Die evangelische Kirche in Frankfurt a. M. nach dem 2. Weltkrieg

Vortrag vor dem Evangelisch-lutherischenen Predigerministerium am 26. Februar 2015

1. Einstieg

Am 29. März 1945 gegen 16.00 Uhr verkündete die amerikanische Armee über ihren Rundfunksender die Einnahme von Frankfurt. Die letzten Tage waren wenig spektakulär verlaufen. Reichsstatthalter und Gauleiter Jakob Sprenger hatte schon längst die Stadt verlassen. Die SA war ihm am 26. März gefolgt, als die ersten amerikanischen Panzer am Hauptbahnhof aufgetaucht waren. Der Kommandant von Frankfurt, Generalmajor Stemmermann, hatte am 27. März, dem Tag an dem er abgelöst wurde, das deutsche Artilleriefeuer einstellen lassen. Er war vom Oberfehlshaber West, Generalfeldmarschall Kesselring, abgelöst worden, weil er offenbar nicht kampffreudig genug war. Sein Nachfolger, Oberstleutnant Erich Löffler, dem ein anderer Ruf vorausging, hatte sein Kommando am gleichen Tage angetreten. Er hatte die Volkssturmleute nach Hause geschickt und befohlen, lediglich hinhaltenden Widerstand zu leisten. Schon am nächsten Tag hatte eine amerikanische Artilleriegranate seinen Kommandostand in der Taunusanlage 12, dem Palais Löwenstein, getroffen. Löffler und sein Stab waren ums Leben gekommen. Stemmermann war schwer verletzt worden und kurz danach verstorben. Die Amerikaner waren gut vorbereitet. Sie setzten sofort einen unbescholtenen Bürgermeister, den Journalisten Wilhelm Hollbach als kommissarischen Bürgermeister ein. Die Stadtverwaltung nahm schnell ihre Arbeit wieder auf.

In einem Aufruf an alle Frankfurter Kirchengemeinde teilte das Military Government am 26. April 1945 mitgeteilt: „Es ist die Absicht der Militärregierung, den Nazi-Einfuß aus allen religiösen Kreisen auszutilgen...Religiöse Freiheit und Achtung für alle Kirchen in Deutschland wird gewährleistet.... alle kirchlichen Führer sollen mit Achtung behandelt werden. Es ist die Politik der Militärregierung, alle diejenigen Kirchenbeamten, aus ihren Ämtern zu entfernen, die aktive Nazis sind oder waren oder eifrige Sympathisierer mit ihnen. Das betrifft Kirchenbeamte jeden Ranges und auch Laien, die kirchliche Ämter inne hatte.”1

Von diesen Tagen berichtete Pfarrer Alexander Pelissier/Nied: „Zwei Ereignisse haben mich am Ende des letzten Krieges besonders erschüttert. Als wir am Karfreitag 1945 das Hl. Abendmahl beendet hatten, erschienen amerikanische Soldaten in der Kirche – sie hatten am Gründonnerstag Nied besetzt – und wollten Gottesdienst halten. Nachdem jahrelang deutsche Truppenteile die Kirche nicht betreten hatten und dies von der Obrigkeit immer bedroht worden war, mußten sogenannte „Feinde” zuerst wieder den Weg in das Gotteshaus finden! Tief beschämend war es dagegen, daß deutsche Menschen, die in den ersten Tagen der Besetzung nach 9 Uhr auf der Straße angetroffen, von den Soldaten in der Kirche eingeschlossen worden waren, dieselbe häßlich beschmutzten und sogar die alte Bibel ehrfurchtslos entblätterten.”

2. Die Lebenssituation

2.a. Die allgemeine Situation in Frankfurt

Die amerikanische Truppen Frankfurt fanden von den einstmals 550.000 Einwohnern noch 269.000 vor; in den Ruinen vor allem der Innenstadt, aber auch in vom Krieg kaum berührten Wohnvierteln. Ein Teil der Frankfurter empfand diese Besetzung als Befreiung, viele andere werden noch lange vom Zusammenbruch sprechen. Noch ist der Krieg nicht zu Ende, er wird noch sechs Wochen andauern, Aber in einer un-normalen Zeit beginnt in Frankfurt ganz langsam die Normalisierung. Die ist nicht leicht und wird länger dauern. Glücklich, wer ein Dach über dem Kopf, noch tragbare Kleidung und ausreichend zu Essen hat. Denn viele Wohnungen sind zerstört und dem, der den Bombenkrieg heil überstanden hatte, konnte es passieren, daß seine Wohnung von den Amerikanern beschlagnahmt wurde. So wurde z.B. das gesamte Wohngebiet zwischen Palmengarten und Oederweg, zwischen Wolfsgangstraße und Dornbusch zum Sperrgebiet. Reste davon konnten wir bis vor wenigen Jahren noch wahrnehmen. Und die offizielle Lebensmittelzuteilung reichte auch nicht aus. "Hamstern" hieß so nett, was mühsames und entwürdigendes Betteln um etwas Eßbares im Umland war. Selbst mancher ehemals korrekte Beamte versuchte, Notwendigstes auf dem Schwarzen Markt zu erstehen.

