Die Frankfurter Kirche rund um die Paulskirchenversammlung
Die Frankfurter Kirche rund um die Paulskirchenversammlung1
Vortrag von Jürgen Telschow vor dem Evangelisch-lutherischen Predigerministerium am 30.3.2023
1. Die Vorgeschichte
Die Jahrzehnte vor der Nationalversammlung waren durch eine große Freiheitssehnsucht der Bevöl-kerung und wiederkehrende Unruhen geprägt. Dabei muss man jedoch unterscheiden. Es gab die Reformer, und es gab die Revolutionäre. Die einen beschritten den Weg durch die Institutionen mit dem Ziel der Monarchie demokratische Formen abzuringen. Die anderen waren überzeugt, dass das Ziel einer deutschen Republik nur mit Gewalt zu erreichen sei. Scheitern taten beide: die Reformer mit der Nationalversammlung, die Revolutionäre im bewaffneten Kampf gegen die Staatsgewalt. Im Gegensatz zu den Flächenstaaten war die Situation im Stadtstaat Frankfurt aber anders.2 Hier musste kein Monarch abgesetzt werden, weil man schon seither andere Strukruren hatte. Der ein-flussreiche Rechtsanwalt Maximilian Reinganum beschrieb die Situation 1838 so: „Es ist eine De-mokratie, diese aber wird gar wesentlich temperirt durch Zunftprivilegien und Ängstlichkeit. Die Demokratie ist aber auch insofern wiederum nicht vorhanden, als hier die Vorrechte der politisch privilegirten Bürger dem Mangel aller politischen Rechte bei den anderen Staatseinwohnern entge-genstehen, folglich nicht dem Volke im eigentlichen Sinne die Staatshoheit gehört.“3 Das bedeutete, dass nur die Inhaber des Bürgerrechts, bei dessen Erwerb man ein Mann sein, Vermögen von 5.000 Gulden nachweisen und Christ sein musste, aktives und passives Wahlrecht hatten. Nicht wahlbe-rechtigt waren also die Frauen, die Juden, die Beisassen und die anderen Bewohner Frankfurts und seiner Dörfer. Bei rund 60.000 Einwohnern waren es rund sechstausend Männer, die die Politik be-stimmten und z. B. bei der Wahl zur Nationalversammlung ihre Stimme abgeben konnten. Auch die Auswahl der Kandidaten war so eingeschränkt. Das war zwar keine Monarchie. Aber nach heuti-gem Denken konnte man das auch nicht als Demokratie bezeichnen. Es ging in Frankfurt um die Frage der Durchsetzung von demokratischer Reformen.
So entwickelten sich deutschlandweit zunächst Netzwerke von demokratisch gesonnenen Refor-mern und Umstürzlern. Ein Beispiel dafür war der 1832 in der Rheinpfalz gegründete “Preß- und Vater-landsverein“ zur Unterstützung der freien Presse und zur Propagierung eines republikanischen Deutschlands. Er hatte schließlich 116 Filialkomitees. Das stärkste war das Frankurter mit 410 Mit-gliedern. Am 27. Mai 1832 organisierte der Verein das Hambacher Fest, auf dem mehr als 25.000 Teilnehmer für die nationale Einheit und republikanische Freiheit demonstrierten.4 Aus Frankfurt nahmen u. a. der Advokat Friedrich Siegmund Jucho, Vater Stoltze mit Sohn Friedrich sowie die Journalisten Johann Friedrich Funck und Johann Wilhelm Sauerwein teil. Der aus dem Exil in Frankreich angereiste Frankfurter Ludwig Börne wurde besonders gefeiert. Am gleichen Tage ver-sammelten sich aber auch auf dem Sandhof5 4.000 Menschen aus Frankfurt und Umgebung, dar-unter mehrere polnische Offiziere. Aus Solidarität mit den Hambachern trug man schwarz-rot-gol-dene Abzeichen. Um 5 Uhr brachte der Papierhändler Theissinger vom Balkon des Gasthofes einen Toast aus: „Den freien Deutschen, welche in Hambach versammelt sind!“ Diese Ereignisse beflü-gelten die Unzufriedenen.6 Einem Brief Ludwig Börnes aus Paris vom 25.11.1832 können wir ent-nehmen, dass es sich bei ihnen keineswegs nur um Männer handelte. Greift er doch darin auf, dass der der lutherischen Gemeinde nahestende „Vaterländische Frauenverein“ Geld für „vertriebene und eingekerkerte Patrioten“ gesammelt hatte, deshalb vor Gericht geladen worden und nicht vor Gericht erschienen war. Börne fragte, ob etwa die Frauen hier nicht mehr Mut bewiesen hätten als die Männer.7
