100er Geb. H.-J. v. Moltke
Vom Erinnern und Vergessen
Ansprache zu einem Empfang im Gemeindehaus der Evangelisch-Augsburgischen Kirche in Breslau am 21. April 2007 aus Anlaß des 100. Geburtstages von Helmuth James von Moltke
Wenn wir uns heute und morgen an den 100. Geburtstag von Helmuth James von Moltke erinnern, dann ist das schon ein merkwürdiges und denkwürdiges Geschehen. Helmuth James von Moltke: aus einem alten deutschen Adelsgeschlecht; Gutsbesitzer in Schlesien dank eines Urgroßonkels, der ein berühmter Militär war; mit der weiten Welt verbunden durch eine südafrikanische Mutter; ermordet, weil er einen Diktator nicht als letzte Autorität anerkennen wollte. Erinnert wird in seiner Heimat, die einmal Schlesien hieß und heute Slask heißt. Es geschieht in der Stadt, in der er studiert hat; damals war das Breslau und heute ist es Wroclaw. Es laden die Fundacja Krzyzowa - sein Besitz war einmal Kreisau - der Breslauer Verein der Freunde Kreisaus, die Kreisau-Initiative Berlin und die Bonhoeffer-Gesellschaft Breslau ein. In der alten reformierten Schloßkirche sind wir zu Gast bei der Evangelisch-Augsburgischen Gemeinde, den Lutheranern. In der einst katholischen, dann evangelischen und jetzt wieder katholischen St. Elisabethkirche findet eine Hl. Messe statt. Im Zentrum der Stadt und neben dem Bonhoeffer-Denkmal wird es eine Ausstellung „Helmuth James von Moltke in Niederschlesien” geben. Schirmherren sind der Bürgermeister der Stadt Breslau, der Generalkonsul der Bundesrepublik Deutschland, der Präsident der Universität Breslau, der evangelische Bischof in Breslau und der katholische Erzbischof in Breslau. Hält man sich dies vor Augen, ist es nicht, als wenn man in einem Geschichtsbuch blätterte? Denn was hat dieses schöne Land zwischen den Jahren 1907 und 2007 nicht alles an Veränderungen erlebt, auch an schrecklichen Veränderungen? Und wer hat sich da nicht alles zusammengetan, um eine früheren Schlesier zu ehren? Was ist Breslau doch für eine weltoffene Stadt und wie gastfreundlich und geschichtsbewußt im besten Sinne des Wortes sind doch seine Bewohner. Denn das, was hier geschieht, ist, jenseits aller Irritationen auf höchster politischer Ebene, auch eine Realität polnischdeutscher Nachbarschaft und deutschpolnischer Geschichte dieses Landes. Dieses Geschehen ist es also wert, daß man darüber nachdenkt und daß man es sich merkt. In Erinnerung behält, so wie jene Versöhnungsmesse von 1989, die nicht der Anfang aber der große Beschleuniger dessen war, was als Begegnung in Kreisau heute möglich ist und auch geschieht.
Denn unser Gedächtnis ist ja zum Erinnern geschaffen, aber eben auch zum Vergessen. Beides hat seine Vorzüge und Nachteile. Die Erinnerung läßt uns von positiven Eindrücken positiv in Vergangenheit und Zukunft sehen. Das Vergessen bewahrt uns davor, durch Negatives für die Zukunft belastet zu werden. Umgekehrt kann uns die Erinnerung belasten und das Vergessen verhindern, daß wir aus Fehlern lernen. Zu viel von beiden oder zu wenig von beiden macht uns zukunftsunfähig. Das gilt für den Einzelnen wie für eine Gesellschaft. Können wir z. B. positive Kräfte aus der Erinnerung an den Widerstand gegen Faschismus und Kommunismus gewinnen? Können wir mit ein bißchen Vergessen den Abschiedsschmerz von lieben Menschen oder von der verlorenen Heimat erträglich gestalten? Wohl dem, der es kann.
Mit zwei Goetheworten können wir uns noch andere Aspekte vor Augen halten: „ Wer bloß mit dem Vergangenen sich beschäftigt, kommt zuletzt in die Gefahr, das Entschlafene, für uns mumienhaft Vertrocknete, an sein Herz zu schließen. Eben dieses Festhalten aber am Abgeschiedenen bringt jederzeit einen revolutionären Übergang hervor, wo das vorstrebende Neue nicht länger zurückzudrängen, nicht zu bändigen ist, so daß es sich von Allem losreißt, dessen Vorzüge nicht anerkennen, dessen Vorteile nicht benutzen will.” So bewegen auch wir uns ständig zwischen dem Verliebt-Sein in die Vergangenheit, das Fortschritt hemmt und große wie kleine Revolutionen provoziert, und dem Sein, das Friedrich Nietzsche „Legionär des Augenblicks” genannt hat. Als jemand also, der die Vergangenheit nicht kennen will und gehetzt und ohne Orientierung in die Zukunft stolpert.