Als Verkehrsknotenpunkt bekam Frankfurt auch einiges mit von den Millionen Menschen, die in Deutschland bei nicht funktionierendem öffentlichem Verkehr unterwegs waren: die Kinder, die von der Kinderlandverschickung heim wollten; die Flüchtlinge und Ausgebombten; die Soldaten, die nicht länger in Gefangenschaft gehalten worden waren; die Ausländer, die, nach Deutschland verschleppt, wieder in ihre Heimat wollten oder mussten. Es war "die Stunde der Frauen", die vor allem die Last zu tragen hatten und dann, als es besser wurde, schnell wieder in die Rolle des Mütterchens am Herde zurückgedrängt wurden, wie es Christian von Krockow so schön beschrieben hat. Es war aber auch die Zeit der zerstörten Familien: Kinder, deren Eltern umgekommen oder von denen sie auf der Flucht getrennt worden waren; Vater gefallen, Kinder Halbwaisen; Ehemänner hatten eine andere Frau gefunden, Ehefrauen einen anderen Mann - die "Onkelehe" war sprichwörtlich. Wenn all dies nicht gegeben war, dann waren doch viele Heimkehrer an Körper und Seele gebrochen. Sie hatten sich an das Kommandieren, an das Töten und getötet werden gewöhnt und sollten nun wieder ganz normale Ehemänner und Väter sein. Pfr. Wilhelm Rau in Darmstadt erinnerte sich: „Wie manches Gesicht, müde und verhärmt, ist mir in Erinnerung, so manche zusammengesunkene Gestalt in abgeschabter Uniform, ohne Geld, Brot und Obdach..”2

2.b. Die kirchliche Situation

Auch die kirchliche Bilanz der Zerstörung war erschreckend. Aus einer zeitgenössischen Liste zitiere ich wahllos:

- Auferstehungsgemeinde Praunheim: Kirche weitgehend zerstört, Gemeindehaus mit Kindergarten total zerstört, Pfarrhaus total zerstört.

-Luthergemeinde Bornheim: Kirche und Gemeindehaus total zerstört, beide Pfarrhäuser schwer beschädigt.

- Nazarethgemeinde Eckenheim: keine baulichen Schäden

- Weißfrauengemeinde Innenstadt: Kirche total zerstört, Gemeindehaus beschädigt.

Aber nicht nur dies. Ein großer Teil der Gemeindeglieder war einfach nicht mehr da. Pfarrer, Küster, Kirchenmusiker waren zu einem erheblichen Teil im Krieg und noch nicht zurückgekehrt. Kindergärten ausgelagert, zum Teil mit der gesamten Einrichtung. Und auch interne Spannungen gab es. Da waren die, die der Bekennenden Kirche angehört hatten. Sie hatten sozusagen gewonnen und wollten den totalen Neuanfang. Und es gab die, die zu den Deutschen Christen gehört hatten, und nun die Verlierer waren. Und dann der Einheitsblock, der immer pragmatisch gehandelt hatte und nun auch pragmatisch an den Wiederaufbau gehen wollte, anknüpfend an das, was vor 1933 gewesen war. Viele Jahre noch werden diese Spannungen die kirchliche Diskussion prägen.

Karl Goebels beschrieb später die "tiefgreifende äußere und innere Zerstörung der Kirche". 27 Kirchen und 15 Gemeindehäuser seien zerstört oder unbenutzbar, die Gemeinden der Innenstadt weithin zerstreut und entvölkert, von 58 Pfarrern 29 außerhalb Frankfurts. Ein großer Teil der Gemeinden sei durch den Kirchenkampf nicht berührt worden "und den uns in diesem Ringen geschenkten Erkenntnissen kirchlicher Erneuerung noch verschlossen". Die unter kirchenfremden Gesichtspunkten gebildeten Kirchenvorstände seien nicht funktionsfähig. Über 50% der Pfarrer hätten den DC oder NSDAP angehört. Immerhin wohnten nach der Rückkehr vieler Evakuierter wieder 244.000 Evangelische in Frankfurt. Die Vorläufige Leitung habe geordnete finanzielle Verhältnisse übernommen. Da während der Kriegsjahre bauliche Maßnahmen hätten zurückgestellt werden müssen, hätte man Rücklagen vorgefunden, die inzwischen den Gemeinden für die Wiederherstellung ihrer Gebäude zur Verfügung gestellt werden konnten. Für den Wiederaufbau des kirchlichen Lebens sei es notwendig die großstädtischen Massengemeinden aufzugliedern. Noch bevor das Hilfswerk der Kirchen tätig geworden sei, habe die Kirchenleitung zur "Evangelischen Volkshilfe" aufgerufen. Durch Beiträge seien so 384.349,- und durch Kollekten 175.416,- Reichsmark zusammengekommen. Die Steuerung habe das diakonische Werk der Frankfurter Kirche gehabt, der Evangelische Volksdienst, der dann mit dem Hilfswerk eng zusammen gearbeitet habe.