Beim Frankfurter Wachensturm vom 3. April 1833 versuchten dann etwa 100 Aufrührer , eine allge-meine Revolution in Deutschland auszulösen.8 Sie waren motiviert durch die französische Julirevo-lution von 1830, die belgische Revolution von 1830 und den Novemberaufstand der Polen gegen Rußland von 1830/31. Aber ähnlich wie die bekannten badischen Revolutionäre 1848 überschätzten sie die Bereitschaft von Militär und Bevölkerung, sich auf ihre Seite zu schlagen. In Frankfurt wa-ren es etwa 30 Burschenschafter von verschiedenen Universitäten und weitere Auswärtige, ganz wenige Frankfurter. Am Abend des 3. April griffen etwa 18 Aufständische die mit 51 Mann besetzte Hauptwache an. Außerdem zog eine ähnlich große Gruppe zur Konstablerwache, wo ebenfalls poli-tische Häftlinge einsaßen, und konnte dort trotz Gegenwehr des Wachpersonals ebenfalls Gefange-ne befreien, die hier wegen Pressevergehen einsaßen. Allerdings wollten längst nicht alle befreit werden. Nun war aber der Plan nicht geheim geblieben, und die Behörden waren vorbereitet. So war das im Karmeliterkloster liegende Militär schnell zur Stelle, und der Spuk war in einer halben Stunde beendet. Zur gleichen Zeit griffen von Bonames aus etwa 40-60 Aufständische die kurhes-sische Zollstation in Preungesheim an und verwüsteten diese. Von dort wollten sie in die Stadt ziehen, brachen aber ihr Unternehmen ab, als sie hörten, dass die Aktion dort fehlgeschlagen sei. Insgesamt gab es neun Tote: sechs Soldaten, zwei Aufrührer und einen unbeteiligten Bürger. Das Unternehmen brachte den Studenten deutschlandweit Applaus ein. Die Konstablerwache wurde sogar in einem volkstümlichen Lied bekannt, dessen 1. Strophe lautete: „In dem Kerker saßen / zu Frankfurt am Main / schon seit vielen Jahren / sechs Studenten ein / die für die Freiheit fochten / und für das Bürgerglück / und für die Menschenrechte / der freien Republik“.9
2. Vereinigungen in Frankfurt
Von dort zum Jahr 1848 war es noch ein langer Weg, der in Frankfurt auch geprägt wurde durch Gruppierungen und Personen in den Kirchengemeinden oder in Nähe zu ihnen: die Lichtfreunde, den Deutschkatholizismus, die Sandhofkonferenz und dass Montagskränzchen. Hier wurde vieles in Kirche und Staat Frage gestellt.
Die Lichtfreunde nannten sich ursprünglich „Verein für Protestantische Freunde“ und übernahmen dann die spöttische Bezeichnung ihrer Kritiker „Lichtfreunde“. Die vor allem rationalistisch orien-tierten Mitglieder verstanden sich als innerkirchliche Opposition, die für ein vernunftmäßiges, prak-tisches Christentum eintrat. Aber auch eine über den klassischen Rationalismus hinausgehende, philosophisch motivierte, Bibelkritik war ihnen nicht fremd. Wenn auch ihre Mitglieder vor allem aus Mitteldeutschland kamen, gab es auch anderwärts Gruppen. Um 1848 hatten die Lichtfreunde bis zu 150.000 Mitglieder, auch in Frankfurt. Hier sympathisierte mit ihnen Senior Gerhard Friede-rich. 1848 waren sie wichtige Unterstützer der Revolution. Die Pfarrer Eduard Baltzer aus Nord-hausen und Gustav Adolf Wislicenus waren Mitglieder des Frankfurter Vorparlaments. Baltzer und Leberecht Uhlich wurden auch in die Preußische Nationalversammlung gewählt. Nach 1849 nahm die Unterdrückung wieder zu und führte zum Auswandern aus der evangelischen Kirche und zur Gründung freier evangelischer Gemeinden. Freie Gemeinden schlossen sich dann mit deutsch-ka-tholischen Gemeinden zum Bund Freier Religiöser Gemeinden zusammen.
