gestanden, mit ihren stattlichen Bärten und der eigentümlichen Tracht, deren sogenannter Krösel­kragen ganz besonders die Aufmerksamkeit der Kurfürstin auf sich zog.

Am 4. Oktober 1684 kam man dann in Begleitung des Oberjägermeisters an das Ziel der Reise, den sogenannten Golmer Bruch. Er lag in der Nähe der späteren brandenburgischen Residenz und umfaßte etwa eintausend Jucharten. Die Hälfte war bereits gerodet, und durch die Mitte waren auch schon Gräben gezogen. Eine Windmühle mit großem Rade diente der Entwässerung. Auch Dämme zur Abwehr des Flusses waren bereits angelegt. Gutes Ackerland aber war kaum vorhanden. Gerste, Hafer und Bohnen konnten wohl angebaut werden. Als die Berner am Abend dieser ersten Inspektion im Schloß zu Potsdam ihr Urteil abgeben sollten, hatte der Zimmermeister so seine Beanstandungen. Die Ställe und die Tenne seien zu niedrig, die Häuser zu nahe aneinander gebaut. Den Boden befanden sie als gut. Aber es seien noch zu viele Storze, Wurzeln und Gesträuch vorhanden und deshalb zu wenig Ackerland. Auch könnte der Schaden groß werden, wenn der Sommer zu naß und das Wasser zu groß werde. Der Aufenthalt dauerte noch einige Wochen. Schließlich kam aber doch die feierliche Verabschiedung. Dabei ergriff dann David Fankhauser das Wort zu einer herzhaften Rede, die, wie es hieß, bei den Cavaliers viel Bewunderung erregte.

Die Rückreise ging mit der Kurfürstlichen Amtsfuhr bis Halle. Von da nahm man wegen des gefährlichen Weges einen Wagen bis Nürnberg. Dann ging es zu Fuß weiter. In die Heimat brachte die Delegation ein Kurfürstliches Schreiben vom 24. November 1684 mit, mit dem die Berner Regierung aufgefordert wurde, die Sache zu fördern und die Siedler unter dem Geleit des Stadtarztes Bauernkönig und eines aus ihrer Mitte gewählten Pfarrers in die Mark Brandenburg zu schicken.

Einer der ersten Schweizer Kolonisten: Hans Schneider,

Unser Vorfahr Hans Schneider war einer der ersten Kolonisten und hat das Folgende selbst miterlebt. Er stammte aus Uetendorf in der Nähe von Thun, im Berner Mittelland. Das Dorf ist heute zerschnitten von einer Durchgangsstraße, weist aber immer noch schöne alte Fachwerkhöfe auf. Hans Schneiders Frau starb auf der Reise in Hamburg, konnte als Reformierte im lutherischen Hamburg aber nicht beerdigt werden. Deshalb wurde sie in Altona beigesetzt. Mit seinen sechs Kindern hat er den Aufbau in der neuen Heimat dann allein bewältigt.

Die Reise

Vor der Abreise der Auswanderer hatte der Rat des Kantons Bern viel zu klären. Der Kaiserliche Gesandte in Basel mußte Pässe ausstellen. Mit den vielen Kleinstaaten, deren Territorium durchquert werden sollte, mußten Verhandlungen wegen der Durchreise geführt werden. So mit der vorderösterreichischen Regierung in Walds­hut, dem Kurfürsten von der Pfalz in Heidelberg und so weiter und so weiter. Sie alle wurden auch gebeten, die Zollgebühr gering zu halten, da die Auswanderer ohnehin nur Wein und Käse mit sich führten. Endlich war dann der herbeigesehnte oder auch ängstlich erwartete Tag der Abreise, der 30. April 1685, da. Die Auswanderer trafen sich in Bern. In der alten Kirche auf der Nydeck fand der Abschiedsgottesdienst statt. Die Predigt entsprach der Situa­tion. Dann sicherte eine Deputation des Rates den scheidenden Landsleuten die ,,fortwährende väterliche Gesinnung" ihrer bisherigen Obrigkeit zu. Sollte es ihnen in der neuen Heimat jemals schlimm ergehen, würde ihre alte Heimat sich ihrer kräftig annehmen. Schließlich wurden zwei für die Reise ausgerüstete Boote bestiegen, in denen sie zunächst die bekannte Aare abwärts fuhren und dann den Rhein. Den ging es flußab bis zu seiner Mündung in die Nordsee, dann weiter über die Nordsee bis zur Elbmündung, die Elbe aufwärts und schließlich auf der Havel bis nach Potsdam. Vierzehn Bauernfamilien, insgesamt einhundertundzwei Personen vom Säugling bis zum gereiften Mann, machten sich auf die Reise. Sie kamen aus ganz verschie­denen Teilen des Kantons Bern, aus Kirchdorf und Münsingen, aus Rüeggisberg und Tierachern, aus Gurzelen und auch aus Kulm und Kölliken im Aargau. Die Leitung hatte der uns schon bekannte Stadtarzt Bauernkönig. Über die Schwierigkeiten seiner Aufgabe lesen wir in seinem Bericht: ,,Was ich vor Mühe und Ungemach habe, bald mit Diesen, bald mit Jenen, sonderlich mit dem Austheilen des Proviants, warmer Suppe, Bezahlung des Zolles, Bestellung der Schiffsleute - das weiß Gott!" Begleitet wurde die Gruppe außerdem von dem Colonieprediger Elisäus Malacrida.

Unter den Segenswünschen der die Auswanderer verabschiedenden Menge stießen die Boote ab. In Aargau stiegen noch einige Familien zu, und dann waren die Boote wirklich voll, mit Männern, Frauen und Kindern, mit Hausrat und Proviant, und mit Ziegen, damit die Kinder unterwegs Milch hätten. Am Rhein wurde ihnen nur der halbe Zoll abgenommen. Glücklich, wenn auch mit viel Sorge und Mühe, wurden die Stromschnellen bei Lauffenburg passiert; immerhin mußte hier die gesamte Ladung ausgeladen werden. In Basel nahm sie Bürgermeister Burkard freundlich auf. Auch Straßburg, Baden und die Pfalz ließen die Boote zollfrei stromab fahren. Von Mannheim konnte Bauernkönig nach Hause schreiben: ,,Bisher Alles wohlge­muth; Niemand krank; der Proviant bedeutend gemindert; zehn Mütt und noch mehr, die in Bern gebacken worden, verbraucht, sowie zwei Faß Wein - wozu freilich die Schiffleute nicht am Mindesten halfen; die Leute haben zu Hause nicht so gut gelebt, weilen der Appetit bei ihnen unersättlich."

Von Germersheim an brauchten sie nur noch zwei Steuerleute für jedes Schiff, weil Männer und Frauen rudern halfen, ,,was ihnen den Appetit noch mehr erweckt, Krankheiten verhütet, so sie durch das Stillsitzen und Faullenzen würden bekom­men haben und zugleich das Reisen mächtig fördert." In Köln wurden sie vom Residenten des Kurfürsten so freundlich behandelt, daß sie sich, gerührt von soviel Höflichkeit und Güte der Obrigkeit, mit einem großen Käse revanchierten. Worauf sie wiederum von dieser mit einem Ohm (150 Liter) des besten Rheinweins beschenkt wurden. Vom 18. Mai bis zum 27. Juni, von Köln über Amsterdam (31.5/-1.6), Vlieland/ Terschelling (3. 6.) bis Hamburg (5.-11.6.), fehlen uns genauere Angaben. Aber am 10. Juni ging es von Hamburg aus weiter. Am 15. Juni erreichte man Havelberg. Von dort begab sich der Geleitsmann sofort zur Residenz des Kurfürsten und wurde von diesem auch aufs gnädigste empfangen. Am 17.6. war man in Brandenburg und am 18.6. Potsdam.

Natürlich fragt man sich, mit welchen Booten diese Reise unternommen wurden. Da kann ich mir schwer vorstellen, daß sie mit einem Bootstyp von Anfang bis Ende unterwegs waren. Die Anforderungen auf Fluß und Meer sowie die Notwendigkeit, ortskundige Schiffer zu haben, waren einfach zu schwierig. Aber am Anfang könnte es eine „Lädine" gewesen sein, ein Last- und Personenschiff, wie es früher auf dem Bodensee und dem Hochrhein üblich war. Dann wäre es etwa 100 Fuß lang und 30 Fuß breit, also rund 35 m lang und 10 m breit gewesen sein. Der Tiefgang wäre leer etwa 1,30m gewesen, die Tragfähigkeit hätte etwa 100 Tonnen betragen. Wenn man nicht segeln konnte, hätte man es mit langen Rudern oder langen Stangen fortbewegt.

Die erste Schweizer Kolonie im Golmer Bruch bei Potsdam

Am 19. Juni 1685 zog man in der neuen Heimat ein. Zu den vier im vorigen Jahr errichteten Häusern kamen fünf weitere hinzu, die teils fertig, teils noch im Bau waren. Nun wurden die Häuser zugeteilt, wobei teilweise das Los zu Hilfe genom­men werden mußte. Auch Lebensmittel wurden verteilt, und zwar einhundert große Brote, vier fette Ochsen, damit sie nicht gleich die warme Suppe entbehren mußten, und sechsunddreißig Wispel Mehl in vierzig Fässern aus Spandau. Das war mehr als doppelt so viel, wie ihnen der Kurfürst versprochen hatte. Außerdem erhielt jeder Haushalt eine Seite Speck, sechzehn Scheffel Erbsen und Grütze, zwei Tonnen Salz, etliche Tonnen Bier, zwei Tonnen Butter sowie ein Schock Hühner und Gänse. Auch wurden einhundertundzwei Haupt Vieh verteilt, die später noch taxiert werden sollten. Noch in den ersten Tagen sollte sodann das Gras gemäht und verteilt werden. Und je nach Stärke jeder Haushaltung erhielt diese den Grund und Boden, der vorher abgemessen worden war. Gleich zu Anfang waren auch zwei wichtige andere Entscheidungen zu treffen. Aus der Mitte der Neuankömmlinge wurde Hans Biland aus Gurzelen zum Schulzen gewählt und von Oberamtmann Lüderiz in Potsdam bestätigt. Peter Schwitzgräber aus Rüeggisberg aber wurde zum Wirt bestimmt. Er hatte in den ersten Wochen gewiß keine üble Zeit, da viele Leute aus Potsdam hinausliefen, um die Ankömmlinge zu sehen.

An einem der ersten Tage danach war Markt in Potsdam. Der Kurfürst saß mit seiner Tafelgesellschaft gerade zu Tisch, als ihm berichtet wurde, die Berner Bauern seien in der Stadt und machten ihre Einkäufe. Daraufhin befahl er, sie in dem Aufzuge, in dem sie gerade seien, hereinzuholen. Und sie kamen: Die Bauern und erwachsenen Knechte hatten ihre gro-ßen Degen an der Seite. Die einen hatten breite Hüte auf dem Kopf, andere die kleinen Bauernhüte und die Aargauer trugen ihre Strohhüte zur Tracht. Einige hatten Sensen, Seile, Rechen und Schaufeln in der Hand, die sie gerade gekauft hatten. Die Frauen und Mädchen trugen auf ihren Köpfen Zuber, Kübel, Kacheln, Häfen und dergleichen. Auf die Fragen des Kurfürsten antworteten mehrere frei heraus. Die Kurfürstin ließ Speisen und Wein vor dem Saal verabreichen und der Kurfürst schickte zwei Teller guten Konfekts hinaus, das sie den Kindern mitbringen sollten.

Einige Zeit später fuhr dann der Kurfürst mit seiner Gemahlin und Gefolge sogar zum golmischen Bruch hinaus. Noch stand keine Kirche, doch nach Fertigstellung der Häuser sollte auch sie begonnen werden. Die Gäste wurden herzlich empfangen und mit Alphornblasen begrüßt. Der Schulze bedankte sich für den Besuch, verhaspelte sich aber bei seiner Rede vor Aufregung furchtbar. Der Kurfürstin fielen die gut gekleideten und hübschen Kinder auf. Bei einem späteren Besuch am 17. Oktober 1685 äußerte sich der Kurfürst zufrieden über den Fleiß der Kolonisten, die bereits eine Fläche von sechzehn Jucharten gesäubert hatten. Auf ihre Bitte um mehr Ackerland wurde sogar ein Stück Land in der Nähe des Städtchens Werder zum Preis von 2900 Thaler angekauft. Hierfür sollten sie zwar die Saat ersetzen, aber entsprechend ihrem Vertrag von Hofdiensten und Kontributionen auch hier frei sein. Wie sehr sich die Obrigkeit um die Kolonisten bemühte, zeigt auch die folgende Anekdote. Dem Nikolaus Künzi aus Münsingen waren auf dem Wochenmarkt in Brandenburg 14 Thaler gestohlen worden, für die er sich ein Stück Vieh hatte kaufen wollen. Doch seine Frau sollte davon nichts wissen. Als dies der Kurfürst erfuhr, lachte er und schickte dem Künzi die 14 Thaler mit dem Bemerken, er täte dies, um Frieden zu machen; der Künzi solle aber in Zukunft sein Geld besser verwahren, denn es gäbe hier wie anderswo böse Leute.

Am 26. November 1685 konnte Stadtchirurgus Bauernkönig, dessen Bericht diese Schilderung folgt, Potsdam wieder verlassen. Seine Aufgabe war erfüllt. Die Heimreise führte ihn über Braunschweig, Wolfenbüttel, Kassel, Frankfurt am Main nach Straßburg. Von da erreichte er über Basel, Rheinfelden, Brugg und Aarau wieder die Heimat. Diese Auswanderergruppe war die erste, und ihr Weg ist auch am besten beschrieben. Sicher hatte sie auch mehr Förderung als die folgenden Gruppen.

Der erste Schub Schweizer war vierzehn Familien stark, darunter achtundfünf­zig Kinder. Acht Familien gingen bei der Golmer Schneidemühle an Land, von denen vier nach Nattwerder zogen. Sechs Familien gingen nach Neu-Töplitz. Hier sind die Namen nach dem Kirchenbuch dieser ältesten Schweizer Gemeinde:

1. Hans Bilang mit Frau Eva und drei Kindern (Hans, Anna, Barbel)

2. Hans Schnyder mit sechs Kindern (Anna, Hans, Christen, Barbel, Mauritz, Jacob)

3. Hans Läderach mit Frau Elisabeth und fünf Kindern (Cathrin, Barbel, Jost, Maria, Nidaus)

4. Chrispinus Garmatter mit Frau Eva und fünf Kindern (Hans, Chrispinus, David, Barbel, Manuel)

5. Nidaus Küentzi mit Frau Catharina und fünf Kindern (Ülli, Barbel, Catrina, Anthoni, Elisabeth)

6. Emanuel Durtschi mit Frau Barbel und fünf Kindern (Christen, Emanuel, Elisabeth, Heinrich, Mari)

7. Nicolaus Zäch mit Frau Barbel und fünf Kindern (Ülli, Barbel, Catrina, Anthoni, Elisabeth)

8. Peter Schweingruber mit Frau Verena und drei Kindern (Peter, Nidaus, Hieronymus)

9. Bendicht Kiener mit Frau Maria und zwei Kindern (Magdalena, Zacharias)

10. N icolaus Hodler mit Frau Maria und zwei Kindern (Anna, Hans)

11. Beat Suter mit Frau Anna und drei Kindern (Barbel, Ülli, Maria)

12. Samuel Suter mit Frau Maria und acht Kindern (Verena, Hans, Ülli, Melchior, Samuel, Anna, Maria, Rodolph)

13. Christen Hutmacher mit Frau Elisabeth und zwei Kindern (Samuel, Magdalene)

14. Jacob Gering mit Frau und vier Kindern (Verena, Anna, Barbel, Maria).

Unterwegs war die Frau von Hans Schnyder verstorben. Andererseits war Bendicht Kiener auf dem Schiff ein Sohn geboren worden. Am 28. Juni 1685, also zehn Tage nach der Ankunft, fand dessen Taufe in Nattwerder statt. Der Kurfürst, seine Gemahlin und Hofjägermeister von Lüderitz waren die Paten. Daß der Täufling den Namen Friedrich Wilhelm erhielt, sollte sicher die besondere Dankbarkeit der Siedler zum Ausdruck bringen.

Während die Siedler im Golmer Bruch die Urbarmachung leisten mußten, kamen sie in Neu-Töplitz in ein altes Klosterdorf des Kloster Lehnin. Hierher hatten sich, so wird berichtet, 1542 bei der Säkularisation des Klosters die alten Klosterbrüder zu­rückgezogen. Jetzt brauchte es offenbar neues Blut. Die Schweizer lebten sich wohl gut ein. Ein David Garmatter aus Neu-Töplitz wird einhundert Jahre später Hofgärt­ner in Paretz sein und den dortigen Schloßpark anlegen.

Hans Schneider (Schnyder) ohne weitere Daten

Schulze in der Mark: Christian Moser

Fünf Schritte hin, umdrehen, fünf Schritte zurück, wieder und wieder, von der Tür zum vergitterten Fenster und zurück, in der Arrestzelle in Neuruppin. Stunden geht das so, Tage. Wie ein eingesperrtes Tier wandert er hin und her. Was hat er falsch gemacht, daß er jetzt hier ist ? Was nun? Draußen nieselt es, herbstlicher Landregen. Ein Regen, den er so liebt. Im Frühjahr, wenn der trockene Kiefernwald feucht wird und es überall nach Wachstum und Gedeihen riecht. Im Herbst, wenn der Wald nach Pilzen riecht. Nur im Sommer nicht, nicht zur Erntezeit. Dann ist er fast so schlimm wie Hagel oder ein Gewitter. Dann ist die Ernte hin, droht Hunger für Frau und Kinder einen ganzen langen Winter. Nur deshalb hat er doch als Schulze grünes Licht zur Mahd gegeben. Aus Sorge, daß nach der langen Hitze plötzlich das Wetter umschlagen könnte. Hatte nicht auf die Erlaubnis des Amtmanns aus der Stadt gewartet, die nicht kam, als es Zeit war. War das solch ein Vergehen in der neuen Heimat, daß er verhaftet werden musste, daß er jetzt im Jahr 1697 hier in Neuruppin im Gefängnis saß? Er, der Schulze Christian Moser aus Storbeck. Nein, er war im Recht. Was war das schon für eine Obrigkeit, der die Befolgung strenger Vorschriften wichtiger war als vernünftiges Handeln für das Wohl der einem Schulzen anvertrauten Menschen. War es nicht vielleicht doch falsch gewesen, die Heimat im fernen Berner Mittelland zu verlassen und hier noch einmal neu anzufangen? Diese Gedanken wollten ihm nicht aus dem Kopf gehen. Nur manchmal wurden sie beiseite geschoben von den Erinnerungen an die letzten zehn Jahre.

Wie schwer hatten sie es gehabt, die Anna aus Wimmis und er aus Münsingen. Die Arbeit auf fremden Höfen hatte kaum mehr satt zu essen erbracht. Und abhängig war man gewesen, den Anordnungen des Bauern und seinen Launen ausgesetzt. Arbeit immer nur von 1. Oktober bis 1. Oktober. Die Unsicherheit. Wie hatten sie sich danach gesehnt, selbständig zu sein wie ihre Ahnen, auf deren Höfen aber kein Platz mehr für sie gewesen war. Und dann hatten sie Anno 1683 von der Anfrage des Kurfürsten im fernen Brandenburg und seinem Angebot gehört. Hatten sie sich da melden sollen? Doch zu vorsichtig war er gewesen, hatte nicht vom Regen in dieTraufe kommen wollen. Hatten deshalb gewartet, Jahr um Jahr, und herumgehört, wie es denn denen ergangen sei, die Anno 1685 in die Ferne gezogen waren. Als dann gute Nachrichten gekommen waren, hatten sie sich doch gemeldet. Und schließlich waren sie dann am 14. März 1691 abgereist; ausgestattet vom Rat mit den Papieren und einem Viaticum von 20 Batzen für den Erwachsenen und 15 Batzen für jedes Kind. Geführt hatte sie der Hauptmann von Gertzensee. Ja, mühsam war der Weg gewesen, von Bern über Luzern und Zürich nach Ulm, dann weiter über Nürnberg und Leipzig nach Potsdam. Vor allem zu Fuß war es gegangen, Gepäck und die Kinder auf dem Wagen. Fremde Länder und Städte hatten sie gesehen. Die Straßen waren ausgefahren gewesen, und bei Regen war man kaum noch durch die Pfützen und den Schlamm vorangekommen. Wie froh waren sie gewesen, als sie endlich über Lindow Storbeck erreicht hatten.

Er selbst hatte noch nach Berlin gemußt, wo er am 1. Mai 1691 als Schulze der neuen Gemeinde die Ansiedlungsurkunde unterschreiben mußte ... oder durfte? Der schönste Tag in seinem Leben war das gewesen. Er, der Christian Moser aus Münsingen unterschrieb einen Vertrag mit dem hohen Herrn, dem Kurfürsten von Brandenburg. Er als freier Mann, und jetzt Bauer mit einem eigenen Hof. Und wie hatten sich die anderen gefreut, als er mit der Urkunde zurückkam. Ein großer Tag war das auch gewesen, für Samuel Hirdt, Rudolf Berner, Peter Hinzinger, Peter Schweingrub, Jacob Werbmüller, Jacob Matter, Hannß Bylang, Ulrich Suter, Jost Büchman, Hannß Hirdt, Nuzbaumß Wittibe, natürlich auch für die Weiber und Kinder.

Ja, ganz schnell war das dann gegangen. Schon am 6. Mai 1691 hatten sie das Kirchenbuch angelegt und die erste Eintragung vorgenommen. Und am 28. Juni 1691 hatte der erste Gottesdienst für sie in der Wohnung des Oberziesemeisters Wolfgang Wilhelm Wellner am Markt in Neu­ruppin stattgefunden. Ihn hatten sie zum Schulzen gewählt. Ja, aber einfach war das alles auch nicht gewesen. Waren sie doch zunächst nur in der Vorwerksscheune und der Vogtei Amtsschä­ferei untergebracht gewesen. Aber die Bedingungen waren gut gewesen. Sah man das nicht an dem Vertrag, der mit dem Amt Ruppin geschlossen worden war? Immer wieder einmal hatte er sich den angesehen, um das genau zu wissen und weil er so wichtig war.

,,Durch die schlechten Erfahrungen (des Amtes Altruppin, d. Verf.) und der eigenen Bewirt­schaftung überdrüssig, traf selbiges mit dem Vermittler der Schweizer Ansiedler, dem Hauptmann des von Gerzener und Prediger Nikolai Hagens folgenden Con­tract.

1.) Haben S. Churfürstliche Durchlaucht direct Ihnen dasselbe baufällige Vorwerk samt raumen Acker, Wiesen und Gärten, auch dem Verwachsenen unraumen Lande in seiner laut Abriß beschriebenen Grenzen anfangß auf zwölf jahr, ahls von Trin. 1691 biß selbige Zeit 1702 dergestalt einräumen und übergeben laßen, daß, wann sie u. ihre Nachkommen Sr. Churfürstl. Durchl. und den hohen Churhauses Brandenburg unterthänig, treu und ge­horsam seyen u. verbleiben, auch Präestanda Prästiren werden, sie daßelbe nachgehends erblich innehaben und besitzen solen.

Auf seiner Churfürstl. Durchlaucht gnädigsten Befehl nachgesetzte 12 Schweizer nahmens:

1. Samuel Hirdt
2. Rudolf Berner
3. Peter Hinzinger
4. Peter Schweingrub
5. Jacob Werbmüller
6. Jacob Matter
7. Hannß Bylang
8. Ulrich Suter
9. JostBüchman
10. Hannß Hirdt
11. Christian Moser
12. Jacob Nuzbaumß (Wittibe)

hierselbst ansäsig seyen solen.