3. Erste Notmaßnahmen

3.a. Die Herstellung der Handlungsfähigkeit

Das Kriegsende hatte ja nicht nur das Ende des politischen Systems "Nationalsozialismus" gebracht sondern auch das der von ihm durchgesetzten und dominierten Kirchenorganisation. Für Frankfurt bedeutete es, dass auch das System „Evangelische Kirche in Nassau-Hessen” nicht mehr existierte. Es bestanden jedoch die bruderrätliche Struktur der Bekennenden Kirche und die Stadtsynodalverbände fort. An diese beiden knüpfte deshalb auch die Neuorganisation an. Gegen Ende des Krieges3 hatte die Bekennende Kirche die beiden Pfarrer Otto Fricke und Karl Goebels beauftragt, am Tag X die Verantwortung zu übernehmen. Eine solche Absprache hatte höchste Lebensgefahr für die Beteiligten bedeutet. Wurde das verraten, drohte das Todesurteil wegen Defaitismus. Die Absprache zeugt also von dem großen Vertrauen, das die Beteiligten zueinander hatten.

Dementsprechend forderte Pfarrer Fricke kurz nach dem Einmarsch der Amerikaner den Propst für Frankfurt, Pfarrer Erich Meyer auf, sein Amt niederzulegen. Der tat das auch. Am 11. April 1945 versammelte sich dann die Frankfurter Pfarrerschaft, soweit dies den einzelnen möglich war, und setzte einen Vierer-Ausschuß ein, der aus den beiden BK-Pfarrern Otto Fricke und Karl Goebels sowie den dem Einheitsblock angehörenden Pfarrern Ernst Nell und Arthur Zickmann bestand. Am 8. Mai 1945 stellte die Pfarrerschaft in einer erneuten Versammlung fest, "daß der Vierer- Ausschuß die vorläufige Leitung der Evangelischen Kirche in Frankfurt am Main ist." Am 08.05.1945 konstituierte sich der Viererausschuss, als Vorläufige Leitung der evangelischen Kirche in Frankfurt (VLtg)4. Der Vorsitz wurde Karl Goebels übertragen. So reaktivierte man zwar übergangsweise die alte Struktur; aber es gab keine Zweifel, dass Frankfurt in einer gemeinsamen Kirche bleiben würde. Man ging davon aus, dass die Landeskirche Nassau-Hessen weiter besteht, und sprach deshalb von der "Evangelischen Kirche in Frankfurt am Main", nicht von einer Landeskirche. Die Außenvertretung sollte Otto Fricke wahrnehmen, der hierfür auch den Titel "Stadtpfarrer" erhielt. In Anknüpfung an die alte Frankfurter Verfassung stellte man fest, dass der Stadtsynodalverband unangetastet geblieben sei, setzte aber den alten Vorstand ab und übernahm dessen Aufgaben. Allerdings erschien diese Lösung schon bald als mit den Rechten der Gemeinden nicht vereinbar. Deshalb schuf man am 26.9.1945 einen Verwaltungsausschuss, der die Vorstandsaufgaben vorübergehend wahrnehmen sollte und dem man die Bezeichnung Vorstand gab.

Was tat diese Leitung nun zunächst? Noch im Mai 1945 gründete der Vorstand des Gemeindeverbandes eine Stiftung zur Unterstützung erholungsbedürftiger Mütter und Kinder. Er nannte sie nach dem Frankfurter Pfarrer und langjährigen Vorsitzenden des Evangelischen Volksdienstes Adalbert-Pauly-Stiftung.

Mitte Mai richtete die Vorläufige Leitung ein Wort an die Mitchristen, Brüder und Schwestern zu Pfingsten 1945:

... Mit unserem ganzen Volk kommt unsere Kirche her aus einer Zeit grosser Not und Anfechtungen. Was ohne Gott begonnen wurde und Gottes Namen in Wort und Werk immer deutlicher lästerte, das musste enden in Elend und Vernichtung. Heute wissen wir alle: Wir waren 12 Jahre lang im Banne einer Macht, die dem Bösen diente, und das Ergebnis ist vor aller Augen: unsägliches Leid wurde über Menschen, über ganze Völker und besonders über das Volk der Juden gebracht. Gottes Ebenbild im Menschen wurde entstellt und verwüstet. Nachdem einmal Gottes heilige Gebote ausser Kraft gesetzt waren, gab es nichts mehr, was heilig war. Es schwand die Ehrfurcht vor dem Leben, vor dem Eigentum, vor Gut und Blut. Die Gerechtigkeit wich aus unserm Volke und die Lüge triumphierte.

Wir haben den Krieg mit den übermenschlichen Leistungen unserer Brüder an den Fronten erlebt. Wir können nicht vergessen, wieviel ehrliches Wollen und opferwilliges Dienen für die Zukunft unseres Volkes offenbar geworden und mit der Hingabe von Leben und Blut für das Vaterland bezahlt worden sind. Wir haben aber auch den Krieg in all seiner Schrecklichkeit durchlitten: Unzählige trauern um ihre Lieben, die gefallen oder vermisst sind, Frauen und Kinder haben in Bombennächten ihr Leben lassen müssen, Häuser und Wohnungen wurden zerstört und die Kirchen liegen in Trümmern. Gewiss hat der Krieg seine Wurzeln in den Sünden aller Völker, aber wir haben in dieser Stunde der Heimsuchung nicht auf die anderen zu sehen, sondern auf uns. Wir sind vor Gott gefordert und erkennen sein Gericht über uns, über unser Volk. Gott denkt in Völkern. So sucht er an Völkern heim, was ihre Regierungen und Mächtigen und deren Mittäter sündigen. Hier beginnt unsere Busse. Wir beugen uns unter alle Not, die über uns gekommen ist und noch über uns kommen mag und bekennen stellvertretend für unser Volk: „An dir, Herr, haben wir gesündigt und Unrecht vor dir getan....”5