In den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts gab es eine erstaunliche Nähe von katholischen und evangelischen Christen in Frankfurt. Die deutsch-katholische Bewegung führte dann in den 1840er Jahren Christen verschiedener Konfessionen zusammen, die den Dogmatismus der herkömmlichen Konfessionen als starr und reaktionär empfanden. Äußerer Anlass war die Ausstellung des „Heili-gen Rocks“ 1844 in Trier. Entsprach doch so etwas nicht mehr dem Zeitgeist. In Frankfurt bot das von Johann Andreas Hammeran herausgegebene „Frankfurter Journal“ diesen Kritikern eine Platt-form. Gegen das Trierer Ereignis protestierte auch der schlesische Priester Johannes Ronge, der den Vorgang als Götzendienst anprangerte und sich auch gegen die „tyrannische Macht der römischen Hierarchie“ wandte. Ronge fand viele Anhänger. Er deutete die Bibel rationalistisch, lehnte das kirchliche Lehramt ab, ebenso den päpstlichen Primat, die Heiligenverehrung, Beichte, Zölibat und traditionelle Liturgieformen. Lediglich Taufe und Abendmahl sollten als Sakramente gelten. Das war gegen die erstarkende Restauration in der katholischen Kirche gerichtet, wandte sich aber auch gegen den erstarrten Dogmatismus aller traditionellen Konfessionen und strebte politisch die Grün-dung eines gesamtdeutschen Nationalstaats an.Vielen Katholiken erschien Ronge als ein zweiter Martin Luther. 1847 gab es rund 250 Gemeinden mit etwa 60.000 Mitgliedern, darunter ein Drittel ehemalige Protestanten. Revolutionär war auch das sozialpolitische Programm mit den Forderungen nach öffentlichem Schulwesen, Industrie-Unterricht, Zeit für Erholung und Körperpflege, Armen-ärzten, Armenkassen sowie Turn- und Badeanstalten. Prominente Unterstützer waren der Revolu-tionär Robert Blum und die revolutionären Eheleute Amalie und Gustav Struve in Baden. Wie die Lichtfreunde wurden die Deutschkatholiken nach 1849 unterdrückt.
Der Deutsch-Katholizismus fand auch in Frankfurt Sympathien. Hier wurde am 1. Juni 1845 eine deutsch-katholische Gemeinde gegründet. Der erste Gottesdienst wurde am 15. Juni 1845 in der deutsch-reformierten Kirche gefeiert.10 Frankfurter Sympathisanten fanden sich also auch unter den Protestanten. So förderte eine 1846 gegründete Lutherstiftung den Deutschkatholizismus. Ihr gehör-ten mit Friedrich Jucho und Nikolaus Hadermann zwei namhafte Demokraten an.11 In der Zeitschrift „Didaskalia“ wurde die Gründung eines Vereins angeregt, der in Erinnerung an die Reformation die Deutschkatholiken unterstützen sollte. Als die neue Stiftung am 16. Februar 1846 in der Loge Sokrates zum ersten Mal öffentlich auftrat, hieß es: „Frei sollte Luthers Lehre in der Menschheit Lebensadern strömen, nicht gedrückt von unlöslichen Siegeln der Symbole, nicht ohne Kraft zersplitternd am tötenden Gedanken des ewigen Erbteils der Sünde.“12Die Lutherstiftung wurde in den fünfziger Jahren wieder aufgelöst.