2.) Äcker, die den Schweizern gegeben werden, sollen sie bewirtschaften und in Ackerland verwandeln. Sie sollen Grenzen bekommen. Die Wiesen sollen völlig den Schweizern gegeben werden.

Sie sollen sich der Schafzucht befleißigen. Auch sollen sie in der Churfürst­lichen Wildnis hüten. Jeder soll ein Schwein bekommen, und dafür nur die Erlaubnis der Mastung bezahlen. Wenn jeder aber mehr Schweine haben will, so muß er das volle Mastgeld bezahlen. Sie sollen Brenn- und Geschirrholz und Holz zum Häuserbau bekommen. Auch können sie Holz in die Stadt fahren, um Verdienst zu haben.

Sie sollen 4 Freijahre haben. Von 1691-96. In diesen Jahren sollen sie sich ordentlich einwirtschaften und sich Geld sparen.

Sie sollen eine Polizeiordnung und einen Dorfschulzen bekommen. Der Dorfschulze soll für seine Mühe ein Stück schlechten Landes bekommen.

Sie sollen an jeden Brunnen, um sich vor Feuersgefahr zu schützen, leder­ne Eimer und Bottiche aufkuven. Jeder soll eine Nacht wachen, daß kein Feuer ausbricht. Wenn einem sein Hof abbrennt, sollen ihn alle gemein­sam wieder aufbauen.

Inventarium

Waß den zwölf Schweizern zu Storbeck an aller Hand besatz, Vieh,

Getreidich und andere Instrumenta rustica haben solen und darauf

empfangen ahls:

1. Samuel Hirt

sol haben
darauf empfangen

2 Pferde sind sein eigen

3 Kühe 3 st.a 4 1/2Thaler=

13 Thlr. l2gr.

3 Schweine 3 Schweine 4 Thaler

2 Gänse 2 Gänse 12 Groschen

40 Schafe 40 Schafe a 20 gr. =

33 Thaler 2 gr.

3 Hühner 3 Hühner 9 gr.

Die Instrumenta rustica haben sich selbst angeschafft

An Getreidich

18 Scheffel Roggen über Winter ausgesät

8 Scheffel Gerste

2 Scheffel Haber über Sommer ausgesät

1 Scheffel Erbsen

10.) Nach endigung der Freijahren aber solen sie Sr.Churfürstl. Durchl. verpflichtet seyen, deroselben jährlichen und zwar jedes Jahr besonderß auf den gewöhnlichen Zinstag Martini und zwar im 1696stn jahr anzufangen, zu Zinsen und Pachten und zwar von jedem Paurhoffe 10 Thaler, 18 Scheffel Korn (Roggen), 8 Scheffel Gerste, und 2 Scheffel Hafer.

Thut von zwölf Paurhöffen Einhundertzwantzich Thlr. angeld. Neun Wispel Roggen - Vier Wispel Gerste - Ein Wispel Haber

Unterzeichnet:

Danckelmann"

(Das bis vor dem Zweiten Weltkrieg in der Schule von Storbeck aufbewahrte Dokument hierüber ist inzwischen verloren gegangen. In Form einer alten Schülerabschrift ist der angeführte Text erhalten. Er ist lückenhaft und garantiert nicht den Originalwortlaut. Trotzdem vermittelt er ein lebendiges Bild jenes Vorgangs).

Aber sie hatten, so ging es Christian Moser durch den Sinn, natürlich auch von Anfang an ihreVerpflichtun­gen gehabt. Für den Ankauf des Hofes hatte schließlich jeder 200 Thaler aufzubringen gehabt: 80 Thaler für Haus und Stall, 10 Thaler für Ackergeräte, 90 Thaler für Vieh und Saatgut, 10 Thaler für die Befreiung von den üblichen Frontagen und 10 Thaler für die Befreiung von Kon­tributionen, Hof und Giebelgeschoß, Malzkorn und Einquar­tierung. Doch sie waren auch vom Militärdienst frei.

Nur wenige von ihnen hatten diese Summe aufbringen können. Da hatten die anderen von der Hofkammer entsprechende Vorschüsse erhalten, die in fünfzehn Jahren zurückzuzahlen sind. Trotzdem hatten sie inzwischen gesehen, daß sie, gerade auch was die Befreiung von betimmten Lasten angeht, gegenüber den Einheimischen bevorzugt waren. Darauf waren die Märker neidisch. Auch die vorgesetzten Behörden hatten schon versucht, die Privilegien abzubauen. So hatte es schon manches Gerangel gegeben. War das vielleicht der Grund, warum sie es ihm jetzt zeigen wollten?

Nun, Christian Moser kam vermutlich zu keinem Ergebnis. Aber er kam nach wenigen Wochen wieder frei. Seinem Ansehen unter den eigenen Leuten hatte dies Erlebnis sicher keinen Kratzer versetzt. Eher war das Gegenteil der Fall. Denn er blieb Schulze und versah sein Amt offenbar so gut, daß dieses Amt später auch seinem Sohn übertragen wurde.

Übrigens war Christian Moser aus Münsingen gekommen, einer kleinen Stadt im Berner Mittelland, auf dem halben Weg zwischen Bern und dem Thuner See. Noch heute sieht man in dem von einer Durchgangsstraße zerschnittenen Ort beachtliche, große, alte Bauernhöfe. Seine Frau Anna Stucki war aus Wimmis im Berner Oberland gekommen, zwischen Thuner See und Niesen, am Zusammenfluß von Kander und Simme, einer alten Siedlung mit Schloß und mittelalterlicher Kirche. Heute fährt man hindurch, wenn man von Bern ins Berner Oberland will.

Christian (Christen) Moser + 30.1.1712 <<< Anna (Elsbeth) Stucki get. 5.11.1658, + 30.8.1731

Bitten und Beschwerden: Christian Mosers Amtszeit

Es gab tatsächlich bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts ein ständiges Gerangel um die Rechte der Schweizer. Dann konnten die Privilegien nicht mehr durchge­halten werden. Hatte es doch durch Hugenotten, Salzburger und Waldenser auch viele andere Zuwanderer in der Mark Brandenburg gegeben. Aus der Zeit, als Christian Moser Schulze in Storbeck war, gibt es Unterlagen zu drei Vorgängen, die davon zeugen und an denen er maßgeblich beteiligt war.

1. Petition wegen der Kirchbaukosten

Königl. Geh. Staatsarchiv.

Acta

de

Die Schweizer Kolonien

Vol. I 1693 - 1702

Rep. 9.D.9. Fasc. 1 89 Blätter.

Allerdurchlauchtigster, Großmächtigster König!

Allergnädigster Herr!

Als wir beide Schweitzer prediger Witenbach und Delliker vor Zweyen Jahren im Nahmen unserer Gemeynden in unser Vaterland zum Kirchen. Bau zu Collectiren abgeschikt wurden, haben EW. Könnigl. Mayest. in Dero uns mitgegebenen Allergdgster Credition Allergdgst versprochen die Materialien zu solchen Kirchen Bau zu contribuiren, vor welch Allergnädigste offerte sich auch die Herren Principaten unsers Vaterlandes in ihrem Antwort Schreiben schon würklich und freundtlichst bedanket haben !

Wann wir dann nun aus dem Braunsbergischen Kalkoffen in dem Ambte Ruppin bey die 50 Winspel Kalk biß dato gebraucht, und noch mehr nöthig haben werden, welche zu bezahlen, die Gollecten gelder nicht zureichen: Alß tringet uns die Noth, Ew. Kö-nigl.Mayest. dero Hohen Offerte Allerunterthgst zu erinnern, und zu bieten, allen Kalk so wir von Braunsberg zum behuff der Neuen-Kirchen nöthig haben werden, allergdgst zu schenken; wir sind erbietig das Brenner-Lohn, und andere dergleichen Kösten davor zu erlegen p. In unterthänigster vertröstung ersterbe

Allerdurchlauchtigster, Allergnädigster König !

Ew.Königl.Mayest.

unterthänigster gehorsamster

Diener und Vorbieter

Hercules Delliker, reform.

Lindau d.9.Maji.1702. prediger zu und bey Lindau.

Zu den Sieben in Bau stehenden Schweizer Kirchen zu Lindau, Schulzendorff, Lüdersdorff, Luhno, Storbek, Michelsdorff und Neu Töpliz werden erfordert folgende Materialien,

100000 Mauerstein und Dachsteine

á 4 Thlr das 1/m thut 400 Thlr.

100 wsp.Kalk á 16 gl. 66 Thlr. 16 gl.

6 wsp. Gips -- 72 Thlr.

Summa 538 Thlr. 16 gl.

Berlin d.7.Juliy 1702 A.v. Lörtg......

2. Petitionen im Streit um die Mastgerechtigkeit

Geh. Staats - Archiv.

Acta

betr.

Streitige Mastgerechtigkeiten

1553 - 1709

Rep. 9 4a Fasz. 1. 25 Blatt

Aller-Durchlauchtigster, Großmächtigster König, Allergnädigster Herr.

Es lieget fast ein steinwurff von unserm Dorffe ein kleines u. sehr geringes Eichholtz, welches hiebevor ein wolfsgarten gewesen sein soll, Von Vielen Jahren aber ist dieser so nahe an unserm dorffe belegene ohrt nicht mehr also gebrauchet, noch weniger von der Jägerey dazu behauptet worden, Vielmehr ist unß dieses kleine revier bey anweisung unsers dorfs alß ein dazu gehöriges Stück für unser acker u. hütung durch die landtmeßer zugemeßen, mit angewiesen u. unß übergeben worden. Nachdem aber nunmehro dero Landtjäger zu Ruppin im Herbst die gantze Huth Schweine, welche in dero Königl: Heyden zur Mast eingetrieben worden, über unser äcker u. wiesen trieben u. dieses kleine Eichholtz, welches doch nichts importiret und nur bloß in odiu nostri u. zu unsern Verderben angemaßet wird, mit so vielen schock schweinen berühren laßen, dadurch die wenige mastung unß nicht nur mit einmahl entzogen, sondern, waß daß unerträglichste, dadurch unß die saath u. wiesen totaliter ruinieret, daß wir so gestalten sachen nach, wan dieses kleine revier vor unserm Dorffe belegen nicht unser bleibet, unß ganz ruiniret sehen müssen; So bitten Eu: Königl: Maj: wir arme Schweitzer hiemit allerunterthgst, Sie wollen allergnst. geruhen, dero Landtjäger zu A.Ruppin nachdrücklich anzubefehlen, daß er diesen vor mehr dan 70. Jahren nicht mehr gebrauchten, unß auch, damit unsere saath u.wiesen von den schweinen nicht verdorben werden, alß ein pertinentz zu unserm dorffe mit angewiesenen wolfsgarten, nicht mehr mit schweinen betreiben, u. unsere äcker u. wiesen ferner ruiniren möge, zumahlen, wan diesem unfug nicht gesteuret wird, wir unsere schweine nicht auß dem stalle zur Mastzeit laßen dürfen, wodurch wir gäntzlich verdorben werden;

Allergnädigster König u. Herr, es ist unß versprochen, daß bey vorhandener voller mastung dem Schultzen 2. u. jeden Pauren l. Schwein in dero Königl. Heyden frey eingenommen werden sollen, wir wollen dieses benificii unß begeben, Eur: Königl: Maj: aber allerunterthgst. bitten, Unß wegen der ungelegenheit, so unsere äcker u. wiesen haben, wan mit den schweinen dieselbe so nahe an unserm Dorffe übertrieben werden, bey dem so nahe an unserm Dorffe belegenen u. unß assignirten Kleinen Eichholtze zu schützen, u. unß, angesehen wir zu niemand, alß dero gerechten Thron unsere zuflucht nehmen können, Von denen uns übell wollenden nicht ruiniren u. allen unfug anthun lassen. Und weil auch der jetzige Ambts-Castner u. vorigter Landtjjäger zu A.Ruppin in Er: Königl: Maj: Heyden unß ein gewißes revier zu unser hütung vormahls angewiesen, dieser so nöhtige ort aber unß nicht allein gelaßen sondern Von benachbahrten Dörffern mit ihrem Viehe betrieben u. damit alle gräsung Vor unser Viehe entzogen wird, so bitten Eu: Königl: Maj: auch in diesem stücke wir allerunterthgst, weil es andehm, daß Eu: Königl: Maj: wir praestanda praestiren müßen, bey dem, waß der Ambts-Castner u. Vorigte Landtjäger unß einmahl nottürfftig zur hütung angewiesen, allergdst zu schützen und nicht zu verstatten, daß mit unß frembden auß der Schweitz gekommenen unterthanen, die Eu.K.M. allergetreueste unterthanen sein u.bleiben wollen, nicht so wunderlich procediret u .gleichsahm die seele eines Pauren, alß gräsung, hütung, u. die saath genommen werden mögen; getrösten unß allergnädigster erhörung u. ersterben

Eu: Königl: Maj:

allerunterthänigst: gehorsambste Knechte

Schulze u. gemeine des Dorfs Storbeck

d.13.April 1703.

A Monsieur

Monsieur de Portz, Conseiller, du Consistoire, même des financet de sa Maiesté le Roy de Prusse á Berlin.

HochEdelgebohrner, Vest, und Hochgelehrter, Unßer insonders

Hochgebietender Herr Rhate.

Wir arme schweitzer werden genöthiget, Ew: HochEdelgebohrne gehorsambst zu hinterbringen, daß vor wenig tagen H landJäger zu Alt-Ruppin durch den Heydenläuffer unß starff androhen laßen, im Fall wir nicht in ganß kurzer Zeit würden aufweißen können, daß der sogenante Wolffsgarten von Sr königl Mayestät an unsere Gemeinde mit dem Genuß der darinn stehenden wenigen eichelbäumen allergnädigst zuerkant sei, Er, weil nun die mastzeit vor der thür, frembde schweine wolte dahin treiben laßen; Wann wir nun wohl wißen, wie höchst schädlich dieses unserer Gemeinde Feldern seyn würde, weil dardurch dieselben, wann sie gebaut, und besäet sind, ganß verdorben, und die saat allerdings ruinirt werden müste, über dem auch zu befürchten, daß ein großes unheil zwischen der gemeinde, und denen, welche die frembden schweine, über unsere felder in besagten wolffsgarten mit gcwalt eintreiben wollen, entstehen werde, zumahlen wir unß ihnen wiedersetzen werden, weilen unß ein unbillicher eingriff geschiehet, und auch dardurch unß ein gar großer schade zuwachßen kann, wir wollen nun nicht sagen, daß besagter streitorth wahs der einmahl geschehenen zumeßung rechsmäßig unß zugehöre.

Alß gelanget an Ew:HochEdelgebohrne unser demüthiges bitten, Sich unser armen gemeinde wieder die angedrohte schädliche Unternehmung des H. Landjägers cräftigst anzunehmen, und weil bereits ein Königl. Decret auf unser unterthänigste Klage, wie Ew:HochEdelgebohrne Neulichst in unserm...

Wie die Sache ausging, weiß ich nicht. Was Bauern und Beamten zukam, waren devote Formulierungen. Trotzdem ver--suchte man auch im Absolutismus, sich gegen Unrecht zu wehren. Da man offenbar keinen Erfolg vor Ort hatte, wendete man sich im Frühjahr direkt an den König.

3. Petition wegen Herabsetzung der Pacht nach Hagelschlag

Supplicanten bitten Allerunterthgst und fußfällig, Weilen der am 3. Juli Mittags entstandene große Sturm und Hagel ihr Getreyde, sei es auch Hafer Gut, gänzl Zerschlag und Zernichtet, die .. und als nicht im Stande seiend Praestanda zu prästiren, Ihre Königl Majestät wolle Ihnen dieses Jahres Pächte auß dero Hoher Königl. Clemence allergnädigst remittiren.

Schultz und Sämmtliche Coloni des Schweitzer Dorfes Storbeck unterm Ambt Ruppin

d.14tn Aug.1712

Allerdurchlauchtigster, Großmächtigster König

Ällergnädigster Herr,

Es ist das Schweitzer Dorff unter dem Ambte Ruppin Storbeck, mit hierbey liegenden Memorial Supplicando einkommen, und stellet darin beweglich vor, wie daß ihr Winter- und Sommer-Getreyde durch den am 3.tn hujus gefallenen Hagel, welcher So groß als tauben-Eyer gewesen, und hand hoch gelegen haben soll, gantz zerschlagen worden, und dahero an ihrer Pacht umb allergnädigste erlaßung unterthänigst bitten ; wan sichs dan des Castners ertheilten pflichtmäßigen attest nach, welcher den Hagel-Schaden so wohl auff dem Storbeckschen, alß Crangischen Felde untersuchet, also wie die Supplicanten Vorgestellet verhält, daß zu Storbeck daß Winter-Korn totaliter, zu Crangen aber nur ein Drittel vom Hagel erschlagen worden;

So stellen zu Ew. Königliche Majestät gefälligkeit wir allerunterthänigst, ob dieselbe, dem Dorff Storbeck, was die Roggen-Pächte nach proportion außtragen, etwa gantz, und dem Dorff Crangen Ein Drittel an der Roggen Pacht in diesem Jahr, iedoch daß sie die Dienstgelder, und die von Crangen das 1/4 Pacht abtragen, herrlaßen allergnädigst geruhen wollen.

in erwartung deroselben allergnädigsten resolution, ersterben wir in tiefster treu und devotion.

Allerdurchlauchtigster Großmächtigster König, Allergnädigster Herr,

Er.Königl. Majestät

Cölln an der Spree, den 25.n Jul.1712.

Alleruntcrthänigste treugehorsambste Diener

M.L.von Printz H v Sturm H.v.Portz.

denen Einwohnern zu Storbeck soll dieses jahr

wegen des erlittenen Hagelschadens

die gantze Rockenpacht und denen zu Crangen

ein Drittel solcher pacht erlaßen werden,

doch müßen beyderseits die dienstgelder und

außerdem schuldige praestanda gehörig abführen.

den 15tn August 1712

...Cochim(?) ML.v.Printz.

Die Storbecker Schweizer-Kolonie

Die Geschichte der Storbecker Kolonie ist vom Tage der Ansiedlung bis auf den heutigen Tag fast lückenlos dokumentiert. Mit dem Tag der Ansiedlung am 6. Mai 1691 wurde das Kirchenbuch begonnen, das bis heute erhalten ist. Aber auch sonstige Unterlagen wie Anträge der Siedler auf Zuweisung weiterer Weideflächen, die Nutzung von wüsten Dörfern, Anordnungen über Wiesen- und Grabenpflege sowie Waldnutzung und auch Steuerbescheide findet man noch vor. Gilt der Wanderweg der Golmer Siedler als der Bestbeschriebene, so gibt Storbeck die Möglichkeit, die Entwicklung einer solchen Kolonie an diesem Beispiel im Detail zu verfolgen.

Storbeck ist an sich altes Siedlungsgebiet. In seiner Umgebung hat man Urnen, Tongefäße und eine bronzene Fibel gefunden, Hinweise darauf, daß hier schon in der Stein- und Bronzezeit Menschen gelebt haben. Seinen Namen hat es aber wohl erst in der Folge der deutschen Besiedelung der Mark Brandenburg, die ja im 12. Jahrhundert begann, erhalten. Gebhard I. von Amstein begründete im 13. Jahrhun­dert die Herrschaft Ruppin und brachte Siedler aus seinen Besitzungen in der Altmark mit. So finden sich noch heute sechzehn ruppinische Dörfer in ziemlich geschlossener Lage mit Namen, die von den Heimatorten der Altmärker Siedler übernommen wurden, z.B. Storbeck. Den Namen Storbeck muß man wohl auf das slawische stara = alt und das germanische bek = Bach zurückführen. 1319 ist Storbeck als Pfarrdorf erwähnt, 1420 aber wurde es bereits als wüst bezeichnet. Im Landbuch von 1525 heißt es dann: Ein Vorwerk, genannt Storbecke, ist eine wüste Feldmark. Seit 1624 gab es dort die Schäferei eines Pachtschäfers mit seinen Knechten. Nach 1638 wurde das Vorwerk von den Truppen des kaiserlichen Generals Gallas abgebrannt, 1652 aber nebst Schäferei und Viehhof wieder aufge­baut. Zugehörig waren die Feldmarken Nabelsdorf und Lukow, 1691 auch Eggers­dorf. 1645 war ein Wolfsgarten von etwa 42 Morgen angelegt worden. Seit 1590 hatte das Amt Neuruppin die ganze Feldmark inne. Vom Beginn der Neubesiedlung durch die Schweizer war schon die Rede.

Aus den folgenden dreihundert Jahren sind verschiedene Vorgänge überliefert und nachweisbar, die etwas vom Leben in Storbeck erkennen lassen:

1693 Noch acht Familien wohnen in der Vogtei und drei in der Schäferei.

1697 Schulze Christian Moser wird verhaftet, weil er die Landarbeiten nicht nach den lokalen Bräuchen und Terminen durchführen ließ.1698 In Storbeck leben 82 Personen (24 Ehemänner und Ehefrauen,26 Söhne, 24 Töchter, 4 Knechte, 4 Mägde). Der Viehbestand: 45 Pferde (in der Heimat hatten sie keine gehabt), 16 Ochsen, 29 Kühe, 47 Jungrinder, 341 Schafe, 5 Ziegen, 110 Schweine.

1700 Der Bau der Kirche in Fachwerkbauweise wird begonnen; die Fin­anzierung erfolgt mit Hilfe von Schweizer Kollektengeldern.

1701 Aus diesem Jahr stammt die Storbecker Glocke; gegossen von JohannJacob Schulz, Berlin; gestiftet von der Schweizer Heimatgemeinde;sie hat folgende Inschrift:

Anno 1701 Johann, Jacob Schulz

Der Schweizer Kolonie in Storbeck

ist diese Glocke von deinem löbli-

­chen reformierten Cantons Freigybig

­übersanten Colekten Geldern geschen-

­ ket worden.

1707 Die Kirche wird eingeweiht.

1712/13 Bei Storbeck wird der Waisenhof (später Waisenkrug) als Erweiter­ung des Lindower Waisenhauses gebaut; zwölf Plätze finanziert die"Oranienstiftung", eine Stiftung der Prinzessin von Nassau-Oranien zugunsten Schweizer Waisenkinder; schließlich können zwölf Mädchen und zwölf Knaben hier untergebracht werden.

1749 Viehseuchen suchen das Dorf heim (ebenso 1766).

1795 Die Kirche wird ausgebessert.

1802 In Storbeck leben: 12 Ganzbauern, 5 Büdner, 16 Einlieger, insgesamt 229 Einwohner; es gibt einen Krug.

1841 Die lutherische und die reformierte Gemeinde (hierzu gehört Storbeck) in Neuruppin vereinigen sich.

1855 Zum letzten Mal herrscht die Cholera.

1857/65 Die schwarzen Pocken gehen um.

1860 Storbeck wird eine eigene Kirchengemeinde als Filiale von Neuruppin; der erste Gemeindekirchenrat wird gewählt.

1861 Der Viehbestand: 43 Pferde, 147 Rinder, 1026 Schafe.

1866 Die Separation: das heißt, die gemeinsame Bewirtschaftung von Teilen des Lan­des wird zugunsten der separaten Bewirtschaftung durch die einzel­nen Höfe aufgehoben.

1880 Am 28. Mai brennen die Gehöfte der beiden Stirnemanns durch Blitz­schlag vollkommen ab.

1891 Zehn Bauern mit 72, 63, 59,58,57 (zweimal), 55 (zweimal), 54 und 42 Hektar und ein Lehrer mit 2,5 Hektar Grund und Boden teilen sich die Dorfflur.

