20 Jahre neues Kreisau

Einführung in den festlichen Empfang anläßlich der Preisverleihung „Von Kreisau nach Krzyzowa. Preis für nachhaltige Zusammenarbeit in Europa.” am 5. Juni 2009 in Kreisau

Jürgen Telschow

Meine Aufgabe ist es jetzt, eine Brücke zu schlagen; eine Brücke von den interessanten Vorträgen und Diskussionen des Nachmittags zu diesem festlichen Empfang und dem morgigen Vormittag, bei denen es mehr noch um die Arbeit der Stiftung Kreisau selbst geht.

Vom denkwürdigen 4. Juni 1989 war die Rede und auch von der Konferenz „Christen in der Welt”. Auch deren Zusammensetzung war denkwürdig. Mit den Historikern Karol Jonca aus Polen und Ger van Roon aus den Niederlanden waren zwei Männer anwesend, die schon seit vielen Jahren zum Kreisauer Kreis publiziert hatten. Vertreter des KIK in Breslau, ein polnischer Jesuit, junge evangelische Theologen aus Ostberlin, Westberliner, die später die Kreisau-Initiative gründeten, Bürger der Bundesrepublik Deutschland in der Tradition der Ostdenkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland und des Bensberger Kreises, Mitglieder der Eugen-Rosenstock-Huessy- Gesellschaft, u.a. aus den Niederlanden, Gäste aus den USA und andere mehr, ein buntes Spektrum. Etliche hatten sich in den oppositionellen Bewegungen engagiert. Nicht wenige hatten sich seit vielen Jahren um die Verständigung zwischen Polen und Deutschen bemüht. Und im Hintergrund stand die Familie von Moltke. Es war eine Runde, die auch die Aufbruchstimmung dieser Zeit verkörperte. Und es war der Anfang dessen, was wir, auch dank der finanziellen Hilfe des polnischen und des deutschen Staates, heute feiern können, des „neuen Kreisau”. Dabei sollten wir dankbar sein, dass das neue Kreisau trotz mancher krisenhaften Momente immer noch besteht. So ist es eines der wenigen steingewordenen und heute noch sichtbaren Zeugnisse dieser Wendejahre im östlichen Mitteleuropa. Und dies verdankt es, außer einem großen Kreis von Freunden und Partnern, vor allem einem sehr kleinen Kreis von ehrenamtlich und hauptamtlich für Kreisau Tätigen. Sie waren in all den Jahren eine „kleine Gemeinschaft”, zu der man auch Freya von Moltke rechnen muß, als den guten Geist von Kreisau. Diesem Kreis in seiner wechselnden Zusammensetzung möchte ich ganz besonders danken.

Nun hat es immer auch kritische Worte gegeben. Zu groß und zu teuer ist Kreisau, wird gesagt; aber das ist häufig so, wenn man historische Bausubstanz erhalten und nutzen will. Viel zu weit weg ist es, und in der Provinz liegt es, wird gesagt. Auch das stimmt und stellt uns vor besondere Herausforderungen. Aber denken wir doch einen Augenblick über letzteres nach. Sie haben das pulsierende Leben der Großstädte hinter sich gelassen und vielleicht den Weg von Breslau oder Liegnitz her gewählt. Sie sind zunächst durch das leicht wellige Land gefahren, dessen Grenzen in der Ferne zu zerfließen scheinen, und dann auf die stärker gegliederte Vorgebirgslandschaft zu. Aus der Weite wird hier durch Begrenzung Raum. Als Sie hinter Bolescin die Anhöhe erreicht hatten, hat sich vor Ihnen die Auenlandschaft der Peile geöffnet, eine Senke, eingerahmt von Mühlenberg und Kapellenberg im Nordwesten, das Eulengebirge im Süden, die Silhouette von Reichenbach im Südosten und den Zobten im Nordosten. Die Abgeschiedenheit und die Begrenzung machen den Reiz aus. Unten im Talkessel haben Sie den Gutshof betreten und sind wieder von diesem weiten Hof angetan gewesen. Doch auch der Zauber unseres Hofes kommt ja erst zustande durch die ihn begrenzenden Gebäude.

Ist das nicht merkwürdig? Der Mensch möchte eigentlich die Begrenzungen seines Lebens abstreifen. Und doch kommt er von ihnen nicht weg, er braucht sie sogar immer wieder. Wir können sie auch harmonisch finden, wie ich es eben an dieser Landschaft und diesem Hof beschrieben habe. Es scheint also, als gehöre zum Genius loci Kreisaus nicht nur dessen Geschichte mit den interessanten und bedeutenden Menschen, die hier gelebt haben, und den bewegenden Ereignissen. Seine Begrenztheit und Abgeschiedenheit gehören auch dazu. Für dieses Phänomen haben wir einen bekannten Gewährsmann, nämlich Johann Wolfgang Goethe. Das Erlebnis des turbulenten römischen Karnevals in der Enge einer abgesperrten Straße vermittelte ihm die Einsicht, dass Begrenzungen keine Hindernisse für extensives oder gelingendes Leben seien, sondern geradezu seine Bedingung; dass man das Leben nur an Grenzen binden muß, um es zu steigern. Diese Erkenntnis, dass aufgezwungene oder frei gewählte Begrenzungen des Lebens nicht notgedrungen gelungenes Leben verhindern, ist klug und menschenfreundlich zugleich; denn sie kann dazu verhelfen, vieles im Leben anders und positiv zu sehen. Und sie schließt ja überhaupt nicht aus, dass man sich der Grenzen bewußt wird oder sie kritisiert.