Die Sandhofkonferenz
Seit dem 12. Jahrhundert lag am Rande des Stadtwaldes, heute etwa an der Südwestecke des Ge-ländes der Universitätskliniken, der Sandhof, der 1633 von Gustav Adolf von Schweden der Patri-zierfamilie von Holzhausen geschenkt wurde. Von der ging er in den Besitz des Deutschen Ordens über und dann der Familie Bethmann. Hier trafen sich ab Anfang der 1840er Jahre im Frühjahr und Herbst je etwa 50 - 60 pietistische Theologen aus Frankfurt, Hessen, Nassau, Baden und Bayern zu theologischer Arbeit. Bedeutsam wurde die Konferenz, als in der Zeit des Vorparlaments einzelne Stimmen für die Trennung von Staat und Kirche eintraten. Deshalb regte der hessische Pfarrer Dr. Friedrich Haupt die Gründung eines „Schutz- und Trutzbündnisses in den Tagen der Gefahr wider den in die Kirche eindringenden Weltgeist“13 an. Dazu sollte eine allgemeine Versammlung einbe-rufen werden, die der Praunheimer Pfarrer Johann Daniel Richter, angelehnt an den Begriff „Bun-destag“, „Kirchentag“ nannte.14 Am 3. Mai und 21. Juni 1848 fanden dann Sandhofkonferenzen und am 21.-23. September 1848 der Kirchentag in Wittenberg statt. Der Kirchentag war die erste große Versammlung des deutschen Protestantismus und der erste Schritt auf dem langen Weg zum Zusammenschluss der evangelischen Kirchen. Die Frankfurter Sandhofkonferenz hat diesen Weg eingeleitet und verdient es, nicht vergessen zu werden. So stand am Anfang des Zusammenwach-sens der evangelischen Kirchen die von der Nationalversammlung angestoßene Frage nach einem neuen Verständnis des Verhältnisses von Staat und Kirche. Da Johann Hinrich Wichern die Gunst der Stunde nutzte und in Wittenberg seine bekannte Stegreifrede hielt, liegen hier auch die Wurzeln für eine über Einzelinitiativen hinaus gehende Innere Mission. Dies hatte zunächst eine theologi-sche Dimension. Wandte man sich doch gegen das Eindringen rationalistischen Denkens in die Kir-che. Aber es gab auch die politische Dimension. Der Berliner Kirchenhistoriker Karl Kupisch be-schrieb Wicherns Auftreten dort recht kritisch15: „ Eindeutig war die Absage an die Revolution, die als „kommunistisch“ verworfen wurde, wie er die Ursache der mannigfachen Unzufriedenheit in dem Abfall des Volkes von Gott sah; atheistische Lehren hätten die Entchristlichung erzeugt. Nach-dem das Volk … sich selbst zum Gott gemacht, habe jetzt die Innere Mission als die bewaffnete Tochter der Kirche der Mutter zum offenen Kampf gegen die Verderber des Volkes … zur Bekämp-fung der Revolution sich erboten … Es gilt die Rettung der bürgerlichen Welt.’16 Zentrum der Hilfe war auch für Wichern die Rückführung des Volkes zum christlichen Glauben: ,Kommen die Leute nicht mehr in die Kirche, so muß die Kirche zu den Leuten kommen … wir müssen Straßenprediger haben, vornehmlich in den großen Städten. Die Straßenecken müssen Kanzeln werden, und das Evangelium wird wieder zum Volke dringen.’ Also eine organisierte Aktivierung missionarischerGesinnung,verbunden mit dem Geist der tätigen Liebe, der in Rettungshäusern und Vereinen man-nigfacher Art zur Wirksamkeit kommen soll, nicht zuletzt in einer Reform des Gefängniswesens, die Wichern besonders am Herzen lag. Aber wie immer man dieses Programm beurteilen mag, in sei-nen Tendenzen fügte es sich ganz ein in die politischen Gesinnungen, die die Notabeln des Kirchen-tages erfüllte: keine Kritik an der sozialen Struktur der bestehenden Gesellschaftsordnung, vielmehr Kampf dem Revolutionsgeist und den Verderbern des Volkes, im übrigen eine ins Große betriebene Volksseelsorge, an der mitzuwirken die herrschenden Kreise aufgerufen wurden. ,Es ist jetzt die Zeit, um die großen Grundbesitzer, den Adel, die Staatsbeamten dafür zu gewinnen, weil alle edlen Seelen unter ihnen in einem Stande der Buße sind und erkennen, daß werktätige Liebe in dieser Weise von Gott gefordert ist, teils um alte Schulden zu sühnen, teils um dem völligen Umsturz und Verderben vorzubeugen.’“17