1945 Gegen Ende des Krieges hat Storbeck auch eine Vielzahl von Flücht­lingen aufgenommen. Nur wenige sind aber auf Dauer hier ansässig geworden. Im Zuge der Bodenreform erhalten im Herbst 1945 47 Siedler Land aus der Kränzliner Feldmark.

1952/60 24 bäuerliche Betriebe wurden zur Landwirtschaftlichen Produk­tionsgenossenschaft ,,Professor Mitscherlich" zusammengeschlossen.

1976 Die Genossenschaftsbauern wurden der LPG Kränzlin angeschlossen. Getreide-, Futter- und Kartoffelanbau sowie Rinder- und Schafzucht stehen dabei im Vordergrund.

11. Mai 1991

Jubiläen sind so eine Sache. Hat's der Jubilar zu etwas gebracht, braucht er sie ei­gentlich nicht. Hat er's zu nichts gebracht, werden sie eher peinlich. Fast immer sind sie für die Gäste eine Pflichtübung. Also geht man nur hin, wenn es sich nicht vermeiden läßt. Mit dem Jubiläum ,,300 Jahre Storbeck" war es ein bißchen an­ders. Sicher ist das kleine Dorf Storbeck bei Neuruppin in seiner Geschichte nicht groß herausgekommen. Und peinlich war das Jubiläum eigentlich auch nicht. Im Gegenteil. Für die Storbecker war die Jubiläumswoche ein halbes Jahr nach der deutschen Vereinigung ein Akt der Selbstfindung. Für uns war die Teilnahme anrührend, weil ja mein Vorfahre Christian Moser Mitbegründer, Unterzeichner des Ansiedlungsvertrages und erster Schulze des Ortes gewesen ist. Für Bärbel und mich war es höchst interessant, diesen Abgesang auf das eben Vergangene und den Neubeginn in uns völlig fremen Feierlichkeits- und Geselligkeitsformen zu erle­ben.

So waren wir also am Sonnabend, den 11. Mai 1991, nach Storbeck gefahren, um wenigstens an einem Tag die Feierlichkeiten mitzumachen. Schon bei der Ankunft überraschte uns Storbeck. Der Dorfanger war für den Verkehr gesperrt. Ordnungs­gemäß fuhren wir auf einem Holperweg um das Dorf herum, wo der angekündigte Parkplatz nicht so recht zu finden war und von wo aus wir das Stirnemannsche Anwesen auch nicht anfahren konnten. Also zurückgefahren, durch die Straßen­sperre hindurch und auf den Stirnemannschen Hof. Dort wurden wir freudig begrüßt und in die gute Stube zum Frühstück gebeten. Die Stube war voll, mecklenburgi­scher Verwandtschaft und Schweizer Abgesandten des Familienverbandes Stirnemann. Nach der Begrüßung und einem Wurstbrot mit Kaffee erste Kontaktversuche, die die Gesprächspartner aus der Schweiz als versierte Familienforscher auswiesen.

Gegen 11.30 Uhr ging es ins Freie zur ,,Feierstunde am erneuerten Mahnmal für die Opfer der Kriege". Wir waren ziemlich die ersten; nach uns schlängelten sich dann aus den verschiedensten Richtungen Reihen von Storbeckern im Sonntagsstaat in Richtung Ortsmitte. Trompetensolo durch Pfarrer Müller aus Gottberg - Ansprache der Bürgermeisterin - Zapfenstreich mit Trompete - Ansprache von Heinz Stirnemann mit Nennung der Gefallenen - Märkische Heide. Keine großen Worte wurden gemacht, aber manchem kullerten die Tränen über die Backen. Und ,,Märkische Heide" wurde mit einer Inbrunst gesungen, wie ich es mir nicht hatte vorstellen können. Nachher erfuhren wir, daß es in der DDR-Vergangenheit nicht gewünscht war, das Denkmal zu pflegen, und daß die überzeugten Kommunisten auch jetzt der Feier ferngeblieben waren. Außerdem hatte es Streit gegeben, ob auf der Tafel nur die Storbecker Gefallenen oder alle gefallenen Familienangehörigen der jetzigen Storecker aufgeführt werden sollten (man hatte sich dann für das erstere ent­schieden). Und das Lied ,,Märkische Heie" war jahrzehntelang verboten gewesen und wurde jetzt um so leidenschaftlicher gesungen. Wir fingen an zu ahnen, was das Ganze für die Storbecker bedeutete.

Nach der Feierstunde zog Pfarrer Müller durch das Dorf und blies, mal hinter diesem Baum, mal an jener Ecke, Choräle und Volkslieder. Dazu gab es aus der Gulasch-­Kanone Kartoffeln und Gulasch, übrigens sehr wohlschmeckend. Hierdurch ge­stärkt, konnte man das Festzelt und eine kleine Ausstellung zur Storbecker Ge­schichte in einer Garage bewundern. Dann ging das Programm im kleinen Wirts­haussaal weiter. Der Chor (acht Landfrauen mit entsprechenden Stimmen) sang vor begeistertem Publikum zweistimmig Volkslieder. Heinz Stirnemann hielt einen lan­gen Vortrag über die Storbecker Geschichte, und die Leute hörten geduldiginteres­siert zu, auch die Kinder. Das alles in großer Enge und Hitze, ein Teil stehend, ein Teil sitzend, nicht wissend, was besser war. Zum Schluß auch hier ,,Märkische Heide". Dabei bin ich dann ins Fettnäpfchen getappt. Habe ich doch, wie aus der Kindheit gewohnt, das ,,Sumpf und Sand" wiederholt, was heute nicht üblich ist. Das wohlwollende Lächeln der Nachbarn dabei bedeutete mir, daß ich wohl doch nicht von hier sei, daß man sich aber über mein Mittun freue.

Danach dann die Kaffeetafel wie bei unseren Gemeindefesten. Freundlichwitzigresolutfreche Bäuerinnen führten das Regiment. Die Schokoladentorte schmeckte und der Kaffee auch. Zwei Gespräche gehörten zur Abrundung des Ganzen. Der Trompetenpfarrer erzählte von der schwierigen Situation auf dem Lande, wo sich nur wenige zur Kirche hielten, und wie wichtig da seine Trompete sei. Jeden Mor­gen blase er vor dem Pfarrhaus einen Choral und ein Volkslied. Die Auswahl sei darauf abgestellt, was es Neues im Dorf gäbe, Freud oder Leid usw. Da wüßte halt jeder Bescheid. Ich dachte, der braucht kein ,,evangelisches frankfurt", um seine Schäfchen zu informieren. Habe mich aber auch gefragt, ob er mit seinem Blasen die Gottberger wirklich anspricht, oder ob er sie nicht vielleicht auch vergrault. Das andere Gespräch mit dem Mecklenburger Vetter der Stirnemanns lief darauf hinaus, daß sich der Norddeutsche doch recht herablassend über die Sachsen äußerte, die immer auf der richtigen Seite stünden, das einhundertfünfzigprozentig und, wenn etwas anders liefe, jammerten. Die Zukunft der neuen Länder läge bei den Meck­lenburgern und nicht bei den Sachsen und Thüringern.

Leicht erschöpft fuhren wir abends nach Berlin zurück. Vielleicht hatten wir an die­sem einen Tag mehr über die Menschen hier erfahren als an vielen anderen. Zum besseren Verständnis dafür, was die meisten dieser Menschen empfanden sei hier noch ein zeitgenössisches „Gedicht" zitiert:

Unsere besten Genossen

Sie haben gelogen,

sie haben betrogen,

sie haben uns das Fell

über die Ohren gezogen.

Sie haben gehetzt,

sie haben gesudelt,

sie haben sich selber

Lob gehudelt,

und wollt einer weg,

so wurde geschossen.

Wer gab den Befehl?

UNSERE BESTEN GENOSSEN

Man hat uns bestohlen,

man hat uns geknechtet,

mit Füßen getreten,

als Menschen entrechtet.

Das Land verlottert,

die Städte verödet,

die Hoffnung erschlagen,

die Menschen verblödet.

Und alles im Namen des

Volkes beschlossen.

Die roten Mafiosi -

UNSERE BESTEN GENOSSEN

Sie haben gerafft und gegiert.

Sie haben das Volk ruiniert.

Berauscht von Macht,

mit Herzen von Stein,

sie predigten Wasser

und soffen stets Wein.

Doch jetzt sitzen sie nicht

mehr auf hohen Rossen,

sondern auf dem Müll

der Geschichte -

UNSERE BESTEN GENOSSEN


IV. Die Bömbös

Milchkutscher in Berlin: Friedrich Bömbös

Nach dem Gesindedienstbuch war Friedrich Bömbös mittlerer Statur, hatte graue Augen und blonde Haare. Auf dem einzigen Bild, das es von ihm gibt, sehen wir ihn in Husaren-Uniform. Offenbar hat er bei den Husaren gedient. Damit zusammen hängt wohl auch seine berufliche Tätigkeit, soweit wir von ihr wissen. Denn nach den weiteren Eintragungen dort war er unter anderem beschäftigt gewesen:

15.2.1881 - 1.10.1881 als Kutscher bei H. Schönfeld, Milchhändlerin in Berlin, Ausscheiden wegen Aufgabe des Geschäfts, ihm wird das beste Zeugnis gegeben.

1.10.1881 - 1.1.1882 Kutscher bei G. Pontow, Milchhändler in Berlin, Brüderstraße 32, Ausscheiden veränderungshalber, ehrlich und fleißig, Betragen zur größten Zufriedenheit.

1.1.1882 - 15.4.1884 Kutscher bei G. Pontow, Milchhändler in Berlin, Brüderstraße 32, gleich gutes Zeugnis.

15.5.1884 - 22.5.1889 Milchkühler bei L. Mangelsdorf, Milchhändler in Berlin, Ritterstraße 72, Zeugnis: hat in letzter Zeit meine Arbeit nicht zu meiner Zufriedenheit gemacht. Keine Beglaubigung der Polizeibehörde.

Den Erzählungen nach soll er in ähnlicher Tätigkeit auch in Ribbeck beschäftigt gewesen sein. Dafür spräche, daß er 1886 in Ribbeck geheiratet und seine Frau 1888 in Ribbeck die Zwillinge zur Welt gebracht hat. Andererseits könnte gerade das auch zu einer Verwechslung Anlaß gegeben haben. Aus den Unterlagen kann man jedenfalls nicht erkennen, welche Beziehungen zu Kartzow bei Potsdam und Ribbeck bestanden haben, wo Friedrichs Frau zweimal niedergekommen ist, während die Zwillinge in seiner Heimat bei der Verwandtschaft geboren wurden. Friedrich Bömbös kam den Erzählungen nach ums Leben, als er ein vor dem Milchgeschäft, in dem er beschäftigt war, durchgehendes Pferdegespann aufhalten wollte. Er wurde mitgeschleift und zog sich dabei tödliche Verletzungen zu.

Immerhin gibt es eine familiäre Verbindung zu Ribbeck. Und über den Herrn von Ribbeck hat Theodor Fontane im Jahre 1889, also ein Jahr nach der Geburt Friedrichs, eines seiner schönsten Gedichte geschrieben.

Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland

Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland,
ein Birnbaum in seinem Garten stand,
und kam die goldene Herbsteszeit
und die Birnen leuchteten weit und breit,
da stopfte, wenn´s Mittag vom Turme scholl,
der von Ribbeck sich beide Taschen voll,
und kam in Pantinen ein Junge daher,
so rief er: „Junge, wiste ´ne Beer?"
und kam ein Mädel, so rief er: „Lütt Dirn,
kumm man röver, ick hebb´ne Birn."

So ging es viele Jahre, bis lobesam
der von Ribbeck auf Ribbeck zu sterben kam.
Er fühlte sein Ende. War Herbsteszeit,
wieder lachten die Birnen weit und breit.
Da sagte von Ribbeck: „Ich scheide nun ab.
Legt mir eine Birne mit ins Grab."
Und drei Tage drauf, aus dem Doppeldachhaus,
trugen von Ribbeck sie hinaus;
alle Bauern und Büdner mit Feiergesicht
sangen: „Jesus meine Zuversicht",
und die Kinder klagten, das Herze schwer:
„He is dod nu. Wer giwt uns nu ´ne Beer?"

So klagten die Kinder. Das war nicht recht,
ach, sie kannten den alten Ribbeckchlecht.
Der neue freilich, der knausert und spart,
hält Park und Birnbaum streng verwahrt;
aber der alte, vorahnend schon
und voll Mißtrauen gegen den eignen Sohn,
der wußte genau, was er damals tat,
als um eine Birn´ ins Grab er bat.

Und im dritten Jahr, aus dem stillen Haus,
ein Birnbaumsprößling sproßt heraus.
Und die Jahre gehen wohl auf und ab,l
ängst wölbt sich ein Birnbaum über dem Grab,
und in der goldenen Herbsteszeit
leuchtets wieder weit und breit.
Und kommt ein Jung´ über den Kirchhof her,
so flüstert´s im Baume: „Wiste ´ne Beer ?"
und kommt ein Mädel, so flüstert´s: „Lütt Dirn,
kumm man röwer, ick geb´di ´ne Birn."
So spendet Segen noch immer die Hand
des von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland.

3/20 Karl Friedrich Bömbös 1857 - 1901 >>> 3/21 Ernestine Louise Caroline Emilie Schulz 1851 - 1902

Die viel Geliebte: Ernestine Bömbös

Nach dem Gesinde-Dienstbuch war Ernestine Bömbös von kräftiger Statur, hatte hellgraue Augen und blonde Haare. Ihre familiären Beziehungen geben Anlaß zu Verwirrung. Zunächst war sie mit Robert Schöne verheiratet. Während dieser Ehe kam ihre Tochter Anna zur Welt. Familienstammbuch Fenske und Taufschein geben Schöne als Vater an. Die Geburtsurkunde läßt dies offen. Die Konfirmationsbescheinigung spricht von unehelicher Geburt. Anna hat darüber ungern gesprochen und die uneheliche Geburt als Schande empfunden. Ob Friedrich Bömbös der Vater ist oder ein anderer, ist ungewiß. Als ehelich anerkannt wurde sie jedenfalls nicht. Tochter Frieda wurde 1885 geboren. Dabei wurde Schöne als Vater angegeben. Die Heirat mit Friedrich Bömbös erfolgte im Jahre 1886.

Nach den Eintragungen im Dienstbuch war Ernestine beschäftigt als:

1.10.1870 - 1.10.1871 Hausmädchen bei Gutsbesitzer Diezelski in Wollin, Abschied veränderungshalber, durch Fleiß und Ehrlichkeit volle Zufriedenheit des Arbeitgebers erworben

1.4.1872 - 1.10.1873 Hausmädchen bei Dr. Wolter in Penkun, Abschied veränderungshalber, durch Fleiß und Betragen stets zufriedengestellt

2.10.1873 - 2.10.1876 Haus- und Küchenmädchen bei Pastor Mampe in Penkun, wegen ihrer Verheiratung ungern entlassen, weil sie allen Ansprüchen sorgfältig nachkam und sich immer zur vollsten Zufriedenheit geführt hat. (1. Ehe am 23.10.76 d. Verf.)

13.7.1877 - 13.7.1878 Küchenmädchen bei Landschaftsmaler Wilberg in Berlin, ausgeschieden, weil sie sich verheiraten will, Leistungen und Betragen zur Zufriedenheit

15.8.1878 - 6.10.1878 Hausmädchen bei Friedmann in Berlin, Ritterstraße 86, hat sich heimlich ohne jede Veranlassung entfernt.

7.101878 - 1.2.1879 Köchin bei Oberbürgermeister Sczepansky in Berlin, Kurfürstendamm 4, schließt sich den drei ersten Zeugnissen an, Ausscheiden weil sein Gesundheitszustand eine schon erfahrenere Köchin nötig macht

1879 - 2.10.1880 Köchin bei Joseph Meyer in Berlin, Oberwallstraße 20a, Ausscheiden, weil Domizil verlegt, zur vollkommenen Zufriedenheit gearbeitet. (Umzug nach Kartzow? d. Verf.)

1.10.1880 - 1.10.1881 Köchin bei Kaufmann Adolf Strien in Berlin, Scharrnstraße 1, Ausscheiden wegen des Todes der Schwägerin; will ihrem Bruder die Wirtschaft führen, willig und fleißig, Betragen zur größten Zufriedenheit..

3/21 Ernestine Louise Caroline Emilie Schulz 1851 - 1902 >>> 3/20 Karl Friedrich Bömbös 1857 - 1901

Arbeiter am Wedding: Karl Bömbös

Karl war ein schlanker und trotzdem kräftiger, groß gewachsener (um 1,85 m) Mann. Auf den wenigen Bildern mit ihm läßt die straffe Haltung bis ins Alter die Schule des Militärs erkennen. Auch rührte hier seine Ordnungsliebe her. In seiner Jugend war er sehr sportlich gewesen. Bei dem alljährlichen Tauchwettbewerb der Potsdamer Garnison hatte er beim Sprung von der „Langen Brücke" mit einmaligem Tauchen sieben Teller aus der Havel geholt, eine Spitzenleistung. Auch soll er einmal bei einem Radrennen Berlin-Greifswald einen der vordersten Plätze belegt haben. Jedenfalls stand noch Ende der vierziger Jahre in der großelterlichen Wohnung ein großer Siegespreis auf dem Vertiko. Bis in das Alter war er ohne sein sportliches Fahrrad, mit dem er auch zur Arbeit fuhr, nicht zu denken.

Er hatte beim 1. Garde-Regiment zu Fuß in Potsdam gedient und wohl auch den 1. Weltkrieg mitgemacht. Stolz war er darauf, Flügelmann der 2. Kompanie, also der längste dort, gewesen zu sein. Das 1. Garde-Regiment war ja eine der Elite-Einheiten der preußischen Armee. Es war 1673 beim Einfall der Schweden zunächst von den Landständen der Kurmark errichtet worden. 1713 hatte es Friedrich Wilhelm I. zu seinem Leib-Regiment („die langen Kerls") gemacht. Seit 1802 war es das Gardegrenadierbataillon. 1808 wurde daraus das 1. Garde-Regiment zu Fuß.

Der 1. Weltkrieg hatte für das Regiment mit einem Feldgottesdienst unter Teilnahme des Kaisers am 9. August 1914 im Lustgarten begonnen. An dem Gottesdienst hatten außer dem 1. Garde-Regiment das 1.Garde-Reserve-Regiment, die 1. und 2. Ersatzkompanie, weitere Ersatzbalaillone und Rekrutendepots sowie die Vereine ehemaliger Kameraden, insgesamt 7.000 Mann, teilgenommen. Das Regiment bestand aus zwei Bataillonen Grenadiere mit je vier Kompanien, einem Bataillon Füsiliere mit vier Kompanien und einer Maschinengewehr-Abteilung. Die Kompanie 1 im I. Bataillon war die Leibkompanie, die in Friedenszeiten zu Wachdiensten herangezogen wurde. Am Kriegsende wurde festgestellt, daß 124 Offiziere, 418 Unteroffiziere und 3208 Grenadiere und Füsiliere ihren Einsatz mit dem Tode bezahlt hatten. Es ist das so ungefähr die normale Stärke dieses Regiments gewesen. Was war aus den Langen Kerls geworden. Im Frieden bei Paraden noch in der Prunkuniform mit der hohen Grenadiermütze. Die Uniform des Regiments sah so aus: dunkelblauer Rock mit eckigen roten Kragen, rote Biese vorn herunter und an den Taschenleisten, acht weiße Knöpfe vorn und sechs hinten, je ein kleinerer mit der Kompanie-Nummer, schwarzblaue Hose mit roten Biesen, im Sommer weiße Leinenhose, grauer Mantel mit weißen Achselklappen, Helm aus schwarzlackiertem Leder mit weißem Gardeadler und Knobelbecher. In den Krieg gezogen noch mit blinkendem Helm und dem Adler drauf, aber in feldgrau. Im September 1918 an der Marne auf einem Bild als Reste der 1. und 2. Kompanie noch etwa 40 Mann mit dem einfachen Stahlhelm, groß und klein durch einander, angeführt von zwei Feldwebeln. „Semper talis", auf deutsch „Immer so" (treu) war der Wahlspruch gewesen.

Im 1. Weltkrieg kämpfte es zunächst im Westen (1914: Belgien, Frankreich - Namur, St. Quentin, Reims, Arras, Ypern u.a.), dann im Osten (1915: Tarnow, am San, an der Wolica, am Bug u.a.), ab September 1915 wieder im Westen (Somme, Argonnen u.a.) Juli bis Oktober 1917 im Osten (Tarnopol, Riga) und dann wieder im Westen (Reims, Marne, Argonnen, Maas). Einen guten Teil dieser Kämpfe könnte Karl mitgemacht haben. Was das hieß, wird an dem Lagebericht des Rittmeisters Graf zu Eulenburg-Gallingen vom 28.8.1918 deutlich: „Die Lage ist, das sollt ihr wissen, vergast, betrommelt und beschissen!".

Von Karl als Soldat existieren mehrere Bilder. Eines zeigt ihn feldmarschmäßig ausgestattet, mit einem wohl etwas älteren Kameraden, mit Tornister, Gewehr, Spaten, Patronentaschen am Gürtel und einer Schießschnur. Der Kamerad blickt über seinem Schnauzbart eher martialisch drein, Karl als Milchgesicht eher abwartend. Vielleicht war das Bild zum gleichen Zeitpunkt aufgenommen wie ein weiteres, ihn allein zeigend, deutlicher vor einer Kulisse mit einer Landschaft, und auch das Seitengewehr zeigend. Aufgenommen bei Emil Schröter, Inhaber S. Krüger in Potsdam, Schloßstr. 1-3-. Ein früheres Bild, wohl aus der Zeit seines Militärdienstes, zeigt ihn sitzend in Ausgehuniform. Er ist deutlich jünger. Die Aufnahme ist von Carl Schatzmann, Potsdam Yorckstr.43. Zwei Bilder zeigen ihn in der Kleidung eines Verwundeten im Lazarett. Auf dem einen Bild ist er bei einem Spaziergang mit einem Zivilisten in einem Wald oder Park zu sehen. Er hat recht eingefallene Backen. Ein zweites Bild zeigt ihn zusammen mit anderen Verwundeten im „Reserve-Lazarett-Gesellschaftshaus" in Schwedt 1915. Hier macht er einen besseren Eindruck, die Backen sind etwas runder. Beide Originale befinden sich bei Christian Bömbös. Ich habe Kopien und habe mir von letzterem Bild, einer Feldpostkarte an Alfred Fenske vom 23.5.1915, notiert: „Lieber Schwager und Schwester. Es geht mir bedeutend besser. Viele Grüße an Dich und Anni, Deine Eltern und Hans sendet Karl". Zwei Dinge habe ich auch noch in Erinnerung. Zu meiner Kinderzeit besaß Charlotte noch eine rolle Birkenrinde mit einem darauf geschriebenen Text, eine Gruß ihres Vaters von der Ost-Front. Und ich meine, eine Karte gesehen zu haben, die Karl 14 Tage vor der zuvor genannten geschrieben hat, zu einem Zeitpunkt, da es ihm noch schlechter ging.