Bereits in der zweiten Sitzung der Vorläufigen Leitung am 16. Mai berichtete Fricke, dass die Militärregierung die Überprüfung aller kirchlichen Mitarbeiter nach ihren Richtlinien durch die Kirche selbst vornehmen lassen wolle. Er habe dafür die Bildung eines Ausschusses vorgeschlagen. Daraufhin benannte die Vltg. für den Ausschuss Dr. Heinrich Heldmann, Dr. Hans Wilhelmi und Dr. Otto Schumann. In der Sitzung am 30. Mai bat die VLtg den Ausschuss, am 4. Juni zusammenzutreten, um eine Geschäftsordnung festzulegen sowie einen kirchlichen und einen politischen Fragebogen zu entwerfen. Außerdem nannte sie vordringliche Fälle.

In einer Plenarsitzung am 24. September 1945 beschloss die Frankfurter Vorläufige Leitung zusammen mit den anderen beiden Vorläufigen Leitungen von Hessen und Nassau, dass man sich einig sei, die Landeskirche zu erhalten. Man bestimmte einen Verbindungsausschuss, der u.a. die notwendigen Schritte zu einer endgültigen Ordnung, zur Vertretung der Landeskirche nach außen und zur Erledigung der Geschäfte der Landeskirche unternehmen sollte.

3.b. Diakonie

Dann ging es natürlich auch für die Kirche zunächst darum, not-wendend tätig zu sein. Wegen der Rolle eines Teils der Kirche im Kirchenkampf und trotz der engen Verbindung eines anderen Teils mit dem Nationalsozialismus galt die evangelische Kirche bei der Besatzungsmacht und im Ausland als nicht belastete Institution. Bei der Verteilung der Hilfsgüter aus dem Ausland, die in reichlichem Maße flossen - Quäkerspeisung, Care-Pakete - vertraute man deshalb der Kirche. Hierzu wurde im Herbst 1945 das Evangelische Hilfswerk gegründet. In Frankfurt halfen der Verein für Innere Mission und der dem Evangelischen Gemeindeverband angeschlossenen Evangelische Volksdienst mit. Was hieß das? Im Herbst 1945 wurden von den Hilfsorganisationen als besonders dringlich angesehen: die Kartoffel- und Kleidersammlung, die Brennstoffsammlung und die Errichtung von Volksküchen.Immerhin lebten im Herbst 1946 wieder 446.000 Menschen in Frankfurt, darunter nicht wenige Flüchtlinge aus dem Osten.

3.c. Die Gebäudefrage

An einen Wiederaufbau der Gebäude war vorerst überhaupt nicht zu denken war. Es fehlte an Geld und es fehlte vor allem an Material. Völlig zur Recht hatte die Stadt Frankfurt im Rahmen der Bewirtschaftung aller lebensnotwendigen Güter dafür gesorgt, dass Baumaterialien zunächst nur für Baumaßnahmen der städtischen Infrastruktur zur Verfügung gestellt wurden. Für die Kirche bedeutete das, dass mach die Ruinen sichern musste - auch vor dem Diebstahl von Buntmetall-, dass das Aufräumen auf den Trümmergrundstücken begann, dass man Behelfsräume für die ersten Zusammenkünfte und Gottesdienste suchte und dass es in den ersten Jahren nur in einigen Fällen möglich war, wenigstens eine einfache Holz- oder Steinbaracke zu errichten. Entscheidendes änderte sich erst nach der Währungsreform am 20.6.1948. Danach erst standen Baumaterialien allgemein zur Verfügung. Nur war für manche Kirchengemeinde nun das vorher gesammelte Geld nichts mehr wert. Noch im Jahre 1951 war der Wiederaufbau durch den Krieg zerstörter Gebäude erst zu 31 % bewältigt. Und die Älteren werden sich ja noch erinnern, wie viele Kriegsschäden auch 10 Jahre nach Kriegsende nicht behoben waren und dass die Bebauung des Römerbergs erst mehr als 20 Jahre nach Kriegsende abgeschlossen wurde.

Speziell beim Wiederaufbau der Kirchen stellten sich dann ganz spezielle Rechtsfragen. Die Ruinen der Weißfrauenkirche in der Weißfrauenstraße und die deutsch-reformierte Kirche am Kornmarkt standen der Verkehrsplanung im Wege. Über ihre Standorte verlaufen die heutige Weißfrauenstraße und die Berliner Straße. Dafür wurde die reformierte Gemeinde abgefunden und der Gemeindeverband erhielt die Dominikanerkirche. Denn die Weißfrauenkirche gehörte zu den Dotationskirchen, die die Stadt der lutherischen Gemeinde 1830 zum immer währenden Gebrauch überlassen hatte. Außerdem wollte die Stadt nun die Paulskirche, ebenfalls eine Dotationskirche, übernehmen, um hier zum Paulskirchen- und zum Goethejubiläum einen repräsentativen Veranstaltungsort zu schaffen. So wurden die Rechte an der Paulskirche ebenfalls ausgetauscht, nun gegen das Dominikanerkloster. Das bedeutete, dass das Dominkanerkloster und die Dominikanerkirche wie die anderen Dotationskirchen St. Katharinen und St. Peter, Alte Nikolaikirche und Dreikönigskirche durch die Stadt wieder hergestellt werden mussten. Doch war hierbei und insgesamt beim kirchlichen Wiederaufbau nicht an schnelle Lösungen zu denken, weil dazu die Gelder fehlten. Deshalb nahm der Evangelische Gemeindeverband dann gegen den Widerstand der EKHN Kredite auf, deren Rückzahlung über laufende Zahlungen der Stadt und der EKHN als Kirchensteuerzuweisungen gewährleistet wurden.