Doch es ist noch schlimmer, denn immer wieder wurde und wird aus ideologischen, religiösen oder politischen Gründen der Versuch unternommen, uns von der Vergangenheit abzuschneiden. Die Väter der Französischen Revolution mit ihrer neuen Zeitrechnung und die Nationalsozialisten mit der Ausmerzung alles Jüdischen aus der deutschen Kultur oder dem Verstreuen der Asche von Helmuth James von Moltke sind nur drei Beispiele für solche Herrschaftssysteme. Ein Gleiches gilt für die gezielte Zerstörung historischer Stätten im Zweiten Weltkrieg durch Luftangriffe und auf andere Weise, in Warschau genauso wie in Dresden und anderswo. Und, wer früher oder heute in Deutschland mit dem Argument der fehlenden Authentizität gegen die Rekonstruktion zerstörter Städte oder Gebäude focht oder ficht, machte oder macht sich zum Gehilfen derer, die Erinnerung unmöglich machen wollen. Man verfolge hierzu die Wiederaufbaudiskussionen in Berlin, Potsdam oder Frankfurt am Main. Tu felix Polonia hast es da besser, könnte man sagen. Auch einen anderen Weg können wir beobachten; nämlich den, daß politische Kräfte oder Einzelne versuchen, die Erinnerung zu verändern. Beispiele dafür aus Deutschland und Polen muß ich gar nicht nennen. Und schließlich sind wir Menschen und auch ganze Gesellschaften Meister im Verdrängen unangenehmer Erinnerungen. Auch dies muß ich nicht weiter ausführen. Nur gut, daß das alles letztlich gar nicht so funktioniert. Verdanken wir doch Siegmund Freud die Erkenntnis, daß unser Gedächtnis auch Verdrängtes nicht vergißt sondern unbewußt festhält. Schlimm nur, daß Denken und Handeln aus dem Unterbewußtsein heraus häufig katastrophale Folgen zeitigt.
Patentrezepte gegen diesen Befund gibt es wohl nicht, und es wäre auch nicht gut, wenn es welche gäbe. Aber es gibt doch Hinweise. Hören wir noch einmal auf Goethe: „Was bin ich denn selbst? Was habe ich denn gemacht? Ich sammelte und benutze alles, was mir vor Augen, vor Ohren, vor die Sinne kam €¦ Alle kamen und brachten mir ihre Gedanken, ihr Können, ihre Erfahrungen, ihr Leben und ihr Sein; so erntete ich oft, was andere gesät; mein Lebenswerk ist das eines Kollektivwesens, und dies Werk trägt den Namen Goethe.” Das Sammeln des Vorgefundenen aus Vergangenheit und Gegenwart und das Sich- Aneignen ohne Scheuklappen macht uns offen für andere und anderes. Gilt das nicht für die heutigen Bewohner Breslaus und Schlesiens in der immer wieder noch neu zu gewinnenden Heimat? Gilt das nicht für die Besucher Breslaus und Kreisaus, wo immer sie herkommen?
Und gilt das nicht ganz besonders auch für uns und unseren Umgang mit dem Mann und seinem Vermächtnis, dessen wir heute gedenken? Mit dem Menschen, der andere ganz unterschiedlicher Herkunft, unterschiedlichen Glaubens und unterschiedlicher Denkweise zusammenführte gegen ein unmenschliches politisches System? Mit dem Menschen, den von jung an die sozialen Probleme seiner Heimat bewegten, wie auch viele seiner Mitstreiter, so daß man nach 1945 in Deutschland vom Kreisauer Kreis als dem Kreis der „roten Barone” sprach? Mit dem Menschen, der als Anwalt für seine jüdischen Klienten focht und als Völkerrechtler in der Wehrmacht das Völkerrecht für den einzelnen Menschen gegen-über der unmenschlichen Kriegsmaschinerie einsetzte? Mit dem Menschen, der die Demokratien davor warnte, daß die Politikerkaste von der Basis abgehoben agieren könnte, und es organisieren wollte, daß die Wirtschaft für den Menschen dazusein habe und nicht umgekehrt?
Wir merken, es geht nicht nur um das Erinnern an einen bedeutsamen Menschen, sondern um uns selbst. Es geht darum, was wir uns und anderen Menschen antun, wenn wir uns von solchen Erinnerungen abschneiden oder abschneiden lassen. Es geht um unsere Zukunft und die vieler anderer Menschen.