Als Hintergrund ist zu bedenken, daß das 1. Garde-Regiment zu Fuß vom 11.8.1914 an zunächst in Belgien und Frankreich eingesetzt war. Vom 17. - 21. 4. 1915 wurde es nach Osten verlegt und wurde ab 1.5.1915 in Galizien eingesetzt. Militärisch war die Lage so, daß die Front im Westen schon zum Stillstand gekommen war, daß die russsichen Truppen in Ostpreußen zurückgeschlagen worden waren, daß sie aber im Süden gegen die österreichischen Truppen große Geländegewinne erzielt, am 22.3. sogar die Festung Przemysl erobert hatten und nun nicht weit von Krakau entfernt waren. Also wurden zur Verstärkung deutsche Truppen in diese Gegend verlegt. Am 17. April erhielt das 1. Bataillon für drei Tage Proviant und Ration und wurde in Barr im Elsaß verladen. Die Soldaten waren froh, aus Frankreich abgezogen zu werden und gegen die Russen kämpfen zu dürfen. Die Fahrt ging über Worms, Frankfurt a.M., Bebra, Leipzig, Torgau, Cottbus, Guben nach Posen. Alle dachten, es würde nach Ostpreußen gehen. Dann machte der Transport auf Befehl der Obersten Heeresleitung kehrt. Über Breslau, Oppeln, Beuthen, Krakau ging es nach Südosten bis Bochnia, etwa 25 Kilometer südöstlich von Krakau gelegen. Bochnia wurde am späten Abend des 21. April erreicht. Noch in der Nacht wurde weitermarschiert, in 19 Stunden 50 Kilometer auf gebirgigen und schlechten Straßen. Der Regimentsgeschichte zu Folge soll das eine Wohltat für die nach langer Bahnfahrt steifen Beine gewesen sein. Allerdings wird auch von Fußkranken gesprochen. In regelmäßiger Abwechslung von Kämpfen und Märschen ging es über Dunajek, Bialla, Wisloka und Wislok (alles Flüsse) weiter nach Osten durch das Vorgebirge der Karpaten in Richtung Przemysl. Am 1. Mai war man an der Bialla, am 11. Mai hat man das brennende Rzezow unter sich liegen.

Nach dem zuvor beschriebenen vermute ich, daß Karl Anfang Mai in der beschriebenen Gegend so schwer verwundet wurde, daß er ins Lazarett heim ins Reich transportiert wurde. Jedenfalls läßt sich für diesen Zeitraum eingermaßen sicher nachweisen, daß er dabei gewesen ist. Für die Zeit vorher und nachher fehlen jegliche Hinweise. Es sei denn, man interpretiert die Birkenrinde als Brief vom Sommer 1917, als das Regiment wieder im Osten und nun in Ost-Galizien gewesen ist. Und man interpretiert das Geburtsdatum seiner Tochter Ella, den 26.12.1915 so, daß er um den 1. März 1915 Kontakt mit seiner Frau gehabt haben muß.

Nach einer Notiz von Alfred Fenske war er allerdings im September 1915 Gefreiter in der 11. Kompanie des Grenadier Regiments 9 in der 3. Garde-Infanterie-Division bei der Kaiserlichen Deutschen Süd-Armee. Es stellt sich also die Frage, wie die Familienerinnerung vom 1. Garderegiment hiermit zusammen paßt. Eine abschließende Klärung ist nicht möglich. Wegen der schönen Geschichte gehe ich davon aus, daß er zunächst im 1. Garderegiment und nach seiner Verwundung im Grenadier-Regiment 9 gewesen ist.

An Erzählungen aus dem Krieg kann ich mich nicht erinnern. Wohl aber an seine Schilderung vom Kaisermanöver. Wie sie schon in aller Frühe in Paradeuniform auf ihren Platz mußten. Den durften sie bis zur Ankunft des Kaisers am späten Vormittag nicht verlassen, ganz gleich, ob die Sonne brannte oder es regnete, oder gar einer einmal austreten mußte. Da sind dann nicht wenige ohnmächtig geworden. Und die schönen weißen Hosen sahen, als es darauf ankam, gar nicht mehr weiß aus. Das erzählte er beispielsweise, als er in Wilhelmshorst renovierte. Er strich die Wände mit einer Grundfarbe an und legte darauf andersfarbig ein Muster mit einer speziellen Farbrolle. Wichtig war auch der Abschluß oben mit einem etwas breiteren farbigen Streifen. Mit dieser Tapetenimitation gestaltete man Wände in einfachen Verhältnissen, wenn das Geld für eine Tapete fehlte. Ich fand das faszinierend, saß auf meiner Fußbank daneben und beobachtete alles. Natürlich hatte ich auch einen Helm aus gefaltetem Zeitungspapier auf dem Kopf. Mein Papphelm und das Pappschwert bekamen bei dieser Gelegenheit einen silbernen Anstrich. Karl erzählte und konnte vor allem mit aufgeblasenen Backen Töne von sich geben. So schön, daß man als Kind meinte, eine richtige Trompete zu hören. Dabei schöpfte er dann aus einem umfangreichen Repertoire von Militärmärschen.

Die Großeltern lebten lange Jahre in einer Eineinhalb-Zimmer-Wohnung, in die nie ein Sonnenstrahl fiel. Und hier spielte sich dann der triste Alltag ab, aus dem die Soldaten-Erinnerungen nur kurze Ausflüge waren. Als ungelernter Anstreicher (wegen des frühen Todes seiner Eltern hatte er keine Lehre abschließen können) verdiente er wenig, in der Zeit der Wirtschaftskrisen auch nichts. Außerdem war er Alkoholiker und versoff das wenige Verdiente, wenn Agnes ihn nicht nach der Auszahlung des Lohnes abfing, bevor er die Kneipe erreichte. So war „Sparhans Küchenmeister" und die Oma hatte es sehr, sehr schwer.Mit den vielen Kindern hatte es früher auch eine qualvolle Enge gegeben. So war Charlotte bei Onkel und Tante in Lichterfelde aufgewachsen.Wenn später Geburtstage oder andere Familienfeste gefeiert wurden fehlte auch Platz. Ich nahm mir deshalb immer ein Buch mit und verkroch mich nach dem Kaffeetrinken zur Hälfte unter dem Sofa. So verbrachte ich die Zeit mit Lesen.

In den Kinderjahren war der Besuch bei Karl und Agnes immer ein Abenteuer. Von Wilhelmshorst ging es mit dem Dampfzug nach Wannsee. Aber natürlich begann dort in Wannsee erst die größere Strecke durch die große Stadt Berlin, zunächst durch Villenvororte, später unter der Erde und schließlich, wenn es zu den Großeltern Bömbös ging, wieder oberirdisch. Das war dann am S-Bahnhof Bornholmer Straße. Man mußte eine lange Treppe hoch, denn der Ausgang lag im Scheitelpunkt einer langen Brücke über das breite Bahngelände. Von da oben einen langen Berg hinunter, noch um zwei Ecken, und dann war man in der Soldiner Straße. Die Nummer 110 war unser Ziel. Die Großeltern wohnten in einer Straße ohne Bäume, gesäumt von vierstöckigen Mietskasernen mit Vorderhaus, durch das man in einer Durchfahrt den engen Hof betrat. Dort lagen die Hinterhäuser mit je einem Aufgang rechts und links. Vor dem Haus und in der Einfahrt spielten immer Kinder. Überall roch es nach irgendeinem Essen. Als ich größer war, fiel mir auch die Musik auf, die laut aus offenen Fenstern klang. Lieblingsmelodie der Bewohner waren offenbar die Capri-Fischer. Rechts, im ersten Stock rechts wohnten die Großeltern in einer kleinen Wohnung, in die nie ein Sonnenstrahl fiel. Sie bestand aus einem Flur, an dem wieder rechts die kleine Küche mit Herd, Spühle und Vorratsschrank lag; es folgte ein Toilettenraum mit einem freistehenden WC, aber ohne Waschbecken und ohne Badewanne; dann eine kleine Kammer und ein großes Zimmer. Die Toilette war besonderer Komfort, denn in der Gegend standen Häuser, in denen sich jeweils mehrere Parteien eine Toilette im Treppenhaus auf halber Treppe teilten. Waschen tat man sich in der Küche. Hier wohnten die Großeltern seit den zwanziger Jahren, als sie sich von der Ackerstraße hierher verbessert hatten. Hier zogen sie sechs ihrer sieben Kinder groß. Von diesen ersten Besuchen habe ich kaum Erinnerungen an die Großeltern selbst. Es sei denn ... Etwas beschwerlich war sein Drang zu Ordnung und Pünktlichkeit. Bei jedem Besuch spielte sich mit Karl Bömbös ein seltsames Ritual ab. Er war ein ordentlicher und pünktlicher Mensch. Auf dem Heimweg von der Arbeit zog er sich immer ordentlich an, denn niemand mußte ihm ansehen, welche schwere Schmutzarbeit er als Arbeiter in einer Waggonfabrik beim Lackieren von Eisenbahnteilen tat. Ordnung hieß aber auch, daß man nicht mit ungeputzten Schuhen das Haus verließ. So mußten wir uns jedes Mal vor dem Nachhauseweg von ihm die Schuhe putzen lassen, ganz gleich, ob sie schmutzig oder sauber waren. Pünktlichkeit hieß, daß er genau wußte, wie viele Minuten man von der Wohnung bis zur S-Bahn benötigte. Mit der Uhr in der Hand ließ er uns erst gehen, wenn er es für richtig hielt. Nur, daß unsere Kinderbeine nicht so schnell waren wie seine, das berücksichtigte er nicht. Also gab es jedes Mal eine Rennerei auf dem zuvor beschriebenen Weg zurück; denn wir mußten diese S-Bahn kriegen, weil sonst der Vorortzug in Wannsee weggewesen wäre. Oft war es dann schon dunkel auf der letzten Fahrstrecke. Damit wir zu Hause schnell ins Bett kamen, hatte Charlotte unser Abendbrot dabei. Das schmeckte im Zug viel besser als zu Hause, allerdings vor allem, wenn es unseren Lieblingsaufstrich gab, für Isolde Leberwurst und für mich grobe Mettwurst.

Im Oktober 1948 starb Großvater Karl Bömbös. Er war einige Zeit krank gewesen. Ich sehe noch den schwachen Mann in der Küche in der Soldiner Straße zwischen Küchenherd und Küchentisch kraftlos sitzen. Dabei war er einmal so stark gewesen. Kein Muskeltyp, sondern schlank und groß und trotzdem mit Kraft ausgestattet. So, daß er sich ein Zubrot als Träger bei Umzügen verdiente. Und da soll es auch passiert sein. Mit zwei anderen trug er ein Klavier auf einer Treppe hinunter. Die beiden anderen oben, er, der Starke, unten. Dann haben die beiden oder doch einer los gelassen und er hatte das ganze Gewicht zu halten. Einen Leberriß soll er sich dabei zugezogen haben, aus dem dann ein Leber-Tumor geworden sei. So wurde es jedenfalls in der Familie erzählt. Die Plausibilität der Geschichte ist gering. Eher würde umgekehrt ein Reim draus. Im Übermaß hatte er Jahrzehnte dem Alkohol zugesprochen. Daß im Dritten Reich der Alkoholgehalt des Bieres reduziert worden war und härtere Sachen teuer waren, soll ihm gesundheitlich gut getan haben. Aber hatte nicht vielleicht der Alkohol zum Leberschaden, zum Tumor geführt und war nicht vielleicht der Tumor durch den Unfall und die dadurch verursachte Verletzung erst erkannt worden? Jedenfalls erzählte er bei einem Besuch, daß er das Gefühl habe, in seinem Inneren, da bei der Leber, klappe immer etwas hin und her, wenn er sich bewege. Und eines Tages, als ich von der Schule nachmittags nach Hause kam, saß in der Küche in der Markelstraße eine weinende Käthe und hatte gerade die Nachricht von seinem Tode überbracht. Vor der gewünschten Beerdigung standen noch Hürden.. Die Großeltern Bömbös waren aus der Kirche ausgetreten, aber eine kirchliche Trauerfeier und die Beerdigung auf dem nahen kirchlichen Friedhof sollten es sein. Nach seinem Tode gewann Fritz Telschow den evangelischen Gemeindepfarrer, trotzdem eine kirchliche Beerdigung auf dem Friedhof in der Soldiner Straße, unweit der großelterlichen Wohnung,vorzunehmen. Seine Söhne sahen sich vorher noch die Leiche genauer an und stellten fest, daß sie sehr zerschnitten war, wohl ein Ergebnis der Obdurktion. Ich wurde am Grab ohnmächtig.

4/10 Hermann Fritz Karl Bömbös 1888 - 1948 >>> 4/11 Agnes Anna Schlaffke 1887 - 1973

Die Edelkomministin: Agnes Bömbös,

Agnes war eine kleine Frau mit flinken Augen, die immer stolz darauf war, daß sie sich nicht so schnell einschüchtern ließ; weder als Schwesternhelferin, als sich andere als Gespenst verkleideten, um sie zu erschrecken, noch vom katholischen Pfarrer, der sie wieder in die Kirche zurückholen wollte. In schwierigsten Verhältnissen hatte sie ihre Kinder groß gezogen und sie etwas werden lassen. Auch darauf war sie stolz, vor allem gegenüber Leuten (etwa im Altenheim), denen es zwar wirtschaftlich besser ging, die aber keine Kinder hatten und vielleicht auch im Alter allein waren. In ihren politischen Auffassungen war sie viele Jahre Kommunistin gewesen; „Edelkommunistin" sagte man damals, wenn man jemanden trotz seiner politischen Haltung menschlich schätzte und ihm zugestand, daß er aus Idealismus Kommunist sei und nur das Beste wollte. Doch worauf konnte man denn seine Hoffnung setzen, am Gesundbrunnen, dem Arbeiterviertel, in der viel zu engen Hinterhofwohnung, mit den vielen Kindern und dem Mann, der das wenige, das er verdiente, noch in die Kneipe trug? Auf die Kirche etwa, die es doch mehr mit den Mächtigen und nach 1918 mehr mit den Mächtigen des vergangenen Systems hielt ? Lag es da nicht nahe, sich die bessere Welt und die Besserung der eigenen Lebensverhältnisse von den Kommunisten zu erwarten, die doch dafür kämpften und „wissenschaftlich begründet" wußten, daß sie am Ende siegen würden ? Nun, auch Agnes war letztlich von ihnen enttäuscht, vor allem nach dem Ende des 2. Weltkriegs mit all den Schrecken, die die russische Besetzung brachte. Aus ihrem Munde habe ich noch einen Vers in Erinnerung, der wohl von belgischen Widerstandskämpfern im 1. Weltkrieg stammte: „Ich glaube, ich glaube, da oben fliegt ne Taube. Sie kommt aus einem deutschen Nest, wenn sie man bloß nichts fallen läßt." Eine Anspielung auf deutsche Flugzeuge und die Bombenabwürfe.

Später war die Bild-Zeitung ihre Leib- und Magenlektüre. Wann immer sie uns besuchte, gab das Gesprächsstoff. Je unwahrscheinlicher die Geschichten waren, desto mehr regten sie ihre Fantasie an. Uns Enkeln war sie immer die liebevolle Großmutter, die mit ihren bescheidenen Mitteln gerne eine Freude machte. So schenkte sie mir zum 1. Staatsexamen meinen ersten Elektrorasierer; ein Geschenk, das angesichts ihrer bescheidenen Rente weit über das hinaus ging, was andere vielleicht bei solcher Gelegenheit geschenkt hätten. In den letzten Jahren lebte sie zunächst bei ihrem Sohn Fritz in Rudow, in einem kleinen Anbau an dessen Häuschen. Ich erinnere mich noch an ein Eisbeinessen bei ihr mit meinen drei Onkels, ihren Söhnen. Der Teller faßte kaum das große und fette Eisbein, die Kartoffeln, das Sauerkraut und das Erbspürree; richtiges Berliner Eisbein, wie man es damals liebte. Auch Bier und Schnaps halfen kaum zur Verdauung. Wir mußten erst einmal einen Spaziergang machen. Nach der Scheidung von Fritz zog sie in eine kleine, helle Souterrainwohnung ebenfalls in Rudow und schließlich in eine Altersheim in der Nähe. Hier hatte sie kurz vor ihrem Tod einen großen Auftritt. Am 17. Juni 1973 zum 60. Geburtstag meiner Mutter Charlotte, ihrer ältesten Tochter, waren wir und Benkendorffs mit allen Kindern angereist. Als wir die Oma in die Geisenheimer Straße zum Feiern holen wollten, mußten wir das mit allen Kindern tun. Wir fuhren vormittags zum Altersheim, einem großen Neubau, suchten die Oma in ihrem Zimmer auf, und dann begann sie, die Prozession. Mit erhobenem Haupt zeigte Agnes ihren Mitbewohnern und -innen ihre sieben Urenkel. Wir gingen durch den langen Flur zum Ausgang, alle Türen öffneten sich, und Agnes schwebte geradezu vor der Enkelschar her. Ihr Reichtum waren ihre Kinder, Enkel und Urenkel.

In meiner Kinderzeit erzählte sie auch manchmal von ihrem „zweiten Gesicht". Sie meinte, verschiedentlich in ihrem Leben, einschneidende Ereignisse „gesehen" zu haben, bevor sie davon erfuhr. So erinnere ich mich, daß sie erzählte, sie habe im Krieg eines Nachts im Traum ihren Sohn Georg schwer verwundet auf einem Militärfahrzeug liegen gesehen. Später erst habe sie erfahren, daß er genau an jenem Tage schwer verwundet worden sei.

Agnes war aus der katholischen Kirche ausgetreten. Einen katholischen Pfarrer, der sie später einmal aufsuchte und zum Rücktritt bewegen wollte, soll sie nach eigenen Erzählungen zur Tür hinausgewisen haben. Die Beerdigung auf dem Friedhof in der Spandauer Straße war etwas makaber. Ein Redner hielt eine Ansprache, die ihn nicht gerade als Intelligenzbestie auswies. Die Totengräber waren im Verkehr hängen geblieben und kamen mit viel Verspätung. So hatte ich schon angefangen, herum zu fragen, ob wir sie nicht selbst zum Grabe tragen, als die Totengräber dann doch noch kamen und ihres Amtes walteten.

4/11 Agnes Anna Schlafke 1887 - 1973 >>> 4/10 Hermann Fritz Karl Bömbös

"Tante Änne": Anna Fenske

„Tante" oder „Tante Änne" war mit ihren Geschwistern früh Waise geworden. Sie lernte Verkäuferin und arbeitete bis zu ihrer Hochzeit in Berlin bei Wertheim in der Stoffabteilung. Noch als sie schon alt war, gab es für sie nichts Schöneres als in der Steglitzer Schloßstrasse, in dem kleinen Neubau von Wertheim nach der Zerstörung in der Leipziger Straße, zu bummeln. Trotz ihrer starken Gehbeschwerden hielt sie dann länger aus als mancher Gesunde. Als es den Eheleuten noch gut ging, hatte sie gerne mitgefeiert, auch oder vielleicht gerade, weil ihr Mann dabei gerne eigene Wege ging. Später hatte sie sparsam zu wirtschaften und den (zeitweise die) Garten (Gärten) zu versorgen. Während er sich, schweigsam wie er war, mit der Gegenwart abfand, schwelgte sie immer noch in Erinnerungen an die gute alte Zeit. Sie hörte gern Hörspiele und Opernübertragungen, puzzelte, häkelte und strickte und spielte leidenschaftlich gern Rommé . Aus ihrer langgestreckten, kalten und dunklen Küche ist mir noch ein Wandteller mit der sinnigen Inschrift „Setz die über alles weg, freu dich über jeden Dreck" in Erinnerung. Dort zeichnete sie auch, wenn sie ein neues Brot anschnitt, mit dem Messer drei Kreuze auf die Unterseite. Und gerne pflegte sie bei Lärm zu sagen: „Hier ist es ja laut wie in einer Judenschule". Das Verhältnis zu ihrem Mann war spannungsgeladen. Angefangen hatte es wohl damit, daß er sehr kinderlieb war und sie, wie man sagte wegen ihrer Figur, keine Kinder wollte. Später hatte sie weder Kinder noch Figur. Hin und wieder stichelte er und sie biß sofort an; etwa, wenn er Niveau-Creme oder Kowbi (Cowboy) sagte. Sie war schon eine schwierige Frau, die ihre Launen auch gerne an anderen ausließ. Mich mochte sie. Und insgesamt ist doch unsere Kindheit auch nicht vorstellbar ohne diese „dritten Großeltern" und ihre (komplizierte ) Liebe zu uns.

4 Anna Emilie Schöne 1882 -1968 >>> 4 Heinrich Alfred Fenske 1878 - 1971

Architekt und Künstler: Alfred Fenske

„Onkel" oder „Oo" oder „Oochen", wie er genannt wurde, war im alten Berlin, in der Zimmerstraße, aufgewachsen; nicht in Armut, aber doch in bescheidenen Verhältnissen, wenn man es mit heutigen Maßstäben mißt. In der elterlichen Wohnung befand sich sein Bett im Flur auf einem Hängeboden und wurde am Tag an Seilen bis an die Decke hochgezogen. Nachts hing das ganze aber auch noch in luftiger Höhe. Auch Unterwäsche besaß man beispielsweise als Junge oder junger Mann nicht. Da wurde das lange (Ober)hemd einfach um die Oberschenkel gelegt und tat für eine Woche seinen doppelten Dienst. Wichtig waren dem Jungen der CVJM und der Turnverein. Später besaß er eins der ersten in Berlin zugelassenen Motorräder (das zweite ?).

Sein Werdegang zum Innenarchitekten ergibt sich aus den folgenden Daten:

25.3.1893 Abschlußzeugnis der 44. Gemeindeschule in Berlin

12.1.1898 Gesellenzeugnis zum Abschluß der Tischlerlehre am 14.1.1898

Winter 1901/02, 1903/04, 1904/5 und Schuljahre 1905/06 und 1906/07 Besuch der Unterrichtsanstalt des Königlichen Kunstgewerbe-Museums in Berlin; Fachklasse architektonisches Zeichnen, Prof. Rieth; Pflanzenzeichnen

1906 Stipendiat der Städtischen Zusatzstiftung zur Friedrich-Wilhelm-Stiftung

1.4.1907 Stipendiat dßer Königlichen Staatsregierung

bei Wettarbeiten ein 1., vier 2. Preise und zwei lobende Erwähnungen

18.11.1907 Abgangszeugnis.

Nach seiner Ausbildung bildete er sich bei einem einjährigen Studienaufenthalt in Finnland fort. Dann arbeitete er sehr erfolgreich als Innenarchitekt und lebte in Saus und Braus. Nach dem 1. Weltkrieg hielt der Wohlstand noch eine Weile an. Dann trennte er sich von seinem Partner, der bis dahin das Geschäftliche erledigt hatte, weil er meinte, ihm als dem Künstler gebühre ein größerer Teil der Gewinne. Aber er war kein Geschäftsmann und, verstärkt noch durch die Wirtschaftskrisen der zwanziger und dreißiger Jahre, ging es nun geschäftlich bergab. Er wurde arbeitslos und brachte sich kümmerlich durch, u.a. auch als Nachtwächter. Aus dieser Zeit stammte noch ein Gewehr, das er leicht- und eigensinnig wie er war, auch während der Kriegs- und Nachkriegszeit aufbewahrte, bis die Eltern es schließlich bei Dunkelheit in den Teltow-Kanal warfen. Wie der stark kurzsichtige Mann damit allerdings je hätte schießen wollen oder können, ist nicht klar. Während des Dritten Reiches arbeitete er noch einige Jahre für das Luftfahrtministerium und war dabei auch längere Zeit in Prenzlau. Das recht kümmerliche Rentnerdasein verbrachte er braun gebrannt und mit nacktem Oberkörper in seinem Garten (im Sommer und ohne Gartenarbeiten zu machen) oder zeichnend und malend (im Winter) in der kleinen Diele, dem einzigen heizbaren Raum in dem ihm gehörenden Haus und dem von ihm bewohnten Erdgeschoß in Berlin-Lichterfelde-Süd, Steinmetzstraße 5. Mit regelmäßiger Morgengymnastik und einem täglichen Spaziergang von zwei Stunden in den frühen Abendstunden hielt er sich fit. Obwohl er gerne und zuzeiten viel rauchte, erreichte er so ein hohes Alter. In den ersten Jahren nach dem Krieg huldigte er noch gerne seiner Aquarellmalerei. Schon immer hatte er gerne gezeichnet. Skizzenbücher von seinem Kriegsdienst existieren noch. Dann hatte er immer wieder zum Teil recht schöne Bilder von Reisen mitgebracht oder nach Reisen gemalt. Nun aber verarbeitete er den Verlust des alten Berlin auf seine Weise. Nach alten Bildbänden entstand eine Reihe von Bildern mit Altberliner Motiven; nicht mehr so detailfreudig, nicht mehr so farbenfreudig wie früher anderes. Geradezu aber auch ein Abbild seines Seelenzustandes. Reden tat er darüber nicht, der alte Schweiger.