3.d. Die Schuldfrage

Der von der Vorläufigen Leitung eingesetzte Ausschuss legte am 15. Juni der Vltg Grundsätze für die Beurteilung des Verhaltens der Geistlichen, Kirchenbeamten und kirchlichen Angestellten zur NSDAP vor6. Die DC wurden nicht genannt. Eigenartiger Weise betrafen diese Grundsätze nur die politische Haltung, nicht aber die kirchenpolitische. Die genannten Grundsätze offenbarten die Sicht der Unterzeichner auf den Nationalsozialismus. Hitler und seine Genossen hätten den Angriff von Millionen deutschen Arbeitslosen auf den Staat organisiert. Die Bewegung habe sich mit einer Ideologie umgeben, die vorgab, die Notlage des deutschen Volkes zu beseitigen. Sie hätte den Verlust des 1. Weltkrieges aus dem Verrat der Linksparteien erklärt und die Revolution als allein verursachend hingestellt. Die Anziehungskraft der Persönlichkeit Hitlers sei rational nicht zu erklären. Dazu zitierten sie Goethe (20. Buch von „Dichtung und Wahrheit”), der sich dort über das Dämonische auslässt, das sich nicht immer in den vorzüglichsten Menschen zeige, aber unglaubliche Gewalt über die Menschen habe.

Die Anhängerschaft Hitlers ordneten sie drei Kategorien zu: 1. Anhänger aus Überzeugung, sei es, dass sie seiner Ideologie an hingen, sei es dass sie in die Partei eintraten, um die Richtung mit zu bestimmen, sei es dass sie der Dämonie erlagen. 2. Anhänger aus Eigennutz, insbes. gescheiterte Existenzen, auch die Halbintelligenz, die sich zu Höherem berufen fühlte, ohne den Anforderungen gewachsen zu sein. 3. Die größte Zahl aber sei durch Erpressung Mitglied geworden oder geblieben. Hierzu gehörten die jungen Leute, die um einer Anstellung wegen Mitglieder wurden. Auch jene, die ihren Beitritt bereut haben, aber durch das Austrittsverbot daran gehindert wurden, aus zu treten. Für die gestellte Aufgabe sei wichtig, dass Geistliche nicht zum Beitritt gezwungen worden seien. Grundsätzlich müsse jeder die Verantwortung für seinen Beitritt tragen; vor allem wenn jemand nach den Nürnberger Gesetzen vom 15.09.1935 eine Tätigkeit in der Partei ausgeübt habe.

Das Ausland mache das gesamte Volk für die Untaten des Nationalsozialismus verantwortlich. Dem müsse entgegen gehalten werden, dass die übergroße Mehrheit daran nicht beteiligt gewesen sei oder sie auch nur gekannt hatte. Eben darum seien die Bediensteten der Kirche zur Verantwortung zu ziehen, die Arbeit und Taten der Partei gefördert hätten. Sollten sie ihre Sünde in Reue und Buße bekannt haben und versucht haben, die Folgen wieder gut zu machen, werde dies gebührend berücksichtigt. So die Grundsätze.

Als Antwort teilte die Vltg. dem Ausschuss ihren Beschluss vom 27.06.1945 mit7. Danach wollte sie in Übereinstimmung mit den vorgelegten Grundsätzen handeln, könnte aber mit konkreten Entscheidungen nicht bis Abschluss der Verfahren des Ausschusses warten. Deshalb fordere sie nun vor Beauftragung von Personen mit dem kirchlichen Dienst eine eidesstattliche Erklärung folgenden Inhalts:

1. Ich bin nicht Mitglied der NSDAP oder ihrer Gliederungen gewesen bzw. ich habe kein Amt in der Partei oder ihren Gliederungen ausgeübt seit 1935 und mich den christentumsfeindlichen und unmoralischen Tendenzen der Partei nach Kräften widersetzt.

2. Ich bin nicht Mitglied der Bewegung „Deutsche Christen” gewesen bzw. ich habe seit 1935 diese Bewegung nicht mehr unterstützt.

3. Ich erkläre mich einverstanden mit der theologisch-kirchlichen Grundlage, die in den Veröffentlichungen und Anschreiben der vorläufigen Leitung der Evang. Kirche in Frankfurt a. Main deutlich gemacht worden ist …

Für die Überprüfung wurden Fragebögen wie der folgende nassauische verwendet:

Haben Sie der nationalkirchlichen Einung „Deutsche Christen” (Thüringer Richtung) oder irgend einem anderen Verband „deutscher Christen” angehört?