Die Angst vor der Revolution ging also mit der Wahrnehmung sozialer Not zusammen, aber die Lö-sung wurde in der Missionierung des Volkes gesehen. Wichern entwickelte kein sozialreformeri-sches Programm18 und stand der Sozialdemokratie ablehnend gegenüber. In dieser Zeit des Frühso-zialismus nahmen daher weder Kirche noch Innere Mission Stellung zu den dringenden Zeitfragen wie den Praktiken des Unternehmertums, mit der Ausbeutung der Arbeitnehmer, den Privilegien des Adels oder dem Klassendünkel. Und das war sicher ein Grund dafür, dass die Kirche die Verbin-dung mit dem Arbeiterstand nie herstellen konnte. Andererseits muss man sehen, dass diese Zurück-haltung, theologisch in der lutherischen Zweireichelehre begründet, der Inneren Mission Hand-lungsmöglichkeiten und eine enorme Entwicklung bescherte, die der Kirche wohl kaum so offen gestanden hätten. Ermöglichte sie doch dem Staat das Miteinander von öffentlicher und freier Wohlfahrtspflege (Duales System), in das auch die Innere Mission einbezogen werden konnte. Die Reichsfürsorgepflichtverordnung von 1924 enthielt dann sogar das Subsidiaritätsprinzip, nämlich den Vorrang der Wohlfahrtsverbände bei sozialen und medizinischen Investitionsvorhaben.
Die 1844 gegründete Vereinigung zur Diskussion politischer und religiöser Fragen im Geiste der Aufklärung veranstaltete seit 1845 regelmäßig Diskussionsabende. War es zunächst vor allem ein Treffen der Deutschkatholiken, so dominierten alsbald die Lichtfreunde. Wurden zunächst eher kir-chenpolitische Fragen in einem Geiste diskutiert, der die Orthodoxie in Frage stellte, so traten später eher politische Themen in den Vordergrund. Da machte man sich die Forderungen nach freier Lehre und Forschung, Pressefreiheit und Judenemanzipation zu eigen. Ihm gehörten einige Mitglieder der deutsch reformierten Gemeinde an.19 1846 gab sich das Montagskränzchen die Rechtsform eines Vereins. Anfang März 1848 änderte es seine Satzung und nannte sich nun „politischer Verein.“ Sei-ne politischen Forderungen wurden radikaler, aber es bekämpfte auch den „wahnsinnigen Kommu-nismus“ und die „blutige, rote Republik“ ebenso wie die „Reaktion“ und die „Ultrareaktion“.20 Doch verließen den Verein nicht wenige Mitglieder, weil sie die Forderungen für zu weitgehend hielten. Immerhin hatte das Montagskränzchen inzwischen etwa 1.000 Mitglieder. Am 3. Mai 1848 veranstaltete dann das „Montagskränzchen“, das sich immer weniger mit kirchlichen und immer mehr mit politischen Fragen beschäftigte21, eine Frankfurter Volksversammlung in der St. Kathari-nenkirche. Hier sprach sich Friedrich Jucho für eine von allen Frankfurter Staatsangehörigen ge-wählte Volksversammlung aus. Die Mehrheit der Anwesenden folgte ihm, der Senat aber wollte nur eine gemeinsame Versammlung aus den vorhandenen Gremien. Schließlich wurde als Kompromiss im Sommer ein Verfassungsausschuss gebildet. Am 24. Juli 1848 gab es in der Katharinenkirche Gespräche über die Bildung einer allgemeinen deutschen Nationalkirche. Wortführer waren der Deutschkatholik Franz Jakob Wigard, Maximilian Reinganum und Heinrich Schwarzschild. Ziel war, in Deutschland künftig nur noch eine Religion zu haben. Hier dominierten dann doch die Mit-glieder des Montagskränzchens, die vom Himmel nichts wissen wollten über die religiös Gesinnten. Insgesamt kamen in Frankfurt die treibenden Käfte der Erneuerung aus dem Montagskränzchen.