Die bemerkenswerte militärische Laufbahn dieses kleinen und stark kurzsichtigen Mannes sah so aus:

25.2.1908 Landsturm ersten Aufgebots mit der Waffe

13.7.1915 Armierungssoldat, Armierungsbataillon Nr.42, 1. Kompanie (22.7.1915)

27.8.- 26.9.1915 Lazarett Gelnhausen (Ruhr, Leistenbruch)

1.10.1915 - 2.3.1916 Cüstrin, Genesendenkompanie des III. Armeekorps Neudamm

2.3.1916 entlassen.

Erinnern tun uns an diese Zeit noch die Skizzenbücher aus Feld und Lazarett.

Alfred war der Berliner Künstlerszene sehr verbunden. Aus der Jugendzeit rührte noch eine Freundschaft zur Familie Rieck her. „Riecks Mädchen" waren zwei Schwestern, mit denen man auch noch nach dem 2. Weltkrieg Kontakt hatte. Deren Bruder Arnold Rieck war vor dem 1. Weltkrieg in Berlin ein Operettenstar, der vor allem als Puppchen in der gleichnamigen Operette mit dem Schlager „Puppchen, du bist mein Augenstern", große Erfolge feierte.

Zu Arnold Rieck finden wir in der Berlin-Literatur folgendes:

„Dem heiteren Genre haben sich eine Vielzahl der Berliner Bühnen verschrieben. „Französische Auskleideschwänke, sehr hübsch verkörpert, hatten ihre Heimstatt im Residenz- und im Trianon-Theater, hausbackene deutsche Lustspiele im Lustspielhaus, neuberlinische Possen im Thalia-Theater, jüdische Jargonspäße in den Folies Caprices und bei den Gebrüdern Herrnfeld. Wer die Revue begehrte, traf sie in der Behrenstrasse an, und der Liebhaber von Operetten wußte sich in der Kantstraße oder am Schiffbauerdamm bedient" (Graetzer, Theaterstadt Berlin).

Am erfolgreichsten von allen Operettenkomponisten ist aber Max Winterfeld, der sich das Pseudonym Jean Gilbert zulegt. Seine „Polnische Wirtschaft" wird im Thalia-Theater mehr als 1500mal aufgeführt. 1912 komponiert Gilbert das „Autoliebchen" („Ja, das haben die Mädchen so gerne") und das „Puppchen", das nicht etwa ein Mädchen, sondern der männliche Star des Ensembles ist" (Glatzer, Berliner Leben).

Am 20. Dezember 1912 berichtete die Vosssiche Zeitung:

„ Das Publikum, das sich - nach den stürmischen Beifallsäußerungen zu urteilen - köstlich amüsierte, war in der glücklichen Lage, den Text eines der Lieder geschlagene vier Mal mitzusingen, nachdem es ihn von der Bühne herab gehört und die vierfache Wiederholung der Melodie durch Händeklatschen und Fußgetrampel mit anerkennenswerter Ausdauer dem dirigierenden Komponisten abgenötigt hatte. Lorbeeren in Fülle, die nach dem zweiten Aktschluß auf die Bühne geschleppt wurden, vervollständigten das Bild des Theatererfolges. Was in dem Stück vorgeht, braucht man nicht zu erfahren ... Wer es nachzuerzählen vermag, verdient mindestens einen der vielen Lorbeerkränze. Der leitende Gedanke besteht darin, daß Herr Arnold Rieck zum Träger dieser Posse gemacht wurde. Das gibt ihr das Rückrat. Arnold Rieck ist eben das „Puppchen", unter welcher Kosebezeichnung er den verliebten Damen des Stückes vorteilhaft bekannt ist; ein Jüngling noch vor dem Bartflaum, ein schlimmer Kleiner von der gesegneten Körperlänge, mit der die Natur diesen ausgezeichneten Komiker bedacht hat ... Seine Hauptpartnerin ist Fräulein Della Donna, die sich im Ensemble des Thalia-Theaters bereits einen Namen als temparamentvolle Possen- oder Operettensoubrette gemacht hatte. Es steckt Vollblut in ihrem Spiel, Gesang und Tanz. Die neue Rolle gibt ihr Gelegenheit, ihr anmutige Gestalt in einer ganzen Reihe schöner Kleider zu zeigen. Ein Tanzduett von ihr mit Rieck: „Heut gehn wir gar nicht erst ins Bett", mußte wiederholt werden. Den größten Anklang unter den Liedern fand aber das Duett Riecks mit Fräulein Elsa Grünberg „Puppchen, du bist mein Augenstern!", das dreimal zur Wiederholung verlangt und dann, wie erwähnt, vom Publikum viermal nachgesungen wurde. Das wird nun wohl die Errungenschaft für den ganzen Winter werden. Kann man´s ändern?" (Glatzer, Berliner Leben).

Übrigens findet sich in meinem Besitz ein Postkarte, die Alfred Fenske am 30.12.1910 seiner späteren Frau Anna geschickt hat und die zwei Freunde mit unterschrieben haben, Paul Jessen und Carl Pfeiffer. Das umseitige Bild zeigt „Fräulein Ballot und Herrn Rieck"im Thalia-Theater bei der Aufführung der „Polnischen Wirtschaft" und dem Singen des Liedes „Und die Clarinette spielt: Dididi- da ..." Anna wohnte damals in der Wilhelmstraße 17.

Alfred war befreundet mit einer Reihe zeitgenössischer Maler. Seine gesellige Heimat fand er in der Künstlerklause St. Rochus, wo er Bruder Alfredo war, und in der „Brocken-Sylvester-Gemeinde". Von der Klause stammte auch der Freundeskreis der Fenskes. Mancher Name ist mir noch aus Kindheitstagen in Erinnerung: Fritz Preiss, Adolf Haferland, Hans Jost, Anton Fricke, die Witwe von Georg Fricke, Gustav Thümler-Walden, Richard Bläsing, Werner Habdank. An Onkels 75. Geburtstag kamen einige von ihnen noch zur Feier in die Steinmetzstraße 5. Und ich erinnere ich mich auch noch an Besuche bei „Anton" Fricke in der Lichterfelder Lindenstraße, und von Fritz Preiss, dem Maler.

Zum Freundes- und Bekanntenkreis gehörten folgende Künstler:

Max Friedrich Koch. * 24.11.1859 in Berlin + 1930 in Sacrow. Maler und Kunstgewerbler, 1875 Schüler an der Unterrichtsanstalt am Berliner Kunstgewerbemuseums (im Folgenden Kunstgewerbeschule), 1883-1924 Lehrer daselbst, Professor, Mitglied des Bundes Deutscher Dekorationsmaler und des Vereins Berliner Künstler, 1879 unter F. Thiersch dekorative Ausmalung der Oper Frankfurt a.M., 1881/82 Paris, Vereinigte Staatsschule für für freie und angewandte Kunst an der Kunstgewerbeschule, Zeus-Tempel in der Berliner Jubiläumsausstellung 1886 = Panorama von Pergamon, Dekorationsmaler: Preußisches Herrenhaus, Abgeordnetenhaus, Reichstag, Wertheim, Tietz, Vorhang Schiffbauerdamm-Theater u.a., viele Gemälde mit Motiven aus Potsdam und der Mark Brandenburg (s. dort Museen), Literatur: F. von Boetticher, Malerwerke des 19. Jh., 1895; Das geistige Berlin, 1897, Weizsäcker und Derref, Kunst und Künstler in Frankfurt a.M. im 19. Jh. Bd. II, 1909; Dreßlers Kunsthandbuch 1921; Westermanns Monatshefte 1918. Von ihm ist unser Bild „Potsdamer Kanal".

Fritz Preiss. Literatur: Die Bergstadt (Breslau) 1925, 1926/27, 1928/29; Westermanns Monatshefte 1924/25, 1927, 1928, 1929, 1930, 1937; Ostd. Monatshefte (Oldenburg) 1956; Der Türmer 1930/31; Zeichnungen in U. Muhs, Lichterfelde einst und jetzt. Von ihm sind unsere Bilder Portrait „Alfred Fenske" und „Italienische Landschaft".

Franz Becker-Tempelburg. * 28.6.1876 Tempelburg Krs. Neustettin, dann Berlin. Institut für Glasmalerei, Akademie Berlin, Glasmaler: Wertheim, Lettehaus, Marienkirche Stralsund, Caroluskirche Breslau, Wickendorf, Tilloritz, Wölsickendorf. Lit: Die christliche Kunst 1926/27, 1930731, 1931732; Unser Pommernland 13 (1928)152-155; Vollmer I. 1953; O. Gehrig. Die Brüder Becker. Von ihm ist unser Bild „Kate".

Adolf Haferland. * 5.5.1887 in Finsterwalde, Kunstgewerbeschule, Ausstellung 1921, Maler, Radierer und Grafiker; Berlin-Charlottenburg, Kaiser-Friedrich-Straße 70, Frau Annemarie, Lit: Dreßler, Der Kunstwanderer 1920/21, S. 297.

Karl Hachez. * 13.7.1880 Oldenburg i.O., Bildnismaler und Radierer, Kunstgewerbeschule.

Hans Klakow. * 3.7.1899 Berlin, Bildhauer, Brieselanger Forst, Akademie Charlottenburg, anfänglich Architekturplastik, Lit: Berliner Palette 21.1.1949, Deutsche Architekten 1954, 181.

Hermann Feuerhahn. * 20.5.1873 Hildesheim. Studium Berlin-Kunstgewerbeschule, Hannover, Breslau, dekorative Plastik: Staatsbibliothek, Deutsche Bank, Opernhaus, Hebbeltheater; Schmuck (Mensch, Arabeske) als Ausdruck tektonischer Kräfte. Lit: Dreßler. (August oder) Heinrich Klinke. * 5.3.1855, Bildhauer, Kunstgewerbeschule. Paul Boy * 27.2. 1887, Schriftsteller. Hans Jost * 23.11.1886, Glasmaler.Walter Fricke-Gottschild * 19.3.1900, Maler, Berlin-Wilmersdorf, Konstanzer Straße 51, Frau Martha. Gustav Thümler-Walden * 20.5.1884, Kammersänger. Robert Moebs * 11.1.1887, Metallbildhauer. Alex Müller, Metallbildhauer. Max Himmer, Musiker. August Kniefe, Professor. Karl Barthel, Maler. Georg Gerspacher, Bildhauer. F.W. Mayer, Maler. Daniel Schaub, Maler. Robert Spöry, Konzertsänger. Heinrich Jäger, Architekt. Karl Hermes, Architekt. Conrad Hänisch, Architekt. Wilhelm Güthlen, Architekt. Ernst Schneckenberg, Architekt. Theodor Böttcher, Architekt. Heinrich Lange, Architekt. Richard Bläsing, Architekt. Gerhardt Clauberg, Komponist. Karl Gollnitz, Maler.Georg Fricke, Maler. Franz von Holcky, Maler. Werner Habdank, Maler. Georg Wagenführ, Maler. Kurt Langerer, Sänger. Richard Kühn, Bildhauer.

Mit anderen feierte Alfred recht regelmäßig auf dem Brocken Silvester, zwischen 1912 und 1935 dreizehnmal. Anna war zwischen 1919 und 1935 dreimal dabei. Das Ganze begann und endete wohl mit Auf- und Abstieg zu Fuß. Zur Feier gehörte ein Umzug im Brockenhaus hinter dem voran getragenen, brennenden Christbaum. Dann folgte ein Sprung durch das Küchenfenster, danach Tanz und Essen. Dem Mitteilungsblatt der „Brocken-Sylvester-Gemeinde" ist zu entnehmen, daß „Anton" Fricke Anita Fricke war, die Frau von Georg Fricke. Sie wohnte in Berlin-Lichterfelde-Süd, Lindenstraße 26, Erdgeschoß. Georg Fricke muß ein großer Kakteenzüchter gewesen sein und starb am 3.4.1934. Herausragendes Mitglied war wohl Adolf Rettelbusch, Professor und Maler in Magdeburg, der „Brockenmaler" und Kriegsmaler, * 15.12.1858, + 8.1.1934. Von ihm wird folgendes zitiert: „Menschen wechseln, mit ihnen Empfindungen, aber die größte Lehrmeisterin, die erhabene Gottesnatur, bleibt ewig.". Zwei Postkarten mit Brockenbildern von ihm habe ich noch. Zur Brockensylvestergemeinde gehörte auch Adolf Haferland.

Alfred und Anna lebten in Lichterfelde-Süd, Steinmetzstraße 5. Dort hatte zunächst Großvater Fenske gewohnt. Er war von der Berliner Zimmerstraße nach hier gezogen, als sein Sohn so viel verdiente, daß er sich dieses Haus hatte kaufen können. Großvater Fenske hatte sich als Tischler auf das Anfertigen und Vergolden von Bilderrahmen spezialisiert. Das war in den Gründerjahren kein schlechtes Geschäft. Die Werkstatt lag im Souterrain. Wie in vielen Berliner Häusern jener Zeit war sie über eine Treppe direkt von der Straße zu erreichen. Hatte die Woche gute Geschäfte gebracht, bestellte Großvater Fenske am Freitag Abend eine Pferdedroschke, holte einen Freund ab und fuhr stolz in seiner Arbeitskleidung zur Weinstube von Lutter und Wegner. Hier tafelten sie wie die reichen Leute. Sicher waren aber auch die genossenen Mengen ganz imponierend, denn noch im hohen Alter hieß es in der Familie „Großvater hat heute gar keinen Appetit gehabt", wenn er zum Abendbrot nur sechs Scheiben Brot gegessen hatte. Als sein Sohn Alfred gut verdiente, setzte sich der Vater zur Ruhe und ließ sich vom Sohn unterhalten. Hin und wieder tischlerte er aber noch. So drechselte er der klei- nen Charlotte die noch erhaltenen Figuren zu einem Bauernhof. Außer Alfred hatte er noch zwei weitere Kinder, Hans und Johanne Marie Margarethe.

Hans Fenske, früh verstorben, war mit Anna Pullmann, genannt die „kleine Anna", verheiratet gewesen. Seine Witwe hatte den Beinamen „kleine Anna" zur Unterscheidung von „Änne"; aber in der Bieberschen Verwandtschaft gab es auch noch „Anna mit dem Zopf". So war das halt, wenn ein Name zu oft in einer Familie vorkam. Die „kleine Anna" lebte bis in die sechziger Jahre in zeitweise recht engem Kontakt zu unserer Familie. Da sie sehr übelnehmerisch war, ließ sie sich manchmal Jahre lange nicht sehen. Dann wußten wir, daß sie das letzte Mal nicht auf einem angemessenen Platz gesessen hatte oder daß der Kaffee nicht ganz heiß gewesen war oder, was sonst der Anlaß gewesen sein konnte. Da auch sonst das Verhältnis der Mitglieder dieser Generation nicht unkompliziert war, hatte ich, als ich größer wurde, die Aufgabe, ihnen die Plätze anzuweisen und sie zu „pflegen". Mir, „dem Jungen", waren sie alle so zugetan, daß sie mir dabei nichts übel nahmen. Bei Isoldes Hochzeit war die „kleine Anna" natürlich auch Gast. Die beiden jüngeren Brüder meiner Mutter, stets zu Späßen aufgelegt, konnten es sich da nicht verkneifen, sie versehentlich in der Toilette einzusperren. Dort mußte sie warten, bis sie erlöst wurde, ließ sich aber nach meiner Erinnerung nachher nichts anmerken. In ihrer Jugend ist die kleine Frau mit ihren behenden Bewegungen sportlich und unternehmungslustig wie die Fenskes gewesen. Sie hatte als eine der ersten Berlinerinnen einem VelozipedVerein angehört. Später erzählte sie noch gerne, wie sie als junge Leute bei ihren Sonntagausflügen in die Hasenheide oder noch weiter zum Tempelhofer Feld auf ihren Hochrädern die Bürger schockiert hatten. Da sie Schneiderin war, half sie nach dem Krieg, indem sie manchmal etwas nähte und sich damit auch ein paar Westmark verdiente, denn sie wohnte in Mahlsdorf.

Margarethe Fenske war Verkäuferin gewesen. Tante Grete verbrachte ihren Lebensabend ebenfalls in der Steinmetzstraße 5. Ich kann mich noch dunkel an sie erinnern. Besonders imponiert hat mir ihr Toilettenstuhl in der Diele. Später diente er, leicht umgebaut, noch lange als Sitzmöbel.

Das Grundstück in der Steinmetzstraße hatte einige Jahrzehnte für unsere Familie eine große Bedeutung. Hier wuchs Charlotte bei Onkel und Tante auf. Hier lernte Charlotte Fritz während seiner Tätigkeit beim benachbarten Evangelischen Preßverband kennen. In diesem kleinen Ort, der damals noch Giesensdorf hieß, wurde sie konfirmiert und heiratete sie. Ab 1947 waren wir fast an jedem Wochenende einen Tag dort. Meine Kindheit kann ich mir nicht denken ohne die vielen Besuche dort. Doch es gab dort auch manches zu entdecken. Vorne an der Straße nach Teltow eine Berliner Eckkneipe mit dem schönen Namen „Südpol". Nicht weit um die Ecke die Bäckerei. Hier hatte die Müller- und Bäckerfamilie Hartmann gewirkt, die mit einem Planwagen das begehrte „Lichterfelder Mühlenbrot" ausgefahren hatte. In den vierziger und fünfziger Jahren war von der 1939 abgerissenen Mühle nichts mehr zu sehen als einige Fundamentreste hinter dem Wohnhaus mit dem kleinen Laden. Auch die Backstube war noch da und ein Schuppen, in dem die Wäscherolle stand. Ein großer Holzkasten war das, gefüllt mit Feldsteinen. Auf Rollen liegend, um die die Wäsche gewickelt wurde, konnte er mit einem großen Kurbelrad hin und her bewegt werden. Eine Arbeit, die ich oft tat, wenn Charlotte und Änne in Lichterfelde Große Wäsche gehabt hatte. Auch Ausflüge konnte man machen. Über die Bahn zur Osdorfer Chaussee. Der Weg ging ursprünglich über die Felder. „Wir gehen übers Feld", sagte man. Im Krieg entstanden rechter Hand Baracken und Baracken. Nach dem Krieg waren dort DP´s, „Displaced Peoples" untergebracht. Menschen, die im Krieg aus ihrer Heimat geholt worden waren und nun auf die Rückkehr warteten. Linker Hand waren Kleingärten entstanden. Ging man über die Osdorfer Chaussee weiter, kam man zum Karpfenteich. Eine kleine Parkanlage war das mit einem Teich und einer typischen Berliner Ausflugsgaststätte. Attraktion aber war der benachbarte Lilienthalberg. Das war eine aufgeschütteter kleiner Bergkegel, von dem aus der Flugpionier Otto Lilienthal seine ersten Flugversuche gemacht haben soll. Höchst merkwürdig erscheint einem heute das Fluggerät aus Weidenruten, Flachs, Garn, ungebleichtem Shirting und Knochenleim. Seine Flugversuche erhoben ihn etwas in die Lüfte. Schließlich aber verunglückte er dabei tödlich. Das alles ermöglichte die Steinmetzstraße 5. Und als Alfred Fenske starb und das Grundstück verkauft wurde, ergab ein Teil des Erlöses den Grundstock für unser Haus in Falkau.

4 Heinrich Alfred Fenske 1878 -1971 >>> Anna Emilie Schöne 1882 - 1968 >>> Heinrich August Fenske 1844 - 1928 >>> Margarethe Fenske 1883 - 1940 >>> Anna Pullmann

Giesensdorf

Giesensdorf war eine alte Siedlung, schon 1299 erstmals urkundlich erwähnt; gegründet vermutlich von flämischen Siedlern, wie viele andere Dörfer im Fläming und auf dem Teltower Plateau. Da lange Zeit eine wichtige Verkehrsstraße von Berlin über Lankwitz, Giesensdorf und Teltow nach Südwesten ging, zogen über Giesensdorf Jahrhunderte hindurch alle die Heereszüge, die von Südwesten Richtung Berlin und weiter in den Osten wollten. Giesensdorf litt darunter vor allem im Dreißigjährigen Krieg und von 1806 bis 1813. Die alten Berichte sind erschüttend. Sie gelten auch für die Stadt Teltow und andere Dörfer, in denen Vorfahren von uns in jener Gegend gelebt haben. Im August 1813 war hier das Aufmarschfeld der verbündeten Truppen, die dann in der Schlacht von Großbeeren die auf Berlin vorrückenden Franzosen schlugen.

Es war ein typisches Straßendorf, dessen Charakter sich erst veränderte, als der Hamburger Bauunternehmer Johann Anton Wilhelm Carstenn die verschuldeten Güter Lichterfelde und Giesensdorf erwarb. Als beide 1878 zusammengeschlossen wurden, erhielt der neue Ort den Namen „Groß-Lichterfelde", und es begann die Bebauung des Gebietes zu einem Villenvorort. Wollte man früher von Steglitz nach Giesensdorf, mußte man die Bäke überqueren, ein kleines Flüßchen in einer sumpfigen Niederung. Vor allem in ihrem Bett wurde in dieser Gegend von 1900 bis 1906 der Teltow-Kanal errichtet. Mit einer elektrischen Treidelbahn an seinem Ufer wurden die Schiffe gezogen. An diesen Anblick kann ich mich aus Kinderjahren noch erinnern. In Giesensdorf entstanden verhältnismäßig kleine Einfamilienhäuser, eines davon in der Steinmetzstraße 5. Giesensdorf verlor aber seinen dörflichen Charakter nur langsam. Eine kleine Foto-Serie von Fritz Telschow aus den zwanziger oder dreißiger Jahren verdeutlicht das. Einen Einspänner auf einem sandigen Fahrweg sieht man; rechts und links Felder; Obstbäume, die der Wind hat schräg wachsen lassen, deuten eine Allee an. Stall und Scheune eines typisch märkischen Dreiseithofes, Backsteinmauern und Ziegeldächer. Blick in einen Hof mit einer alterschiefen, strohgedeckten Scheune, einem holzverkleideten Brunnen und einem Kastenwagen. Natürlich die Dorfkirche, die zweitkleinste in Berlin. Und dann der Bahnhof Lichterfelde-Süd; d.h. eigentlich nur eine Haltestelle für den Vorortzug. Ein kleines Backsteingebäude nur.