Haben Sie sich in der Bewegung Deutsche Christen aktiv betätigt durch Vorträge oder Werbung?

Haben Sie Gottesfeiern oder Gottesdienste gehalten?

Haben Sie dem Gottesdienst die Liturgie der Deutschen Christen zugrunde g elegt oder die Liturgie der nach dem Muster der Deutschen Christen abgeändert und wie?

Haben sie im Gottesdienst das deutsch-christliche Gesangbuch „Großer Gott wir loben Dich” allein oder neben dem nassauischen Gesangbuch oder das letzte allein in Gebrauch gehabt?

Haben Sie die vorgeschriebenen kirchlichen Formen der Taufe, der Konfirmation und der Abendmahlsfeier sowie der Trauung und Bestattung abgeändert und wie?

Haben Sie zu den liturgischen Änderungen die Genehmigung des Kirchenvorstandes und der Kirchenbehörde eingeholt?

Haben Sie bei gottesdienstlichen Feiern jemals Hitlerbilder auf dem Altar aufgestellt?

Wie haben Sie sich gegenüber den nicht-arischen Christen Ihrer Gemeinde verhalten?

Als Ergebnis der Arbeit des Untersuchungsausschusses wurden, abgesehen von einigen Versetzungen innerhalb Frankfurts, die Pfarrer Knab, Petermann und Schulz in den Ruhestand versetzt und Pfarrer Falk in den einstweiligen Ruhestand; die PfarrerIrle und Redhardt mussten Frankfurt ins übrige Kirchengebiet der EKHN verlassen; PfarrerProbst konnte nicht zurückkehren. Propst Trommershausen und Pfarrer G. A. W. Meyer waren schon vorher verstorben.

Andererseits stand die (vorübergehende) Mitgliedschaft bei den Deutschen Christen der Übernahme von Leitungsämtern durch die Pfarrer Huth (Evangelischer Volksdienst), Schubert (Pfarrerverein und Dekan) und Wagner (Dekan) ebenso wenig im Wege wie die NSDAP-Mitgliedschaft bei den Pfarrern Petersen (Dekan) und Zickmann (Vorsitzender des Evangelischen Gemeindeverbandes). Pfarrer Deitenbeck blieb Dekan.

Von den BK-Pfarrern wurden Goebels und Rau Pröpste, Bremer, Klein, Schmidt und Welke Dekane und Fricke Beauftragter für das Evangelische Hilfswerk.

4. Wiederaufbau

4.a. Wiederaufbau der Gemeinden

Daneben erhielt auch das Gemeindeleben neue Impulse. Mancher entdeckte neu das Bild von der Gemeinde als sozialem Organismus und mancher konnte nun verwirklichen, was im Dritten Reich nicht möglich gewesen war: eine Gemeinde, die nicht nur Gottesdienstgemeinde ist, sondern christliche Gemeinschaft für und mit vielen pflegt: mit Jungen und Alten, mit Männern und Frauen, mit Arbeitern und Akademikern. Diese Gemeinde sollte tätig sein, auch diakonisch, auch in der Bildungsarbeit usw. Alles unter einem Dach, in einer Organisation und nicht von der Gemeinde getrennt in vielfältigen Vereinen wie früher. In dem fünfzehn Jahre später errichteten Gemeindezentrum der Heilandsgemeinde in Bornheim trat uns dies noch lange vor Augen: unter einem Dach Kirche und Gemeindesaal, daneben verschiedenste Gruppenräume und Pfarrwohnungen, daran angebaut der Kindergarten, an diesen anschließend das Altenheim, und im Taunus das Familienlandheim. Liest man in alten Berichten, dann wurde auch von der Verlebendigung des Gottesdienstes gesprochen, von mehr Öffentlichkeitswirken und Öffentlichkeitsarbeit, schuf man Jugendheime und widmete sich den Zeitthemen. Im Jahre 1949 wurde auf einem Trümmergrundstück in der Brentanostraße in einer Holzbaracke die Mütterschule errichtet. Die Gemeindeglieder nahmen dies alles nach den Jahren des Schreckens gerne an. Waren sie doch für all das aufnahmefähig wie ein trockener Schwamm. Volle Häuser gab es und mehr und mehr eine Stimmung, Kirche lebe in einer Zeit unbegrenzten Wachstums.