Zwei Kreisauer Beispiele können das bestätigen. Im Denken Helmuth James von Moltkes spielten die kleinen Gemeinschaften eine besondere Rolle, die kleinen Gemeinschaften. In einer Zeit, da alles groß, gewaltig, ja grenzenlos sein musste – man denke nur an die Reden von Hitler und Göbbels oder die Aufmärsche der Nationalsozialisten und Kommunisten – in dieser Zeit kommt jemand und sagt, der wahre Reichtum liegt in einem kleinen, abgegrenzten Teil der Gesellschaft, in der kleinen Gemeinschaft. Oder, bewegender noch. In seiner Moltke-Biografie zitiert Günter Brakelmann Freya von Moltke mit: „Wir hatten fast vier Monate Zeit, um Abschied voneinander zu nehmen, ein Mann und eine Frau. Der Höhepunkt unseres gemeinsamen Lebens – die schwerste Zeit unseres gemeinsamen Lebens.” Gegen den Strom der Zeit wird behauptet, dass die überschaubare Gemeinschaft gelingendes Leben ermöglicht. Und gegen die allgemeine Meinung wird von der Erfahrung erzählt, daß die Trennung durch die Haft und der drohende Tod gelungene Partnerschaft, gelungenes Leben ermöglicht haben. Das macht Mut und das gibt Hoffnung.

Anders als vor zwanzig Jahren können wir viel einfacher als damals zusammen kommen und müssen nicht erst die trennenden Staatsgrenzen überwinden. Wir können heute diesen Hof erleben und unsere eigenen Begrenztheiten erfahren. Andererseits überwinden wir auf einmal sprachliche Barrieren zu anderen Menschen und überschreiten kulturelle Schranken zu anderer Herkunft, anderer Religion und anderer Nation. Viele von uns haben das hier schon erlebt, sonst wären wir heute hier nicht so zusammen. Auch anders als vor zwanzig Jahren müssen wir uns nicht mehr fragen, was können wir mit diesem Kreisau machen. Vielmehr können wir uns der wichtigeren Frage zuwenden, was macht Kreisau mit uns? Vielleicht können wir ja darauf antworten, dass es uns verändert.

Diese Veränderungen bewirkt aber nicht nur der Ort. Er ist eine Bedingung für gelingendes Leben und gelingende Gemeinschaft. Kreisau lebt auch, weil hier viele, unterschiedliche Menschen zusammenkommen, Gemeinschaft erleben, und diese dann in der Ferne weiterleben. Sie leben das weiter, indem sie sich Kreisau verbunden fühlen und für Kreisau engagieren. Kreisau lebt also mit und von seinen Partnern. Diese Partner sollen heute Abend im Mittelpunkt stehen. Viele wären zu nennen, nur einige können erwähnt und ganz wenige gewürdigt werden; Einzelpersonen und Organisationen. Eine erste Gruppe bilden die Vereinigungen, die der Stiftung Kreisau besonders verbunden sind und satzungsgemäß die eine Hälfte ihres Stiftungsrates stellen. Aus Polen: die Klubs der Katholischen Intelligenz in Breslau und Warschau, die Gesellschaft der Freunde Kreisaus in Breslau, die Südpolnische Provinz der Gesellschaft Jesu, und die Evangelisch-augsburgische Diözese Breslau. Aus Deutschland: die Kreisau-Initiativen Berlin und Würzburg, die Krzyzowa/Kreisau Stiftung in den USA, der Adolf-Reichwein-Verein in Berlin und die Freya von Moltke-Stiftung in Berlin. Eine zweite Gruppe bilden wichtige Geldgeber: die Republik Polen und die Bundesrepublik Deutschland, das Deutsch-polnische Jugendwerk, der Verein der Freunde und Förderer der Europäischen Akademie Kreisau, die Robert-Bosch-Stiftung und die F. C. Flick-Stiftung sowie die Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft. Eine dritte Gruppe bilden all die Partner mit denen wir vernetzt sind und zusammenarbeiten. Beispielhaft seien genannt die katholische Kirchengemeinde in Gräditz und die evangelisch-augsburgische Kirchengemeinde in Schweidnitz, die Edith-Stein-Gesellschaft in Breslau und die Universität Breslau, die Evangelische Akademie Berlin und die Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, die Altkönigschule in Kronberg, der Verein Antikomplex in Prag , unsere Partner in Lemberg und die Evangelische Kirchengemeinde in Charkow.

Weil Kreisau durch viele einzelne Menschen und solche Institutionen lebt, hat sich der Vorstand der Stiftung Kreisau für Europäische Verständigung entschlossen, künftig in unregelmäßigen Abständen einen Preis für nachhaltige Zusammenarbeit in Europa zu vergeben. Von Helmuth James von Moltke und seinen Freunden im Kreisauer Kreis können wir lernen, dass der einzelne Staat von kleinen Gemeinschaften heraufgebaut werden muß.
Ein Gleiches gilt das gemeinsame Europa. Das aber ist nur möglich, wenn viele einzelne Menschen, allein oder gemeinsam, aktiv sind. Das Kleine ist nötig, wenn das Große gelingen soll. Dieses Engagement soll der Preis, der jetzt vergeben wird, würdigen.

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