Von Giesensdorf wird aus den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts berichtet:

„Lichterfelde-Süd war in den achtziger Jahren eine unwegsame märkische Sandwüste, deren traurige Finsternis nur durch wenige Petroleumlampen durchbrochen wurde. Be- und Entwässerung fehlten völlig. Das einzige Verkehrsmittel bestand in der Fernbahn mit der Haltestelle Lichterfelde-Süd der Anhalter Strecke, die mit täglich 9 Zügen einen dürftigen Verkehr mit Berlin vermitteln sollte - ein Zustand, der natürlich nicht geeignet war einen Ortsteil zu erschließen, zumal der Reisende auf diesem nachgewiesenermaßen primitivsten Bahnhof weit und breit ohne irgendwelchen Schutz jedem Wetter erbarmungslos ausgesetzt und häufig stundenlang auf seinen Bummelzug zu warten genötigt war. Mit dem Fahrplan zeigte er selten Freundschaftsgefühle und mußte außerdem auf jeden Fall allen Schnellzügen auf der nur zweigleisigen Strecke Vorfahrtsrecht einräumen. Ein weiteres Verkehrsmittel war nicht vorhanden. Es gab keine befestigte Straße; selbst die als Ausfallstraße nach Potsdam dienende Berliner Straße war ein von hohen, alten, in der Dämmerung gespenstisch wirkenden Pappeln umsäumter schmaler Weg, der zwar für Reiter einen idealen Tummelplatz darstellte, für das Fußvolk aber nur mit Schaft- oder Wasserstiefeln passierbar war. Die Straße führte in das eigentliche Dorf mit überwiegend strohgedeckten Wirtschaftsgebäuden der alten Giesensdorfer Bauern."

Dann faßten Siedlungsgesellschaften den Entschluß, die Gemarkung ab 1890 zu bebauen. Befestigte Straßen wurden angelegt (Katzenkopf-Steinpflaster); gleichzeitig erhielt die Berliner Straße eine eingleisig betriebene Dampfstraßenbahn, deren eigentliche Aufgabe darin bestand, Eisenbahn-Stückgüter vom Bahnhof Lichterfelde-Ost nach Teltow zu befördern, daneben jedoch auch eine beschränkte Fahrgastzahl im fast dunklen Packraum mitzunehmen. Die Dampfbahn - im Volksmund „Lahme Ente" genannt - hatte alle Mühe, den „Galgenberg" hinaufzukriechen ... 1896 wurde ein Antrag auf Einrichtung einer Postagentur „wohlwollend" von der Oberpostdirektion geprüft, aber abschlägig beschieden. Erst einige Zeit später erhielt Lichterfelde-Süd den ersten Briefkasten" Die „Lahme Ente" wurde ersetzt durch eine elektrische Stra-ßenbahn. An die Stelle der Bäke trat der 1906 eröffnete Teltowkanal. Der „Lichterfelder Südklub" versuchte in all den Zeiten und danach, Verbesserungen in den Verkehrsverbindungen herzustellen. Es war mühsam. Ende der zwanziger Jahre wurden dessen Bemühungen intensiviert. Zusammen mit Nachbargemeinden wurde die „Arbeitsgemeinschaft für Verkehrsangelegenheiten im Südwesten von Berlin" gegründet und konnte schließlich die Verlängerung der S-Bahnverbindung bis Lichterfelde-Süd durchsetzen. Zu den Details gehört auch, daß es über den Teltowkanal von Lichterfelde-West her nur die hölzerne Eugen-Kleine-Brücke gab, die seit 1925 für die von Bahnhof Zoo kommenden Straßenbahnzü-ge der Linie „177" wegen Baufälligkeit gesperrt war. Die Endstation in der Lindenstraße konnte also nicht mehr erreicht werden, die Züge mußten am Parkfriedhof kehrtmachen. Schließlich wurde die Brücke auch für Fußgänger gefährlich und 1929 der Bau einer Betonbrücke bewilligt.

Letzte Ruhe auf dem jüdischen Friedhof: Frieda Prausnitzer

Tante Friedel, wie sie genannt wurde, wurde in Großenehrich, der Heimat ihrer Vorfahren väterlicherseits, offenbar bei Verwandten geboren. Im Jahr 1915 wohnte sie in Halensee, Johann Siegmundstraße 3. Sie war mit dem jüdischen Kaufmann Felix Prausnitzer verheiratet und ruht neben ihm auf dem jüdischen Friedhof in Berlin-Weißensee. Grabstelle Abteilung V, Feld M, Reihe 17, Nr.112873 neben 66674. Da sie keine Jüdin war, wurde die Beisetzung ausnahmsweise genehmigt, allerdings unter Beachtung der jüdischen religiösen Vorschriften. Wie ihre beiden Schwestern hatte sie versucht, durch Heirat eines wohlhabenden Mannes aus den schwierigen Verhältnissen ihrer Jugendzeit (einfache Leute, früher Tod der Eltern) heraus den Aufstieg zu schaffen. Wie ihren beiden Schwestern auch, gelang ihr das aber nur auf Zeit. Der Wohlstand der Zeit vor dem 1. Weltkrieg zerrann in den Wirtschaftskrisen der zwanziger Jahre, und sie wurden Opfer der „Zeitenwende". In den Jahren, an die ich mich noch erinnern kann, lebte sie verarmt und geistig verwirrt in einem nicht aufgeräumten Zimmer, zuletzt in der Hubertus-Allee in Berlin-Grunewald. Als wir noch in Wilhelmshorst wohnten, besuchte sie uns des öfteren, besonders auch am 2. Mai, weil das unser beider Geburtstag war. Sie brachte auch immer Geschenke mit. Besonders erinnere ich mich an ein schlichtes Holzschiff aus einem Stück Holz, das sie mir 1946 oder 1947 schenkte. Ich war nicht enttäuscht. Wußte ich doch, wie viel Mühe es sicher gemacht hatte, das Ding aufzutreiben. Aber ich fühlte mich einfach schon zu groß für ein solches Geschenk und glaubte ihr vor allem nicht die Geschichte, daß Fritz sie aus der Gefangenschaft beauftragt hätte, mir dieses Schiff zu schenken. Ende der vierziger Jahre waren Isolde und ich einmal nachmittags zu ihr eingeladen. Beide werden wir das nicht vergessen. Wir fuhren mit der S-Bahn bis Bahnhof Hohenzollerndamm, liefen bei schönem Sonnenwetter (es muß im Frühling gewesen sein) den Hohenzollerndamm hinunter, dann die Warmbrunner Straße entlang, vorbei an dem noch von den Engländern besetzten Sportplatz des Berliner Sport Clubs (auf dem ich später so manche Runde gedreht habe) zur Hubertusallee und dem prachtvollen Wohnhaus aus der Gründerzeit. Tante Friedel hatte ein großes, lichtdurchflutetes Erkerzimmer, wie sie für solche Wohnungen üblich waren, aber darin nicht die geringste Ordnung und kaum anständige Möbel. Zu essen gab es uralte Schrippen mit noch älterem Schmalz. Obwohl wir, was das Essen anging, nicht verwöhnt und häufig hungrig waren, fiel es uns schwer, einige Bissen und den dazugehörigen Kakao herunterzukriegen. Aber sie meinte es gut und so war sie nun eben. Ihre letzten Tage verbrachte sie in Berlin-Zehlendorf, Potsdamer Chaussee in der Klinik Waldhaus. Als es auf das Sterben zu ging, bat sie noch um einen Cognac, und ihre letzten Worte waren: „Alte Schnapsdrossel." Nach ihrem Tode beschäftigte sie Fritz und Charlotte nicht nur mit der Nachlaßangelegenheit. Zu erben war natürlich nichts, außer einem alten, einfachen Volksempfänger, der mir noch etliche Jahre diente. Einige Jahre später gab es dann noch einmal Aufregung, weil sie verdächtigt wurde, SS-Spitzel gewesen zu sein. Sie sollte auf dem Jüdischen Friedhof wieder exhumiert werden. Fritz gelang es in einem Gespräch mit dem Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde, Heinz Galinski, die Bedenken zu zerstreuen. Aber ich möchte nicht einmal ausschließen, daß sie in ihrem verwirrten Zustand nicht irgendwelche Kontakte zu irgendwelchen Organisationen des NS-Regimes gehabt hatte. Ganz dunkel meine ich, mich an solche Andeutungen zu erinnern.

4 Marta Bertha Frieda Schöne 1885 - 1951 >>> 4 Felix Prausnitzer 1869 - 1924

Die Französin: Milly Roth

Tante Milly, wie sie genannt wurde, wohnte 1915 in Treptow, Am Treptower Park 53. Dann hatte sie bis zu ihrer Heirat im Jahre 1937 jahrelang ein Verhältnis mit Louis Roth. Mit Onkel Lou, wie er genannt wurde, hatte sie einen Menschen geheiratet, der in unserer Familie in gewisser Weise ein exotisches Element darstellte. Was er in den ersten 45 Jahren seines Lebens getan hatte, weiß ich nicht. Dann begann der 1. Weltkrieg und er fand Unterschlupf in einem Kloster im Elsaß. Dort „überwinterte" er, entging dem Kriegsdienst und erwarb sich eine umfassende Bildung, so er sie nicht schon vorher gehabt hatte. Nach dem Krieg verließ er das Kloster und kam Anfang der zwanziger Jahre mit einigen hundert Gold-Franc in der Tasche, einem kleinen Vermögen für die damalige Zeit, nach Berlin. Hier lebte er als Franzose mit einem Journalistenausweis bis 1933. Obwohl er eigentlich mit seinem durchgeistigten Kopf eher der Typ eines Wissenschaftlers und Stubengelehrten war, vermehrte er geschickt sein Geld. Schließlich besaß er nicht nur etliche Miethäuser z.B. in der Dudenstraße in Berlin-Kreuzberg und in Dresden-Weißer Hirsch sowie in Rauen südöstlich von Berlin den „Heidehof" (waren beide hierauf gestoßen, weil Millys einer Taufpate aus Rauen stammte?). Vielmehr konnte er sich außer der Milly ein Privatgelehrtendasein leisten und in Wohlstand leben. Letzte Anschrift in Berlin war laut Jagdschein Wilhelmshöhe 10 (Kreuzberg) heute wohl Methfesselstr. 23/25. Anfang der dreißiger Jahre betrog ihn sein Geschäftsführer bei der Finanzierung eines großen Wohnbauprojekts. Dadurch verlor er den größten Teil seines Vermögens. Im Jahr 1933 wurde er als französischer Journalist ausgewiesen. Ganz offensichtlich konnte er über diese Jahre von seinem Vermögen nichts retten. Er lebte dann mit Milly in Enghienles-Bains nördlich von Paris, in einer kleinen, primitiven Wohnung in einem Arbeiterviertel, das in den fünfziger Jahren abgerissen wurde. Sporadisch gab er Nachhilfestunden und hatte ein so geringes Einkommen, daß Milly als Putzfrau arbeiten mußte. Das hinderte ihn nicht, sich vor allem seinen Studien zu widmen. Insbesondere betrieb er das Pendeln. Anregungen dazu hatte er im Kloster bekommen. An denen hatte er in seiner Berliner Zeit weitergearbeitet. Nun vervollkommnete er sie zu einem System. Durch die Ausschläge seines Pendels über dem Bild eines Menschen, einem Körper oder auch nur ein paar Haaren meinte er, Krankheiten feststellen zu können. In gleicher Weise glaubte er auch, diesen Krankheiten die richtigen Heilmittel aus Pflanzen zuordnen zu können. Er verfertigte Tees, die er in ziemlich große Kapseln aus einer Art von Oblatenteich tat. Damit versorgte er einen größeren, ihm dankbar anhängenden Personenkreis. Es gab nicht wenige Menschen, auch angesehene und gebildete, die ihm für Heilerfolge dankbar waren und dies auch materiell entgolten haben. So war ihm z.B. die letzte Wohnung, in der die beiden wohnten, kostenlos von einem dieser Verehrer zur Verfügung gestellt worden. Etliche Jahre schluckten auch in unserer Familie die meisten diese Medizin. Geschadet hat´s wohl niemand. Als ich Tante Milly und Onkel Lou im Jahre 1951 zum ersten Mal besuchte, lebten sie in ärmlichsten Verhältnissen, die ihn aber wohl wenig störten. Er war die Ausgeglichenheit in Person, lebte seinen Ideen und war ein interessanter und interessierter Gesprächspartner. Vor allem aber war er ein französischer Nationalist, der auf Napoleon nichts kommen ließ. Sie war sehr nervös und unstet, rauchte viel, trank Rotwein am liebsten mit Zucker und sprach ein Kauderwelsch aus deutschen und französischen Worten, so wie sie die letzteren verstanden hatte. Im Jahr 1957 bei einem zweiten Besuch gemeinsam mit Isolde, wohnten sie in der zuvor angegebenen Wohnung in besseren Verhältnissen, aber doch auch da recht einfach.

Über den Heidehof habe ich die Kopie eines Berichts, den ein Nachbar Käthe Hennig in den neunziger Jahren geschickt hat. Er ist auch deshalb interessant, weil wir noch mehr über Louis Roth erfahren. Amüsant ist zudem, was die einfachen Leute von den Reichen in Erinnerung behalten. Charlotte erinnerte sich immer an wunderschöne Ferientage bei Onkel und Tante in Rauen bei Fürstenwalde.

„Heidehof"

Das Waldstück, auf dem der Heidehof nach 1906 angelegt wurde, gehörte bis dahin dem Bauern Gracker aus der Chausseestraße (in Rauen). Da er seine Töchter aus erster Ehe auszahlen mußte, aber nicht über das nötige Geld verfügte, kam ihm die Kaufabsicht des Herrn Hans Frost gerade recht. Dieser war Besitzer einer Lampenfabrik in Berlin-Wilhelmstra-ße. Seine Spezialität = Herstellung von allen Arten von Kronleuchtern. Wegen guter Belieferung der Königshäuser durfte er sich Königl. Hoflieferant nennen. Er ließ das Heidehaus u. die Nebengebäude errichten (Kutscherhaus u. Ställe usw.)

Der Landschaftsgärtner Karl Wilhelm wurde eingestellt, der den umgebenden Park mit Teich, Laub u. Nadelhölzern anlegte. Auch ein Obst u. Gemüsegarten wurde geschaffen. An den Wegen Schnurobst gezogen sowie große Frühbeetanlagen erstellt. An dem kl. Teich Sandsteinfiguren aufgestellt. Am Hang zum Mühlenberg ein umzäunter Wildzwinger hergerichtet. Nach Fertigstellung konnte man dort Hirsche, Rehe, Wildschweine u. Niederwild bewundern. Für dieses Gehege wurde extra ein Pfleger mit Namen August Zeppert eingestellt, der aber auch sonst auf dem Hof mithalf. Er war leicht gehbehindert.

Bei der Einweihung u. Namengebung des Hofes waren die Dorfbewohner eingeladen u. die Kinder erhielten ein Wiener Würstchen.

1911 machte er der Gemeinde den Vorschlag, für sich u. das Dorf einen Wasserturm zu errichten. Die Gemeindevertreter willigten aber nicht ein, weil sie die veranschlagten Kosten nicht aufbringen konnten.

So beauftragte Herr Frost im Jahre 1912 eine Dresdner Pumpenfirma mit dem Bau eines Wasserturmes nur für den Heidehof. Über dem verkleideten Kessel wurde eine Aussichtsplattform errichtet, von der Besucher einen herrlichen Blick über das Dorf genießen konnten. Um die Zeit stiftete er auch der Rauener Kirche einen Kronleuchter. Er verstarb.

Nach seinem Tod verkaufte seine Frau, die ein sehr eingebildetes Wesen gehabt haben soll, den Besitz. Die Familie war größtenteils nur an den Wochenenden, an Feiertagen u. im Urlaub auf ihrem Anwesen. Der Verkaufstermin ist bisher nicht bekannt. Während des Krieges befand sich in den Gebäuden eine Leichtkrankenabteilung des Krankenhauses Fürstenwalde.

Zum Kriegsende erscheint ein Baron Paul Winzler, etwa gute 40 Jahre alt, mit Frau u. Tochter als neuer Besitzer auf dem Grundstück. Frau Winzler war sehr kränklich, das Kind wurde von Dienstmädchen betreut. Magdalene Schulz, deren Eltern in nahegelegenem Jagdhaus wohnten, wurde des öfteren gebeten, mit der kl. Tochter zu spielen. Der Vater war auf dem Hof beschäftigt. Die Familie wurde von den Dorfleuten als sehr vornehm u. nett angesehen, die ein gutes Verhältnis zur dörflichen Bevölkerung suchte. Wenn die Rauener Kinder zu Ostern runter zum Jagdhaus wanderten, um von den Hügeln ihre Ostereier durch die vorbereiteten Bahnen kullern zu lassen, stand der Baron Winzler mit seiner Tochter vor der Tür u. lud die Kinder ein, auf seiner Wiese nach bunten Ostereiern zu suchen. Das war dann für die Kinder ein großes Freudenfest. Er war auch derjenige, der vom Tischlermeister Kusemann u. dessen Gesellen Richard Christoph Rauen das große hölzerne Gartentor etwa 1919/20, in Anlehnung an eine chinesische Pagode errichten ließ. Erna Pöschke, geb. Kachel, berichtete mir, daß Rauener Frauen u. Mädchen, darunter auch sie im Frühjahr 1923 für´s Verlesen der Kartoffeln aus der Miete als Entgelt je eine 5 Dollar Note u. eine Schachtel Kekse erhielten. Christian Kuttus * 1857 + 1928 war daselbst Kutscher. Er bestellte die in der Zwischenzeit zugekauften Äcker. Wenn der Baron ausfuhr sagte Christian stets: Wo geit et heit hen, Herre, sull ick anspannen?

Ihren Urlaub verbrachte die Familie Winzler in jedem Jahr in Karlsbad, der kränklichen Frau wegen. Sie besaßen einen weißen Mercedes.

Ein Zöppert wohnte im Kutscherhaus u. betreute das Vieh u. auch das Wildgehege. Aus dem Dorf waren folgende Frauen im Haus u. Garten beschäftigt: Bertha Schwarz, Lieschen Wolf (Bill), Frieda Suter, Marta Wolfram. Wenn nötig wurden auch ältere Schulkinder als Helfer beschäftigt. Der Baron erwarb ca. 1924 ein Gut bei Güstrow in Mecklenburg u. gab den Heidehof auf.

Von etwa 1925 bis 1931 war eine Familie Roth Besitzer des Heidehofes. Louis Roth * 24.8.1869, + 9.3.1959 aus Straßburg, Meta Roth geb. Bömbös * 5.4.1888 + 5.8.1967 (Milly). Herr Roth war Heilpraktiker (Pendellehre) hatte in Berlin eine Druckerei, sowie in der Bad u. Soldinerstr. mehrere Häuser. Angeblich auch in Dresden. Da der Heidehof von der Familie nur an Sonn u. Feiertagen genutzt wurde, verwaltete ein Herr Gläser das Anwesen. Ein Fritz Deul u. Frau Mathilde, mit späterer Tochter Christel waren als Kutscher u. Gärtner eingestellt.

Elli Noppe, verehelichte Voigt, kann sich noch erinnern, daß sie nach ihrer Schulentlassung 1926 bei der Familie Roth gearbeitet hat. 5-6 Frauen aus dem Dorf waren für Haus u. Pflegearbeiten im Park u. Garten eingestellt. Sie erhielten einen Stundenlohn von 30 Pfg.

Etwa 1931 verkaufte er den Heidehof an einen Herrn Alexander Küchenmeister * ca. 1880. Er war 2 x verheiratet. Eine Frau hieß Luci * ca 1900. Nach Angaben der Beschäftigten hatten sie getrennte Schlafzimmer. Sie waren beide beim Film beschäftigt u. wohnten in Berlin. Kamen auch nur zu Wochenenden nach Rauen (Tobis Filmgesellschaft Babelsberg). Sein Kutscher Markquardt (Hut mit Gamsbart) holte die Herrschaften vom Bhf. Fürstenwalde ab. In Berlin fuhr Herr Kü-chenmeister einen Opel Kadett. Später kaufte er sich einen Ford. Der Chauffeur hieß Bomke. Aus erster Ehe stammt eine Tochter Inge. Aus zweiter Ehe eine Annett * ca. 1943/44. Für Haus und Garten waren angeblich 12-14 Leute eingestellt. Dazu eine Familie Weber, er mit einem Arm, die wieder im Kutscherhaus wohnten, die Arbeiten leiteten. Richard Weber, F´we Süd, Puschkinplatz 3.

Die NS Politprominenz (Goebbels) verkehrte hier im Heidehof. Es gab große Feten u. sonstige Zusammenkünfte. In den Kriegsjahren wurden auch Verwundete aufgenommen u. versorgt.

Einige Zeit (Tage) bevor die Russen in Rauen einmarschierten beobachteten die umliegenden Bewohner große Feuer auf dem Anwesen.

Mit den letzten deutschen Einheiten verließ auch Familie Küchenmeister ihren Heidehof. Tochter Inge schloß sich der Fam. Roßmann an: Besitzer des heutigen Konsum. In Berlin trennte sie sich aber von Fam. Roßmann. Alex. Küchenmeister soll nach 1945 in Aflinghausen bei Bremen ein Institut für Landwirtschaft u. Technik eröffnet haben. Später aber dann mit Beteiligung eines Prof. Friedrich es zu einem Institut für Strahlentechnik umgewandelt haben.

Im April bezogen russische Einheiten das Anwesen. Ende 1945 wurde ein Herr Bufel u. eine Frau Reimann zur Bewirtschaftung durch die F´we Behörden eingesetzt. Ihnen stand ein Pferd zur Verfügung um anfallende Arbeiten zu erledigen.

Nachtrag: nach dem Tod von Hans Frost übernahm ein Herr George, Weingroßhändler aus Berlin, angeblich für zwei Jahre den Heidehof. Er soll den Besitz an einen Grafen von Sauermann verkauft haben, der etwa bis zum Kriegsende Herr auf dem Heidehof gewesen sein soll."

4 Anna Frieda Meta Bömbös 1888 -1966 >>> Louis Roth 1869 -1959

Xions

Die ältesten Schlafkes, von denen wir wissen, lebten in Ksiaz, verdeutscht Xions. Xions liegt südlich von Posen. Der zweitälteste, Valentinus junior, wurde 1764 dort getauft. Sein Sohn Antonius wurde 1820 dort geboren. Enkel Leon zog es nach Berlin. Einer alten Rezension aus dem Jahre 1895 entnehme ich einiges, wenigsten zur evangelischen Kirche, von Ksiaz. Das soll kurz erwähnt werden, auch wenn unsere Vorfahren katholisch waren, weil allgemeine Dinge erwähnt werden. Zunächst fällt auf, daß das Posener Land zu dieser Zeit Südpreußen genannt und daß von vorpreußischer Zeit gesprochen wird. In der Tat waren ja das südliche Großpolen und Regionen bis hin nach Krakau, also auch Ksiaz, erst mit der 2. Polnischen Teilung von 1793 an Preußen gefallen. Dieses ganze Gebiet nannte man dann im Gegensatz zu Ostpreußen und Westpreußen Südpreußen. Es lag nördlich und östlich von Schlesien.Dann geht es um die Gründung der evangelischen Kirchengemeinde im Jahre 1795. Damals war Erbherr von Ksiaz Ignatz Wysogota von Zakrzewski. Er stellte kostenlos das Land zur Verfügung, auf dem die Fachwerkkirche erbaut wurde. Aber der Pfarrer von Zaniemysl (Santomischel) erhob Einwände gegen die Gründung der neuen Gemeinde, weil diese von seiner abgetrennt würde und die Einkünfte der beiden neuen Gemeinden je nicht ausreichen würden, um den beiden Pfarrern ein ausreichendes Einkommen zu sichern. Man kann daraus auf die geringe Zahl der Protestanten schließen, aber auch auf die geringen Einkünfte der Gemeindeglieder. Letzteres wird mit dem Hinweis des Pfarrers untermauert, daß sich unter seinen Hauländereien zwei befänden, „die den ganzen Winter kein Brod im Haus haben, sondern sich lediglich mit Kartoffeln helfen müssen." Im Juli 1795 wird berichtet, daß der evangelische Pfarrer „unter der Insurrection" Lebensgefahr ausgestanden hätte. Ein „Insurgentencorps von 5000 Mann" habe sein Lager in der Nähe der Stadt gehabt und habe den Pfarrer aufhängen wollen, weil er während der Insurrection mit Ksiazer Deputierten nach Posen gefahren sei. Bei dieser Insurrection dürfte es sich um den Aufstand von Tadeusz Kosciuszko gehandelt haben. Auch hat es im Jahre 1848 bei Ksiaz ein Gefecht zwischen preußischen Truppen und Aufständischen gegeben. Die wirtschaftlichen Gegebenheiten und die Spannungen zwischen der Besatzungsmacht Preußen und den Polen haben das Leben also nicht einfach gestaltet. Leon Schlafke war möglicherweise jüngerer Sohn des Webereibesitzers, und damit nicht Erbe, vielleicht auch Sohn eines verarmten ehemaligen Webereibesitzers. Wundert es da, daß er seine Zukunft als Arbeiter in Berlin gesehen hat?