4.b Wiederaufbau der Frankfurter Kirchenorganisation

Dieser Zustand dauerte bis zum 15. April 1948. An diesem Tage trat erstmals eine neue Gemeindevertretung zusammen. Trotz oder vielleicht auch wegen der Feststellung, dass der Stadtsynodalverband das Dritte Reich unangetastet überstanden hatte, kam man zu der Überzeugung, daß eine Neuorganisation des Verbandes anstünde. Auf der Grundlage eines Entwurfes von Pfarrer Nell und der Vorarbeit eines Verfassungsausschusses beschloss die Gemeindevertretung am 9.Februar 1949 die neue Satzung des nunmehr "Gemeindeverband der evangelisch-lutherischen und evangelisch-unierten Kirchengemeinden in Frankfurt am Main" genannten Verbandes. Nach zähen Verhandlungen mit der Gesamtkirche wurde diese Satzung schließlich am 6. Mai 1953 von der Synode der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau genehmigt. Dabei hielt die Synode fest: "Der Gemeindeverband hat kein eigenes Recht, er nimmt aber die Rechte und Pflichten der ihm angehörenden Kirchengemeinden in Frankfurt am Main gemäß Artikel 13 Abs.4 der Kirchenordnung der EKHN wahr, soweit ihm diese übertragen sind." Hier wird deutlich, dass in der Gesamtkirche die Sorge bestand, der Gemeindeverband könnte unter Berufung auf die Frankfurter Tradition so etwas wie eine Kirche in der Kirche werden. Traditionell war in den drei Kirchengebieten das Verhältnis zwischen Einzelgemeinde und zentraler Kirchenverwaltung unterschiedlich gewesen. Humorvoll drückte der damalige Kirchenpräsident Martin Niemöller es einmal so aus: "Frankfurt möchte am liebsten mit der Kirchenverwaltung gar nichts zu tun haben, Hessen möchte alles zentral geregelt sehen und Nassau erwartet, dass die Kirchenverwaltung jeweils das tut und verantwortlich denkt, was die einzelne Gemeinde nicht tun kann oder zu tun sich getraut." Viel hat sich da bis heute nicht geändert. Dann wurde doch mit überwältigender Mehrheit Pfarrer Nell zum Vorsitzenden gewählt. Rückblickend wird zweierlei deutlich: der Gemeindeverband als Selbstverwaltungsorganisation war offenbar auch zu anderen Zeiten von der Gesamtkirche nicht so gerne gesehen; Spannungen zwischen Propstamt und Vorsitzendenamt wurden von Anfang an befürchtet.

5. Frankfurt und die Gesamtkirche

5.a Vereinigungsverhandlungen

Angesichts der schwierigen Gesamtsituation war an größere Versammlungen mit Teilnehmern aus dem ganzen Kirchengebiet überhaupt nicht zu denken. Erst im Frühjahr 1946 erlaubte es die Infrastruktur mit funktionierenden Verkehrs- und Informationsmöglichkeiten, dass sich Kirchenvertreter aus dem ganzen Kirchengebiet in Frankfurt zur VII. Ordentlichen Tagung der Bekenntnissynode der evangelischen Landeskirche Nassau- Hessen treffen konnten. Gastgeber war die Frankfurter Paul-Gerhardt-Gemeinde mit ihrem Pfarrer Felix Rau. Zwischen 70 und 80 Personen, je zur Hälfte Pfarrer und Nichtpfarrer, nahmen an den Sitzungen teil. Zum Vorsitzenden des Landesbruderrates wurde Pfarrer D. Martin Niemöller gewählt, zum geschäftsführenden Vorsitzenden Pfarrer Lic. Wilhelm Fresenius (Frankfurt). Aus Frankfurt gehörten ihm weiter an die Pfarrer Dr. Alfred Adam und Martin Schmidt sowie Justizrat Dr. Friedrich Schmidt-Knatz und Kaufmann Hans Scheffner, zudem Rechtsanwalt Dr. Hans Wilhelmi als Präses der Synode. Die Vertretung der Kirche in der Öffentlichkeit wurde Pfarrer Lic. Otto Fricke (Frankfurt )übertragen.

Die wichtigste weitere Frage war die nach dem nach dem Fortbestand der "Evangelischen Landeskirche Nassau-Hessen". Nach den entsprechenden Wahlen trat der "Kirchentag der Evangelischen Landeskirche in Hessen, der Evangelischen Kirche in Nassau und der Evangelischen Kirche in Frankfurt a. M. am 30. September und 1. Oktober 1947 in der Burgkirche in Friedberg zusammen. Die Versammlung wählte bei 116 von 120 abgegebenen Stimmen Rechtsanwalt Dr. Hans Wilhelmi aus Frankfurt a. M. zum Vorsitzenden. In der Verfassunggebenden Synode plädierte dann für Frankfurt Rechtsanwalt Wilhelm Lueken für den Fortbestand der 1933 gegründeten Kirche und argumentierte damit, dass seinerzeit bei der Gründung keine rechtlichen Bedenken erhoben worden seien und dass sich durch die zwischenzeitliche Praxis ein Gewohnheitsrecht gebildet habe. Ganz in diesem Sinne beschloss dann der Kirchentag auch: "Der Kirchentag der Evangelischen Kirche in Hessen, Nassau und Frankfurt bestätigt den Zusammenschluss der evangelischen Kirche im Gebiet der früheren Landeskirche Nassau-Hessen kirchlich und rechtlich. Die Kirche trägt den Namen. "Evangelische Kirche in Hessen und Nassau".