3. Persönlichkeiten
Auch in der Frankfurter Bevölkerung und speziell auch in den evangelischen Gemeinden oder aus ihnen heraus gab es mutige Männer, die sich in Wort und Schrift für eine demokratische Gesell-schaft einsetzten.22 Am bekanntesten war Johann Friedrich Funck23 (1804 – 1857), in Frankfurt ge-boren, hatte er Theologie studiert, 1828 das erste theologische Examen in Frankfurt abgelegt und war in die Kandidatenliste für die Übernahme ins Pfarramt aufgenommen worden. Angesischts der allgemein geringen Chancen übernommen zu werden und nachdem er auch noch öffentlich das Frankfurter Kanditatenwesen kritisiert hatte, sah er keine Chancen, eine Frankfurter Pfarrstelle zu erhalten, und wandte sich der Schriftstellerei zu. In vielfältigen Artikeln in Zeitungen und Zeit-schriften forderte er die Volkssouveränität und die Republik. Das brachte ihm mehrjährige Frei-heitsstrafen ein. 1833 gehörte er zu den Gefangenen in der Konstablerwache, wurde befreit, kehrte aber ins Gefängnis zurück. Man sagte ihm Starrsinn nach, weshalb er die Strafen auch auf sich nahm. Er war Teilnehmer am Hambacher Fest als Mitglied des Deutschen Preß- und Vaterlandsver-eins, den er mit gegründet hatte und der das Fest organisiert hatte. Lange aktiv war Nicolaus Hader-mann24 (1805 – 1871). Geb. in Philippseich bei Dreieichenhain, studierte auch er Theologie, war Burschenschafter und dann Lehrer in Frankfurt, u. a. an der Musterschule. Er war 1846 Mitbegrün-der des Montagskränzchens. 1848 gehörte er dem Frankfurter Verfassungsausschuss und der Con-stituierenden Versammlung an und war ab 1867 Stadtverordneter. Auch er war publizistisch tätig. Johann Wilhelm Sauerwein war ebenfalls Theologe, und ihm erging es wie Funck. Johann Wilhelm Sauerwein25 (1803-1847) wurde im Steinernen Haus geboren, das sein Vater der Schneidermeister gepachtet hatte. Er wurde 1828 nicht zum Examen zugelassen, weil er an einer privaten Vorführung von Carl Malß‘s „Der alte Bürgerkapitän“ beteiligt gewesen war und dabei einen Konsitorialrat ver-spottet hatte. Auch Sauerwein nahm am Hambacher Fest teil und zog sich mit seinen Veröffentli-chungen Gerichtsverfahren zu. Mit seinen Freunden Funck und Freyeisen sowie dem Arzt Carl Bunsen gründete er 1833 den liberalen „Männerbund“, der am 2. Mai 1834 fünf Gefangene aus der Konstabler Wache befreite.26. Nach dem Wachensturm floh er in die Schweiz und wurde 1836 Pro-fessor für deutsche und englische Sprache in Saint-Marcillin/Frankreich. 1844 erkrankte er an Rü-ckenlähmung und kehrte nach Frankfurt zurück. Die Inquisitionsbehörde sah jedoch von seiner Ver-folgung ab, und er starb nach langem Siechtum 1847. Sauerwein war kein radikaler Revolutionär. Er verpackte seine Kritik in humoristische Texte und war in gewisser Weise geistesverwandt mit Friedrich Stotze, den er seit den dreißiger Jahren von den Treffen der Demokraten im Rebstock kannte. Von ihm stammt auch das Lied von den Studenten im Kerker. Der bereits erwähnte Johann Christoph Freyeisen27 (1803-1849) war ebenfalls in Frankfurt geboren, studierte Medzin und flüch-tete 1833 in die Schweiz, wo er als Musiklehrer arbeitete. 1848 kam er nach Frankfurt zurück.