September 1992

Ende September/Anfang Oktober 1992 waren Bärbel, Ulrike, Christian und ich eine gute Woche in Berlin und der Mark Brandenburg. Die Kinder wollten und sollten mit uns dieses Land auf den Spuren der Familie kennen lernen. Auf dem Programm stand auch ein Besuch der Gedenkstätte im ehemaligen Konzentrationslager Sach­senhausen in Oranienburg. Der Anlaß ? Hier war unser Großonkel Paul Schlafke einige Jahre gewesen. Der Anlaß? Beim Nachforschen kam ich über Pfarrer Rudolf Dohrmann in Kontakt mit Hans Biereigel. Biereigel war bis vor einigen Jahren Leiter der Gedenkstätte Sachsenhausen gewesen und konnte vielleicht helfen.

Als wir nun Sachsenhausen besichtigen wollten, lag es nahe, sich mit Hans Bier­eigel zu verabreden. Wir taten es und trafen einen freundlichen Sechziger mit roten Backen und rotblonden Haaren. Der Vater war Widerständler gewesen, hatte dem Strafbataillon 999 angehört und war nach einem Fluchtversuch erschossen worden. Er selbst, Diplomhistoriker, war ein Kind der DDR gewesen; aus Überzeugung von Anfang der siebziger bis Mitte der achtziger Jahre Leiter der Gedenkstätte; dann entlassen, offiziell aus gesundheitlichen Gründen, tatsächlich wohl, weil er nicht li­nientreu genug war. Der jetzige Leiter der Gedenkstätte, Opfer von 1953, hatte ihm zwar nicht das Lager, aber die Teilnahme an Veranstaltungen dort verboten. Hans Biereigel war gut bekannt mit Bischof Scharf gewesen und hatte ein Buch über den bekennenden evangelischen Christen und religiösen Künstler Wilhelm Groß geschrieben, für das er einen Verlag hatte, der aber in der Nach-Wende-Zeit eingegangen ist. So ist er im wahrsten Sinne des Wortes ,,der Zerrissene". Er ist froh über die politischen Verän­derungen und hängt an der Vergangenheit, und über manches heute ärgert er sich mehr als andere.

Wir waren für Dienstag, den 29. September verabredet. Am Montag bekamen wir mit, daß es wenige Tage vorher in Sachsenhausen gebrannt hatte. Trotzdem fuhren wir. Die Gedenkstätte war geschlossen. Nicht, weil noch polizeiliche Untersuchun­gen liefen, sondern weil Bundesaußenminister Kinkel den Ort besuchen wollte. Und wir trafen Hans Biereigel, der einigermaßen erregt war. Erregt darüber, wie unlauter aus seiner Sicht das offizielle Deutschland mit diesem Brandanschlag umging. Auch er verurteilte ihn. Aber er wußte, daß schon vor einiger Zeit die Länderpräsentatio­nen aus dem Hauptgebäude der Gedenkstätte entfernt und an ihrer Stelle dort eine Ausstellung zum Gedenken an die jüdischen Opfer errichtet worden war. In sie wa­ren auch die Originalausstellungsstücke aus der jetzt angezündeten Baracke einge­fügt worden. Dort hätten nur noch Kopien gelegen. Und ein Gutachten von mehre­ren westdeutschen Historikern zur Gedenkstättenkonzeption in Brandenburg habe die Auflösung dieser Ausstellung vorgeschlagen und sei auch von Kultusminister Enderlein gebilligt worden. Und jetzt diese Krokodilstränen der Politiker ? Genauso empörend sei (und dieses Thema gab nach eigenem Augenschein viele Leserbriefe in östlichen Zeitungen ab), daß beim kürzlich stattgehabten Besuch des israelischen Ministerpräsidenten in Sachsenhausen die Behauptung aufgestellt worden sei, in der DDR habe es kein Gedenken an jüdische Opfer gegeben. Wo er doch verantwortlich für eine solche Ausstellung gezeichnet habe.

Nachdenklich fuhren wir wieder weg. Der Besuch wurde wenige Tage später nach­geholt. Aber es blieb die Frage, warum man wohl in der Öffentlichkeit nicht ehrlich sein kann.

Häftling im KZ Sachsenhausen: Paul Schlafke

Vom 18.6.1938 bis zum 18.7.1941 war im Konzentrationslager Sachsenhausen bei Oranienburg der Dachdecker Paul Schlafke ,,untergebracht". Seine Führung soll ,,zufriedenstellend" gewesen sein. Beides Formulierungen aus dem Entlassungs­schein. Paul Schlafke war ein Bruder meiner Großmutter gewesen. Über den Lageraufenthalt wurde in der Familie nicht viel gesprochen. Auch galt er als unso­lide, als Trinker.

Das Schicksal von Paul Schlafke hatte mich schon vor einiger Zeit interessiert. Hatte sich doch ergeben, daß er auf eine Weise aus dem Lager entlassen worden war, die mit dem üblichen Bild vom Dritten Reich nicht zusammen paßt. Er hat sich selbst als politischen Gefangenen gesehen. Nach seiner Version hat Fritz Telschow einen Brief an den Lagerleiter geschrieben und um Entlassung des Onkels seiner Frau gebeten. Dabei habe er angeboten, daß er als Parteigenosse für den Verwandten bürge. Daraufhin sei er, Paul, entlassen worden. Die Entlassung sei mit der Auflage verbunden gewesen, sich wöchentlich bei der Polizei zu melden. In Fritzens Entnazifizierungsverfahren wurde eine entsprechende Erklärung von Paul zur Entlastung vorgelegt. Der Spruchkammervorsitzende soll darauf geantwortet haben, daß dies nicht entlastend gewertet werden könne, weil es jedermanns Pflicht sei, in Notzeiten Verwandten zu helfen. Fritz wurde trotzdem als unbelastet eingestuft. Er hat über die Sache nicht gerne geredet, und hielt auch später Paul für einen Säufer und Faulpelz. Die Spruchkammer-Unterlagen existieren nicht mehr.

Hans Biereigel, der frühere Leiter der Gedenkstätte hatte das Lagerarchiv durchforscht. Aber es war nur so viel herausgekommen: Paul Schlafke kam als Einzeltransport und erhielt die Häftlings-Nr. 2243. Wenige Tage vorher hatte es in Berlin eine Großrazzia gegeben, bei der mehrere tausend ,,Asoziale" verhaftet worden waren. Ob es einen Zusammenhang zwischen beiden Vorgängen gibt, läßt sich schwer sagen. Paul Schlafke bezeichnete sich als politischen Gefangenen.

Zu Paul Schlafkes Aufenthalt ist es deshalb gut, folgendes zu wissen. Im Juni 1938 wurden ca. 6.000 Häftlinge im Rahmen der sog. „Aso-Aktion" eingeliefert. Aso steht für Asoziale. Offiziell lief die Aktion unter dem Stichwort „Arbeitsscheue Reich". Verantwortlich war die Dienststelle „Vierjahresplan" beim Persönlichen Stab des Reichsführers SS. Sie richtete sich gegen „Landstreicher, Bettler, Zigeuner, Zuhälter, Personen mit Vorstrafen und Juden". Tatsächlich befanden sich darunter auch Schausteller, Männer ohne festen Arbeitsplatz und andere. Viele Menschen, die nie mit dem Gesetz in Konflikt gekommen waren. Die Aufnahme dieser Vielzahl von Häftlingen überforderte das Lager. Es fehlte an Kleidung und an Lebensmitteln. Aus Baracken, in denen bis dahin 146 Häftlinge in Betten untergebracht waren, wurden die Betten entfernt und Strohsäcke ausgelegt. So wurden bis zu 400 Häftlinge hinein gefercht. Unter ohnehin schwierigen Bedingen mußten die Häftlinge Schwerarbeit leisten; vermietet an bekannte deutsche Untenehmen, Tochterunternehmen der SS, die SS direkt oder an das Deutsche Reich. Aber es waren auch unsinnige Aufgaben zu erfüllen, wie Sand und Steine hin und her tragen oder zu Testzwecken mit neuen Schuhen stundenlang über unterschiedliche Bodenbeläge marschieren, um herauszubekommen, wie haltbar die Schuhe waren. Besonders schwer war die Arbeit im Oranienburger Klinkerwerk, wo Klinker für die Prunkbauten des Dritten Reiches hergestellt wurden.

Paul Schlafke war Häftling in Sachsenhausen. Im Gegensatz zu anderen kam er wieder frei. Er wurde Opfer einer menschlichen Hybris, die, verbunden mit großer krimineller Energie, den deutschen Staat zu einer Mordmaschine gemacht hatte. Möglich wurde dies durch Ausnutzung der demokratischen Spielregeln mit Unterstützung eines großen Teils der deutschen Bevölkerung.

4 Paul Schlafke 1886

Das Konzentrationslager Sachsenhausen

In Oranienburg war bereits am 14.6.1933 ein frühes KZ errichtet worden, das aber bereits 1935 (letzte Erwähnung März 1935) wieder geschlossen worden war. Das KZ Sachsen-hausenwurde dann im August 1936 errichtet. Am 31.12.1941 standen auf einem etwa 18 Hektar großen Gelände fünfzig Wohnbaracken, sechs Wohnbaracken als „Kriegsgefan-genenlager", sieben Baracken als „Krankenbau", neun Baracken als Bekleidungskammer, Unterkunftskammer, Effektenkammer, Desinfektion, Häftlingsbad, Trockenbaracke, „Kanti-ne", Schreibstube, Bücherei, sowie sechs Baracken als Lagerwerkstätten, Küche und Proviantraum, Wäscherei, Zellenbau, Pathologie mit drei Leichenkellern, Gärtnerei mit Stallungen. Die Lagerstärke betrug 10.709 Häftlinge. So waren in den einzelnen Baracken durchschnittlich 210 Häftlinge untergebracht. Die Häftlingsstärke stieg jedoch in den folgenden Jahren stark an, so daß am 31.1.1945 56.624 Häftlinge in der gleichen Zahl von Wohnbaracken untergebracht waren. Die Kennzeichnung der Häftlinge entsprach der in anderen Konzentrationslagern, also roter „Winkel" für politische Häftlinge, schwarzer „Winkel" für Asoziale etc. Über die Gesamtzahl der Häftlinge gibt es keine verläßlichen Unterlagen, weil ein Teil der Akten 1945 vernichtet worden ist. Man geht jedoch von einer Gesamtzahl von wenigstens 200.000 Häftlingen aus. Etwa 100.000 von ihnen verloren auf unterschiedliche Weise das Leben. Die Häftlinge waren vor 1939 ganz überwiegend Deutsche; danach waren die Deutschen eine Minderheit. Als große Nationalitätengruppen fallen Russen und Polen auf.

Besonderer Erwähnung bedarf ein Vorgang, der ein besonderes Licht auf das 3. Reich wirft. Am 20.August 1939 wurden einige Häftlinge nach Oppeln und Gleiwitz gebracht und mit Giftspritzen ermordet. Am 31. August wurden die Leichen in polnische Uniformen gesteckt und bei fingierten Überfällen auf den Sender Gleiwitz und das Zollhaus Hohenlinden als erschossene „Täter" zurückgelassen. Diese beiden „Überfälle" waren der Vorwand dafür, daß Hitler am frühen Morgen des 1.September 1939 erklärte, von nun an werde zurückgeschossen und damit den 2. Weltkrieg eröffnete.

Vom 20. - 22.4.1945 wurde das Lager evakuiert; d.h. die noch gehfähigen Häftlinge wurden auf den sogenannten „Todesmarsch" in Richtung Nordosten geschickt. Die Zurückgebliebenen wurden am 22.4.1945 befreit. An den Todesmarsch erinnern in allen Orten, durch die er gekommen ist, noch heute Gedenksteine, die in der DDR-Zeit errichtet worden sind, und die Erinnerungsstätte im Wald von Below.

Die Häftlinge arbeiteten nicht nur in den zwei Groß-Kommandos Heinkel-Werke und Kleinkerwerk, sondern in über 50 Außenkommandos zwischen Kiew und Wewelsburg in Westfalen.. Hier mußten die Häftlinge für viele namhafte deutsche Firmen arbeiten wie Borsig, Krupp, Siemens, I.G. Farben AG, Daimler-Benz und AEG. Die Wewelsburg sollte die zentrale Weihestätte der SS werden

Groß-Rosen und Neuengamme waren vor ihrer Verselbständigung Außenkommandos von Sachsenhausen. Der berüchtigte Lagerkommandant von Auschwitz, Rudolf Höß, hatte in Sach-senhausen seine „Lehre" gemacht.

Prominente Häftlinge in Sachsenhausen waren z.B. der Sohn Stalins, der Bischof der lutherischen Kirche in Polen, Bursche, und der spätere Kirchenpräsident Martin Niemöller. In den dreißiger Jahren war in Oranienburg Kurt Scharf, der spätere Bischof der Berlin-Brandenburgischen Kirche, Gemeindepfarrer. Die Auseinandersetzungen zwischen ihm, der dann bald zu den führenden Leuten der Bekennenden Kirche gehörte, und den Deutschen Christen bei der Kirchenwahl am 23. Juli 1933 illustrieren die Kopien von zwei Flugblättern, die in der Mappe „Paul Schlafke" sind. Von Hans Biereigel habe ich zu Scharf auch die folgende Anekdote gehört. Niemöller wurde in Sachsenhausen streng abgeschirmt in Einzelhaft gehalten; er war ja „der persönliche Gefangene des Führers". Scharf war ihm über die Bekennende Kirche sehr verbunden und wollte ihn unbedingt besuchen, um ihm das Abendmahl zu erteilen. Dazu zog er sich dunkel an, fuhr nach Berlin und mietete dort einen großen Pkw mit Chauffeur, nach Art derer, in denen sich politische Prominenz kutschieren ließ. Dann ließ er sich nach Sachsenhausen fahren und forderte, ohne sich zu erkennen zu geben, energisch, den Lager-Kommandanten zu sprechen. Das Gespräch wurde ihm gewährt. Und nunmehr forderte er, zu seinem Bruder Niemöller gelassen zu werden, um diesem das Abendmahl zu reichen. Der Lager-Kommandant gab schließlich nach, vielleicht auch, weil er den möglichen Skandal fürchtete. So kam Scharf zu Niemöller, der damit nach längerer Zeit wieder mit jemand anders als dem Bewachungspersonal sprechen konnte. Vielleicht paßt die Geschichte aber auch ganz gut zusammen mit der von der Entlassung Paul Schlafkes.

Bewegend ist das Gedicht eines sowjetischen Kriegsgefangenen, das, im Fundament eines Gebäudes versteckt, 1958 gefunden wurde.

Rußland, einmal kehr´ ich wieder

Rußland, einmal kehr´ ich wieder,
Hör´ den Wind in deinen Wäldern wehn,
Steig zu deinen blauen Flüssen nieder,
Werd´ die Wege meiner Väter gehen.
Lang schon hab ich nicht im Wald gesungen,
Schwamm nicht mehr im spiegelglatten Strom,
Saß nicht, von der Freundin Arm umschlungen,
In der Rieseneichen grünem Dom.
Dennoch bin ich jeden Tag und jede Stunde
In der Heimat. Wenn der Schlummer naht,
Geh´ ich mit der Liebsten leis die Runde
Um den See auf unserm kleinen Pfad.
Rußland, einmal kehr´ ich zu dir wieder,
Hör´ den Wind in deinen Wäldern wehn,
Steig zu deinen blauen Flüssen nieder,
Werd´ die Wege meiner Väter gehen.

Zu Sachsenhausen muß allerdings auch erwähnt werden, daß das Lager 1945 von den Sowjets gleich zur Unterbringung von deren Häftlingen umfunktioniert wurde. Auch hier herrschten extreme Bedingungen, wenn auch die Todesrate nicht so hoch wie in der NS-Zeit war. Prominentester Häftling jetzt war der bekannte Schauspieler Heinrich George.

Doch ich möchte noch etwas anfügen. Im März 1992 hat in Potsdam, initiiert vom Ministerium für Wissenschaft, Forschung, Kultur des Landes Brandenburg, ein internationales Kolloquium „Gedenkstätten in Brandenburg" stattgefunden. Teilnehmer war auch mein Freund Leon Lendzion aus Danzig. In dem Dokumentarband ist der folgende Brief von ihm abgedruckt:

„ Vom 7. bis 9. März war ich eingeladener Teilnehmer des Colloquiums „Gedenkstätten in Brandenburg" in Potsdam.

Ich habe dort viele mehr oder weniger interessante Referate und Aussprachen gehört. Da ich mich damals nicht zu Wort gemeldet habe, möchte ich auf diese Weise meine Reflexionen übermitteln. Bei der Besichtigung des Lagers Sachsenhausen hatten wir die Gelegenheit, einen Teil der Lagerausstellung zu sehen, die uns überzeugen sollte, daß auf dem Gebiet des ehemaligen Konzentrationslagers Sachsenhausen (1936-1945) nach Kriegsende (1945-1950) auch ein Lager für unschuldige Deutsche eingerichtet war, wo es wahrscheinlich noch schlim-mer als in der Nazizeit zugehen sollte. Wir konnten dort auch eine Broschüre unter dem Titel „Sachsenhausen 1936-1950" erhalten, wo unter anderem im Vorwort mit hervorgehobenen Buchstaben geschrieben steht, daß außer Kommunisten auch „arme Kreaturen aus allen Kreisen und vieler Herren Länder litten und starben" (Kreatur laut „Duden": Geschöpf, verachtenswerter Mensch, willenloses Werkzeug).

Ich gehörte auch zu diesen Kreaturen, die von 1939 bis 1945, davon rund fünf Jahre im KZ Sachsenhausen, gelitten haben. Ich kann mich aber nicht als unschuldig Betroffener ansehen. Ich war nicht unschuldig, weil ich von Kind auf - in der vorwiegend durch Deutsche bewohnten Freistadt Danzig - als Pole galt. Ich habe hartnäckig in der Nazizeit 1933 bis 1939 darauf bestanden, daß ich Pole bin, deshalb war ich Schüler einer polnischen, nicht einer deutschen Schule, deshalb gehörte ich nicht deutschen oder gar deutschnazistischen, sondern ausgesprochen polnisch und antinazistisch gesonnenen Vereinen an. Das hat mir mein Vater beigebracht, der von 1908 an in Danzig Mitglied und dann von 1925 bis 1939 Vorsitzender eines polnischen Gewerkschaftsverbandes gewesen ist. Er, mein Vater, war so hartnäckig, daß er als Volkstagsabgeordneter, seitens der sogenannten polnischen Minderheit, im Danziger Volkstag noch bis kurz vor dem 1.September 1939 gegen die NSDAP aufgetreten ist. Die Nazipartei war damals die einzige deutsche Partei im Volkstag, obwohl in den letzten Wahlen 1935 in der „Freien" Stadt Danzig noch Vertreter deutscher Oppositionsparteien (z.B. SPD, KPD, Zentrum) gewählt wurden. Sie sind dann aber bis 1937 entweder auf Grund von Bedrohungen oder Bestechungen in die NSDAP übergeschwenkt. Manche haben ihr Mandat zugunsten der NSDAP niedergelegt. Der Anführer der Kommunisten ist ins Ausland geflohen, und der SPD-Abgeordnete Hans Wichmann wurde 1937 ermordet.

Also war mein Vater ein ausgesprochener Nazigegner, und deshalb wurde er als Schuldiger durch die SS in der Nähe des Lagers Stutthof, zusammen mit mehreren polnischen „Kreatu-ren", wie Pfarrern, Lehrern, aber auch anderen mehr oder weniger bekannten Mitgliedern der polnischen Vereine und Verbände, am Karfreitag 1940 niedergeschossen. Sowohl mein Bruder wie auch ich waren dann weiter bis Kriegsende in den Konzentrationslagern Mauthausen beziehungsweise Sachsenhausen inhaftiert. Obwohl wir weder ein Urteil oder zumindest einen Haftbefehl erhielten, waren wir uns dessen bewußt, weswegen wir im KZ bleiben mußten. Keineswegs waren wir unschuldig, denn wir waren Gegner der Nazis und hätten nach eventueller Freilassung tätig gegen die Nazis auftreten können. Im Laufe der Zeit wurden übrigens mehr und mehr Polen unter dem Verdacht des Widerstandes gegen die deutsche Nazimacht in die KZ eingeliefert.

Eindeutig als schuldig konnten auch die damaligen Deutschen betrachtet werden, die als politische Gegner des Nazismus in den Konzentrationslagern waren. Dasselbe betraf zum Bei-spiel auch die sogenannten „Zeugen Jehovas". Zu den wenigen unschuldig im KZ gehaltenen Häftlingen könnten die ehemaligen Kriminellen („Berufsverbrecher") oder Sittlichkeitsver-brecher gezählt werden, weil sie generell nach Beendigung ihrer rechtmäßigen Gefängnis- oder Zuchthaus-Strafe noch weiter in „Schutzhaft" verbleiben mußten. Die allermeisten Häftlinge waren sich jedoch ihrer Schuld gegenüber den Nazis wegen ihrer politischen beziehungsweise religiösen Ansichten oder wegen der Angehörigkeit zu einer bestimmten „minderwertigen" Volks- oder Rassengruppe bewußt. In der Masse haben wir es nach nazistischer Rechtsgebung und Anschauung nicht verdient, als Menschen betrachtet zu werden.

An dieser Stelle möchte ich jedoch noch etwas hervorheben, was sehr selten erwähnt wird. Im Lager wurden wir nicht nur von den SS-Angehörigen gepeinigt; einen Anteil daran hatten auch manche Häftlinge. In der Regel konnten die Funktionsposten (Lagerälteste, Blockälteste, Vorarbeiter) im KZ Sachsenhausen nur durch deutsche Häftlinge besetzt werden. Es ist bekannt, daß im KZ Sachsenhausen nur noch wenige Deutsche verblieben sind; aber eine Gruppe spielte eine sehr wichtige Rolle. Von ihnen waren nämlich die Häftlinge abhängig. Generell gesehen (mit Ausnahmen auf beiden Seiten) waren die „Kriminellen" und „Asozialen", die in Funktionen waren, auch unsere Peiniger. Sie besaßen keine Moral und haben uns oft noch schlimmer behandelt als manche SS-Leute. Für sie war das Wichtigste, die Lagerzeit zu überleben, wenn auch auf Kosten anderer. Je brutaler sie die Mithäftlinge behandelten, um so besseres Ansehen gewannen sie bei der SS-Leitung. Sie waren nicht nur Täter, sondern oft auch direkt Töter. Generell gegensätzlich war die Haltung der deutschen politischen Häftlinge, die sich bemüht haben, ihre Funktionen - so weit wie möglich - zur Milderung der Lebensbedingungen und zur internationalen Solidarität zu nutzen. Wir damalige junge Nationalpolen haben den damaligen meist kommunistischen deutschen Häftlingen sehr viel zu verdanken. Wir werden ihre positive Rolle im Lage stets in dankbarer Erinnerung haben. Manch einer von uns verdankt ihnen sein Leben.