5.b. Die Schuldfrage

Im "Wort an die Gemeinden" nahm die Bekenntnissynode Bezug auf das Wort des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland an die Vertreter des Ökumenischen Rates der Kirchen vom 18./19.10.1945. Wegen der kritischen Diskussionen um diese Erklärung sah sich die Bekenntnissynode veranlasst, "ausdrücklich zu bezeugen: Weil wir als Gemeinde Jesu Christi besondere Verantwortung für unser Volk tragen, bekennen wir uns schuldig. Haben wir nicht gewußt um die Entsittlichung in unserem Volk, die Zerreißung der Familien, die Entkirchlichung und Verrohung der Jugend? Haben wir nicht um die Verfolgung und Verschleppung der Juden gewußt? Haben wir nicht um die Vernichtung des sogenannten "lebensunwerten Lebens" gewußt? Haben wir nicht von dem mancherlei Unrecht gewußt, das in unserem eigenen Volke und an unterworfenen Völkern verübt worden ist? Wir rufen deshalb unsere Gemeinden auf, sich mit uns unter diese Schuld zu beugen. Wir rufen unsere Gemeinden auf, den Geist der Vergeltung nicht in unserer Mitte zu dulden. Anstatt andere anzuklagen und allein zu belasten, wollen wir die Schuld gemeinsam tragen und nicht in Selbstgerechtigkeit verfallen. Denn unser ganzes Volk - auch die Kirche und die verschiedenen Widerstandsgruppen - hat dem Unrecht des nationalsozialistischen Staates nicht klar und deutlich genug gewehrt." Die Erklärung des Rates der EKD ist als "Stuttgarter Schuldbekenntnis" in die Geschichte eingegangen. Sie war das geforderte Eintrittsbillet für die Wiederaufnahme der deutschen Kirche in die Gemeinschaft des ökumenischen Rates der Kirchen. Allerdings wurde sie nicht von der Mehrheit der evangelischen Christen mitgetragen. Gegenüber den schon damals aber auch als schwammig empfundenen Formulierungen zeichnet sich das "Wort an die Gemeinden" dadurch aus, dass es das Unrecht beim Namen nennt. Andererseits mutet es merkwürdig an, dass hier eine Gemeinschaft mit dem "Widerstand" gesehen wird, der doch dem NS-System als solchem entgegen trat, währen sich die BK ganz überwiegend nur gegen die Eingriffe des Staates in kirchliche Organisation und kirchliches Leben wehrte. Manches klingt auch so, als würden die Opfer nun zur Solidarität mit den Tätern aufgerufen.

Das "Wort an die Großhessische Staatsregierung" enthielt vor allem Kritik am sogenannten Entnazifizierungsverfahren: "Wir erkennen die Notwendigkeit der Reinigung des deutschen Volkes vom nationalsozialistischen und militaristischen Geist an und würdigen die Absicht, dieser Notwendigkeit durch ein Gesetz zu entsprechen ? können uns aber der Befürchtung nicht verschließen, daß in der Praxis des Gesetzes vermeintliches Recht sich als Unrecht auswirkt. Denn wir haben alle irgendwie versagt und haben Unrecht im nationalsozialistischen Staat nicht klar und eindeutig genug gewehrt. Darum geht es nicht an, daß einzelne Teile des Volkes sich der Solidarität der Schuld entziehen, indem sie andere Teile des Volkes allein belasten. Darum muß gefordert werden, daß alle, die sich einer solchen strafbaren Handlung schuldig gemacht haben, die Strenge des Gesetzes zu spüren bekommen. Ohne solche Teilnahme an einer strafbaren Handlung darf aber unter keinen Umständen die Gesinnung allein unter Strafe gestellt werden. Denn Richter der Herzen und Gedanken ist allein Gott... Ebenso bitten wir dringend, dem in dem Gesetz enthaltenen Grundsatz, wonach äußere Merkmale für sich allein nicht entscheidend für den Grad der Verantwortlichkeit sind, in der Praxis uneingeschränkt Geltung zu verschaffen und alle bisher verhängten Maßnahmen aufzuheben, die mit dem Gesetz nicht in Einklang stehen..... Wir fordern Gerechtigkeit, aber auch Barmherzigkeit, denn Richter und Gerichtete stehen beide unter einem höheren Richter." So richtig die Aussagen sind, erwecken sie doch den Eindruck, als sorge sich die Kirche jetzt mehr um das Schicksal derer, die dem NS-System nahe standen als um seine Opfer.

6. Schluss

Anfang Dezember 1945 notierte Pfarrer Karl Veidt: „Die ersten beiden Meilensteine 'Bußtag' und 'Totensonntag' liegen nun wieder hinter uns. Zum ersten Mal wieder nach langen Jahren der Friedlosigkeit und Vernichtung eine Adventszeit, die eine gewisse Ähnlichkeit mit früher hat. Wir wissen noch nicht recht, wie wir das fertigbringen sollen, in dieser veränderten Zeit Advent und Weihnachten zu feiern, aber wir wollen Gott dankbar dafür sein, daß er uns wie Schiffbrüchige durch die Todesschrecken der vergangenen Jahre hindurch den rettenden Strand hat erreichen lassen. Nun wollen wir uns mit dem neuen Kirchenjahr auch einen neuen Anfang schenken lassen.”8

150 Jahre Evangelische Kirche in Hessen und Nassau, S. 88.

250 Jahre EKHN, S. 117.

3Wintermann in KKD Bd. 8, S. 794.

4 Lueken, Kampf, Behauptung..., S. 199 f.; Archiv ERV Protokollkopien. Signatur?

550 Jahre EKHN, S. 107.

6 Vollnhals, Entnazifizierung, S. 58 ff.

7 Ebd., S. 60.

850 Jahre Evangelische Kirche in Hessen und Nassau, S. 98.

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