Als wir endlich im April/Mai 1945 in Deutschland frei kamen, haben wir nicht an Rache gedacht. Wir sind meist so schnell wie möglich in unsere Heimat, zu unseren Familien gezogen. Die Bestrafung unserer Peiniger haben wir den Deutschen und Besatzern überlassen. Es ist bekannt, daß trotz mehrerer tausend direkter Anklagen, die später aus Polen erhoben wurden, nur wenige (ca. 10 %) der Täter aus der Nazizeit rechtsgemäß bestraft worden sind.

Deshalb ist es für mich und meine Kameraden eine große Enttäuschung, daß ins Straflager (Speziallager) in Sachsenhausen nach 1945 vorgeblich unschuldige Deutsche eingeliefert wer-den sollten. Die Frage ist: wo sind die Täter und die Nazis geblieben?"

Mit diesem Brief kann man sich länger beschäftigen. Hat Leon Lendzion die deutschen Formulierungen einfach mißverstanden? Das Wort „Kreatur" kann man auch im Sinne von „geschundene Kreatur" verwenden, dann ist es überhaupt nicht abfällig. Mit dem Wort „un-schuldig" kann man auch genau das meinen, was er zum Ausdruck bringt. Aber werden nicht solche Formulierungen, im Zusammenhang mit der besonderen Betonung dessen, was nach 1945 geschah, genau in Lendzions Sinn verdächtig? Hätten nicht die Verfasser dann deutlicher formulieren müssen? Dazu muß man Leon Lendzion persönlich kennen. Er ist ein souveräner, groß gewachsener, starker Mann. Er legt jedes Wort auf die Goldwaage, auch wenn er deutsch spricht oder Deutschen zuhört. Immer wieder kann man es erleben, wie er Deutsche auf den oberflächlichen Umgang mit ihrer eigenen Sprache aufmerksam macht. Er spielt auch gerne mit Worten. Und so hat er es auch hier getan. Er hat verfängliche Formulierungen aufgegriffen, um auf ein Sachproblem hinzuweisen und seine Sicht der Dinge darzulegen. Durchaus spitzfindig und ein bißchen listig geht er dabei vor. Und so ist denn auch die Schlußfrage sehr doppeldeutig. Sie verweist auf die unzureichende strafrechtliche Verfolgung der NS-Täter und stellt zugleich die Aussage von den unschuldigen Deutschen im Speziallager in Frage. Dabei kennt er das kommunistische System aber viel zu gut, als daß er nicht wüßte, daß auch dort Unschuldige (im allgemein gebräuchlichen Sinne) Opfer wurden.

Opfer der „Euthanasie": Karl Schlafke

Als Soldat im 1. Weltkrieg war Karl an der Westfront bei einem Gasangriff schwer verletzt worden und hatte dabei Gehirnschädigungen davon getragen. In den dreißiger Jahren war er dann in der Landesnervenklinik in der Innenstadt von Neuruppin. Käthe Bömbös kann sich noch an einen Besuch durch Agnes und sie in den Jahren 1938 oder 1939 erinnern. Sie hat Karl als gutmütigen Trottel in Erinnerung, der hin und wieder aufbrauste. Im Rahmen der Eutha-nasie wurde Karl ermordet. Er hatte ein uneheliches Kind, die „blonde Lotte", die Biblio-thekarin wurde und zu der die Geschwister Bömbös noch lange Kontakt hatten.

Doch was hatte es mit der „Euthanasie" auf sich. Joseph Goebbels, Reichspropaganda-Minister, notierte am 31.1.1941 in sein Tagebuch: „80 000 sind weg, 60 000 müssen noch weg". Es ging um jene Menschen, die mit dem „Euthanasie"-Erlaß Hitlers vom 1. September 1939 gemeint waren. Der enthielt auf dem Briefbogen aus Hitlers Privatkanzlei mit dem Hoheitszeichen der NSDAP die lakonische Aussage, „die Befugnisse namentlich zu bestimmender Ärzte so zu erweitern, daß nach menschlichem Ermessen unheilbar Kranken bei kritischster Beurteilung ihres Gesundheitszustandes der Gnadentod gewährt werden kann". Nun hatte es schon seit den zwanziger Jahren eine öffentliche Diskussion über den Gnadentod gegeben, für den sich auch mancher aussprach, der mit den Nationalsozialisten überhaupt nichts im Sinn hatte. Aber der Boden wurde dafür bereitet, da Hitler immer wieder die Gesundung des Volkskörpers und die Vernichtung alles Schwachen und Minderwertigen, alles lebensunwerten Lebens fordern konnte und wenig Widerspruch fand. Namhaftester Kritiker des Ganzen war der katholische Bischof Clemens August von Galen in Münster. Kaschiert wurde die mit äußerster bürokratischer Akribie durchgeführte Aktion durch pseudowissenschaftliche Versuche und Forschungen. Noch im Herbst 1939 wurden die in Betracht kommenden Anstalten aufgefordert mitzuteilen, welche Bewohner nicht oder nur mit mechanischen Arbeiten beschäftigt werden können. Am 20. Januar 1940 kündigte dann etwa der Reichsverteidigungskommissar für den Wehrbereich III an: „ Zur Vereinfachung der Verwaltung im Zuge der Neugestaltung des Heil- und Pflegeanstaltswesens werde ich in der nächsten Zeit die Verlegung einer größeren Anzahl von Insassen der Heil- und Pflegeanstalten anordnen ... Der Abgabeanstalt entstehen keine Kosten, die Krankenakten werden ihr nach Einsichtnahme durch die Aufnahmeanstalt zurückgegeben". Drei Monate später erhielten die ersten Anstalten dieses Bereiches die Ankündigung, daß die Kranken mit Kraftomnibussen der (extra zu diesem Zwecke gegründeten) „Gemeinnützigen Krankentransport GmbH" abgeholt würden. Über die Tötung entschieden Ärzte, häufig, ohne den Kranken gesehen zu haben. Sofort nach Ankunft in der Tötungsanstalt wurde ein Aufnahmeverfahren inszeniert mit Registrierung, entledigen der Kleider, Vorbeimarsch an einem Tisch mit Ärzten. Zur Identifizierung nach dem Tode erhielten die Kranken Stempel auf ihren Körper. Dann sollten sie „desinfiziert" werden, hier ein Synonym für töten. Ein als Duschraum getarnter kleiner Raum war die Gaskammer, in der sie dann ermordet wurden. Die Verantwortung trugen Ärzte. Auch das Öffnen der Gasflaschen war Aufgabe von Ärzten. Nur wenige Anstalten, haben sich gegen den Abtransport gewehrt; einige sogar mit List und Erfolg. Dabei machte es keinen Unterschied, ob es sich um staatliche oder kirchliche Einrichtungen handelte.

In Neuruppin gab es am 31.12.1935 1929 1933 knapp 2000 Patienten mit Steigerungsraten. Von ihnen galten 1577 als erbkrank. Das hieß bei Männern Zwangssterilisation. Viele hundert wurden ermordet. Sie wurden wie andere, die nach Neuruppin als „Zwischenanstalt" geschafft worden waren, in Tötungsanstalten verbracht. Die Ermordungen wurden in den Gaskammern des alten Zuchthauses in Brandenburg und in der „Euthansie"-Anstalt in Bernburg vorgenom-men. Lothar Kreyssig, im Jahr 1940 Vormundschaftsrichter am Amtsgericht Brandenburg a.d.H., später Gründer der Aktion Sühnezeichen, schrieb am 8.7.1940 in einer Eingabe an das Reichsjustizministerium, daß entmündigte Anstaltsinsassen „ohne Wissen der Angehörigen, der gesetzlichen Vertreter und der Vormundschaftsgerichte, ohne Gewähr einer geordneten Rechtsganges und ohne gesetzliche Grundlage"getötet würden. Er formulierte auch: „Recht ist, was dem Volke nützt. Im Namen dieser furchtbaren, von allen Hütern des Rechtes in Deutschland noch immer unwidersprochenen Lehre sind ganze Gebiete des Gemeinschafts-lebens vom Recht ausgenommen, vollkommen zum Beispiel die Konzentrationslager, vollkommen nun die Heil- und Pflegeanstalten." Er war einer der wenigen, die es wagten zu protestieren.

Im Klima der Adenauer-Ära und in bemerkenswerter Zusammenarbeit zwischen Justiz, Polizei und Ärzteschaft kam es, daß kaum einer dieser Ärzte irgendwann vor Gericht gestellt, ge-schweige denn verurteilt worden ist.

Karl Schlafke war eines dieser Opfer. Er hatte seine Gesundheit in einem Krieg, der hätte vermieden werden können, dem Vaterland opfern müssen. Und dieses Vaterland belohnte ihn dann auch noch damit, dass es ihn wegen der Kriegsfolgen ermorden ließ. Die alten Römer sagten: „dulce et decorum est, pro patria mori". Es ist süß und herrlich, für das Vaterland zu sterben. Das hat man ihm vorgemacht. Und dann?

Auf der Suche nach dem Sinn des Lebens: Wolfgang Fröbrich,

Als Wolfgang Fröbrich in unsere Familie kam, wurde er argwöhnisch beäugt. Für Fritz Telschow war es undenkbar, daß eine evangelische Schwägerin einen Katholiken heiratete. Deshalb ging er mit Charlotte zum Beispiel nicht zur Hochzeit von Grete und Wolfgang. So gab es lange ein distanziertes Verhältnis, das sich wohl erst im Alter besserte. Charlotte dagegen hielt den Kontakt zu ihrer Schwester. Agnes mokierte sich, daß in Wolfgangs Zimmer Bilder von „nackten Menschen" hingen, von antiken Statuen. Und die Familie lächelte darüber, daß Wolfgang Hans Carossa so sehr verehrte, daß er im Urlaub dessen Wohnort aufsuchte und aus der Ferne mit dem Fernglas auf dessen Grundstück schaute, in der Hoffnung, einen Blick auf den Verehrten tun zu können. Auch wir Kinder wurden dadurch beeinflußt. Und als sich später herausstellte, daß Wolfgangs Schwester ein uneheliches Kind hatte, war auch dies ein Thema. So hatte es Wolfgang zunächst schwer in der Familie. Und der Familie entging völlig, daß er auch für sie hätte bereichernd sein können. Das gilt insbesondere auch für mich. Als Effi als Frühgeburt auf die Welt gekommen war, war das eine Sensation. Man ging ins Krankenhaus. Isolde mußte als Kind draußen bleiben, ich durfte mit hinein. Und als sie dann nach Hause kommen sollte, war es meine Aufgabe, unser Kinderbett mit den runden Stäben (ganz schön stabil und schwer), zu Fuß, mit der S-Bahn und mit der Straßenbahn von Wilmersdorf nach Rudow zu schleppen. Das war recht mühsam. Als ich es abgeliefert hatte, verwickelte mich Wolfgang in ein Gespräch über „moderne" Kunst. Es ging um von Gogh. Ich konnte seine Begeisterung überhaupt nicht verstehen und äußerte mich entsprechend. Drei Jahre spä-ter, bei einem Besuch mit Isolde in Paris, gingen mir dann die Augen auf und über. Auf einmal entdeckte ich die Malerei der Impressionisten und Expressionisten usw. Wahrscheinlich war das Gespräch für ihn enttäuschend gewesen. An andere solche Gespräche kann ich mich nicht erinnern. Und als ich erwachsen war, kamen wir nur zu Stippvisiten, und auch diese waren mehr Höflichkeitsbesuche. Als ich ihm dann später die eine und die andere meiner Schriften zusandte, fand er immer freundliche Worte.

Über den Nachlaß von Fritz Telschow stieß ich darauf, daß Wolfgang Fröbrich Gedichte verfaßte. Daraufhin schrieb ich ihn an und fragte, ob ich vielleicht einige erhalten könnte. Damals meinte er, daß es sich doch hierbei um sehr persönlich Äußerungen handele.Und er schrieb:

„Als Schuljunge fiel mir zufällig ein Roman von Hermann Hesse in die Hände. Seit diesem Zufall war nicht nur die Erdkunde (z. B. Sven Hedins Reiseberichte) ein Interessensgebiet, sondern ich hatte nun erlebt, was man Dichtung nennt, hatte es so stark erlebt, daß ich nun alles von Hesse las, was mir erreichbar war. Schließlich habe ich ihm auch geschrieben, und diese Verbindung hat bis zu Hesses Tod, also über 30 Jahre bestanden. Anfangs war ich ihm völlig ergeben, habe mich aber dann von einer allzu starken Bindung frei gemacht und über viele romantische und auch realistische Dichter zu Goethe gefunden. Wenn ich zuweilen auch selbst etwas Literarisches fabriziere, hat das meist nur für mich Bedeutung. Das habe ich besonders in sowj. Gefangenschaft erlebt, wo mich manches eigene Gedicht von schwerem Druck befreit hat. Die Ende 1996 gehefteten Blätter enthalten nun ein Gedicht aus eigener Werkstatt, so daß ich damit ein wenig auch deinem Wunsch entsprochen habe!"

So freue ich mich, daß ich wenigstens einige dieser Gedichte habe.

Paul Gaugin „Ta Matete" (Der Markt)

Blüten im Dunkel der Haare, der Augen,
reden die Mädchen duftende Farben.
Kannst sie aber verstehn, denn du
bist ja daheim in Tahiti, längst
winkten leichte Hände dich ein
in den grünen Flüsterdisput
ihrer Insel im Meer ohne Namen.
Sprich ihre Sprache, es sind wohl Feen,
darfst dir was wünschen! Sags ihnen leise
gelblich, lächle hellviolett,sonst aber keinem!
Der Zauber verliert sich,wenn einer weiß:
du warst bei ihnen!
Lausch aber weiter dem Duftgeplauder,
folge den Winken, traue den Blicken,
halt ihre Hände, jung und schön,
knirschen die Tritte im Sande der Heimat!

Mai

So süß und blütenvoll die Nacht,
von zweien heimlich hold verwacht.
Berauschend wehts vom Duft der Lind,
vom Heu der Ruch, das Lied vom Wind.
Kastanie weiß im Blütenschaum,
wonach du irrst, du weißt es kaum.
Und überm Weg vom Mond ein Streif.
Den Zauber wahr, hüt dich vorm Reif!
Wie Ginstergold und Wiesengrün
mußt leuchten du und dann verglühn

Januar

Wer friert, sich aus der Stub nicht reg,
vereist der Weg, verweht der Steg.
Der Fuchs im Wald sucht seine Bahn,
im G´wänd weiß stäubt die wilde Lahn.
Drum bleibe auf der Ofenbank,
die Schritte eng, weit der Gedank.
Das Buch schlag auf in Einsamkeit,
für manchen Weg bist dann bereit.
Doch müssen Not und Teufel sein,
träumst sonst zu viel, schläfst gar nicht ein.

Gedenken an Hans Carossa

Noch immer rauscht dein Brunnen durch die Nacht,
Noch sind die Sterne da, und mancher wacht
Vom Traume auf und lauscht dem harten Schritt,
Wenn einer von dem Weg zum Brunnen tritt,
Und lauscht voll Freude jeder fremden Hand,
Die schöpft an jenes Marmorbecken Rand.
Auch ich such traumestief den Weg entlang
Nach warmer Schwelle, Rast und reinem Trank.

Der Persönlichkeit, die dahinter steht, kommt man vielleicht näher, wenn man den folgenden Text von Wolfgang Fröbrich liest.

Weg zu Hans Carossa

„Es gibt in unserm Dasein Tage und Stunden, die auch nach vielen Jahren noch weiterleben. Dabei können wir nicht immer erkennen, was sie bedeuten; aber man möchte davon reden, zu anderen vielleicht oder zu sich selbst, das Unvergeßliche festzuhalten, wenigstens in Umrissen oder Fragmenten. Diese Stunden sind nicht geplant; denn fast alles, was man plant, geht anders aus, als man wünschte oder dachte, und bringt uns damit Ungewolltes, Unerwartetes und völlig Überraschendes, Schmerzliches wie auch Wunderbares.

So ging es mir vor 30 Jahren, als ich mit Frau und Töchterlein Sommerwochen im Böhmerwald (Bayr. Eisenstein) verbrachte und von dort aus einen dreitägigen Besuch in Passau machte.

In Passau laufen 3 Flüsse zusammen: graugrünlich strömt von Westen her, vom Schwarzwald, der Hauptfluß, die Donau, langsam schleicht die kleine Ilz dazu, schwarzbraun gefärbt vom Humus des nördlichen Waldgebirges; beherrschend aber schäumt der Inn, noch nahe der Stadt mit seinem klaren Blaugrün über Felsen rauschend, ein wildes Kind des Hochgebirges im Süden. Mit den Wassern kamen einst die Menschen, von Süden die Römer, von Norden Germanen, im Westen saßen Kelten im Osten später Slawen, mit ihnen fluteten verschie-denartige geistige Ströme, vor allem aber vom Süden, und formten die Lebensart, die Überzeugungen, das Aussehen der Menschen und ihre Landschaft.

So scheint es nicht verwunderlich, daß der Arzt und Dichter Hans Carossa, dessen Vorfahren aus Italien stammen, etwas vom Wesen seiner Urheimat in Passau wiederfindend, sich hier niederließ; dem Maß, der Menschlichkeit und der ausgewogenen Kraft der Antike verbunden, auch ihren Abgründen nahe, doch ihrem Licht vertrauend, hat er bei Passau auch die letzten Lebensjahre verbracht.

An einem meiner Passauer Tage saß ich nun abends in meinem Gasthof, nach einem sonnigen Sommertag erfüllt vom Bilde der Stadt, von der Leuchtkraft des Donautals, von den Farben der flutenden Wasser, vom Gang zur letzten Ruhestädte des Dichters und seiner Frau. Dazu die Erinnerung an eine persönliche Begegnung in Berlin, wo Carossa während des Krieges aus seinen Werken gelesen hatte. Ich kannte fast alles, was er veröffentlicht hatte, war ihn nahe durch seine Verbundenheit mit Goethe und seine Verwandtschaft mit der Antike, die beide auch mir Lebensquellen sind. Und so suchte ich, zunächst noch unsicher und planlos, all das, was mich dort bewegte, Vergangenes und Gegenwärtiges, in irgendeiner Weise festzuhalten.

Zu einer solchen Äußerung gehört nicht allein die innere Bereitschaft, nötig sind auch die äußeren Umstände. Mein Quartier lag am Ende einer dunklen Gasse, ein einfacher Gasthof, bis zu dessen Schwelle bei Hochwasser die Donau drängt. Hier in der Gaststube zu ebener Erde saß ich unter mächtigen Gewölben, die mehrere Stockwerke tragen müssen. Dort blieb ich nun in einer Nische für mich bei einem kräftigen Brotimbiß und einem Viertel Rotwein an einem blanken Holztisch. So war ich ungestört, doch nicht allein; denn an den wenigen Tischen sonst wurde rege geplaudert, die Gäste wechselten Rede und Antwort, ruhig und ausgeglichen: ein lächelnder Zuspruch für meine Absicht.

Da ich Carossas Brunnengedicht im Wortlaut immer gegenwärtig hatte, begann ich wie ein Musiker, das Thema, das Metrum und den Wortschatz verwendend, eine kleine Variation zu diesem Gedicht zu schreiben. Wenn auch mancher Gast sich neugierig gefragt haben mag, was denn der Einzelgänger dort zu schreiben hatte, gar bis Mitternacht, immer nach Pausen wieder anfangend, immer von neuem ansetzend und verbessernd, so hat ihn doch keiner gestört. Man hätte sich wohl auch verwundert, nur ein kleines Gedicht von 8 Zeilen als Ergebnis des langen Mühens vorzufinden.

Aber es waren glückliche Stunden, unerwartet und unvergesslich, da dem eifrigen Schreiber nach seiner Meinung gelungen war, e t w a s von dem Erlebten, Vielfarbigen in eine feste sprachliche Form zu bringen. Der Sprecher des Carossagedichts ist allerdings der Wirt, während der Schreiber der Variation ein Wanderer ist, der sich der Schwelle des Dichters nähert.

Und so ist es heute noch, und der Wanderer ist noch immer unterwegs, zuweilen auch unter-wegs zu Hans Carossa, und er hofft, noch einige Male bei dem Dichter zu Gast zu sein, an seinem Tische zu sitzen, sein Brot zu essen und seinen Wein zu trinken."

Wolfgang Fröbrich hatte den Krieg im Osten und russische Gefangenschaft hinter sich, als er lungenkrank in die Heimat zurückkehrte. Dann wurde er Oberstudienrat für Deutsch, Geschichte und Geografie. Gerne spielte er Klavier, auch noch im hohen Alter. In seinem Garten stand lange eine meteorologische Station, deren Wetterdaten er regelmäßig an den Wetterdienst weitergab. In seinen Gedichten begegnet uns ein Spektrum von Eindrücken, Empfindungen, Themen. Auch angeregt von anderen Gedichten und Bildern. Einfühlsam, feinfühlig und genau beobachtend und beschreibend. Aber er konnte wohl auch, aus Erfahrung, skeptisch, kritisch ja sarkastisch sein. Und er war wohl immer auf der Suche nach dem Sinn des Lebens. In einem Weihnachtsgruß an Fritz Telschow von 1981 schrieb er: „Es fällt nicht leicht, angesichts der Weltlage an Liebe und Frieden in der Zukunft zu glauben! Täten wirs aber nicht, gäben wir uns selbst auf! Bleiben wir also tapfer und verwirklichen wir das Ersehnte, soweit wir können, an dem Platz, auf den wir gestellt sind!" In einem Brief von 1987 an Fritz Telschow setzte er sich mit der Frage der Theodizee auseinander: wie ist das Übel, das Böse in der Welt zu verstehen, wenn man an einen persönlichen Gott glaubt, dem Allmacht, Allbarmherzigkeit und Allgerechtigkeit zugeschrieben werden?

5 Wolfgang Joachim Fröbrich 1909 - 2004 >>> 5 Margarete Helene Meta Bömbös 1914 -2001

V. Schluß

Hans Carossa: Der alte Brunnen

Lösch aus dein Licht und schlaf! Das immer wache
Geplätscher nur vom alten Brunnen tönt.
Wer aber Gast war unter meinem Dache,
Hat sich stets bald an diesen Ton gewöhnt.
Zwar kann es einmal sein, wenn du schon mitten
Im Traume bist, daß Unruh geht ums Haus,
Der Kies am Brunnen knirscht von harten Tritten,
Das helle Plätschern setzt auf einmal aus,
Und du erwachst, - dann mußst du nicht ershrecken!
Die Sterne stehn vollzählig überm Land,
Und nur ein Wandrer trat ans Marmorbecken,
Der schöpft vom Brunnen mit der hohlen Hand.
Er geht gleich weiter. Und es rauscht wie immer.
O freue dich, du bleibst nicht einsam hier.
Viel Wandrer gehen fern im Sternenschimmer,
Und mancher noch ist auf dem Weg zu dir.

Das „Brunnengedicht", auf das Wolfgang Fröbrich Bezug nahm, ist auch mir seit der Schulzeit vertraut und hat mich immer wieder auf meinen Wegen begleitet. So soll es den Abschluß dieser Familiengeschichten bilden und uns daran erinnern, daß die vor uns als eben solche Wanderer durchs Leben gegangen sind und wir es genauso tun. Vielleicht sind sie ja über diese Erzählungen auch noch einmal auf dem Weg zu mir und dir. Kämen auch wir uns dabei ein wenig näher, wäre es das Schönste, was diese Familiengeschichten anrichten können.

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