Aus der Umgebung von Frankfurt berührt bis heute das Schicksaal des hessischen Lehrers und Pfarrers Friedrich Ludwig Weidig28 (1791-1837). Er war in Oberkleen/Hüttenberger Land geboren, hatte in Gießen evangelische Theologie studiert und war ab 1812 Konrektor in Butz-bach. Im Geiste des Trunvaters Jahn führte er bei den Schülern Turn- und Exerzierübungen ein und wurde später als „hessischer Turnvater“ bezeichnet. Er war Liberaldemokrat und wurde wegen sei-ner politischen Tätigkeit seit 1818 überwacht. 1833 wurde er erstmals verhaftet und 1834 vom Dienst suspendiert. Im gleichen Jahr lernte er Georg Büchner kennen und war an der Verfassung des „Hes-sischen Landboten“ maßgeblich beteiligt. „Friede den Hütten! Krieg den Palästen!“ Als Pfarrer kam er nun nach Ober-Gleen im Vogelsberg. Aufsehen erregte hier seine Predigt vom 7. September 1834. in der er den Christus der Armen verkündigte, „der da Unrecht und Heuchelei der Mächtigen seiner Zeit bekämpfte“, eine frühe Befreiungstheologie. Hoch gefährdet, war er aber nicht bereit, wie Büchner zu emigrieren. Dann kam er wegen Hochverrats in „Inquisitionshaft“, wie es die Behörde formulierte. Nach zwei Jahren Haft mit demütigenden Verhören und ohne Prozess, nahm er sich das Leben. Übrigens verleiht der Hessische Turnverband bis heute die Friedrich-Ludwig-Weidig-Plakette für langjährige Mitarbeit im Turnsport.
4. Die Frankfurter Situation 1848
Ab Februar 1848 überschlugen sich für die Frankfurter die Ereignisse. Die Februarrevolution führte in Frankreich zur Abdankung des Königs Louis Philipp und zur Ausrufung der Republik. Im glei-chen Monat veröffentlichte Karl Marx das Kommunistische Manifest. Am 3. März forderten die Frankfurter Liberalen und Radikalen unter Führung des Rechtsanwalts Maximilian Reinganum von den Bürgermeistern die Einberufung eines allgemeinen deutschen Parlaments, unbedingte Presse-freiheit, Gleichheit ohne Rücksicht auf den Glauben, die allgemeine Volksbewaffnung und Amnes-tie für die politisch Verurteilten. Der Senat entsprach dem mit Ausnahme der Gleichstellung der Juden. Am 5. März wurden die Abgeordneten zum Vorparlament auf den 30. März nach Frankfurt eingeladen. Am 9. März erklärte die Bundesversammlung den Reichsadler zum geschichtlichen Symbol deutscher Einheit, und auf dem Bundespalais wurde die schwarz-rot-goldene Fahne gehisst.
Dies wiederum hatte Rückwirkungen auf die Stadt Frankfurt.29 Auch hier gab es eine Verfassungs-diskussion. Eine verfassunggebende Versammlung sollte eine neue Verfassung erarbeiten. Hauptrol-len spielten dabei Dr. iur. Maximilian Reinganum, Dr. med. Heinrich Schwarzschild und Nikolaus Hadermann. Der Frankfurter Verfassungsentwurf enthielt in § 156 die Regelung: „Kirchengemein-schaften werden vom Staat fortan nur als Religionsgemeinschaften betrachtet.“ Das hätte bedeutet, dass die Kirchen ihren Sonderstatus verloren hätten, aber auch gegenüber dem Staat unabhängig geworden wären. Außer der Dotation von 1830, die nicht vermehrt werden durfte, sollten die Kir-chen vom Staat keinerlei Zuwendungen erhalten. Die Aufsicht der Geistlichen über die Schulen sollte wegfallen und die Schulen konsequent verstaatlicht werden. Aus der Dalbergzeit wurden die bürgerliche Ehe und die Einführung von Standesbüchern wieder vorgesehen. In der evangelischen Kirche fand der Entwurf durchaus Zustimmung, wenn auch einzelne Vorschriften kritisiert wurden. Die reformierten Gemeinden und der lutherische Gemeindevorstand legten eine „Vorstellung und Rechtsverwahrung“ ein im Hinblick auf die durch die Constitutionsergänzungsakte zugesicherte dauerhafte Dotation. Es sieht nicht so aus, als hätten die Kirchen mit ihren Protesten Wes-entliches ändern können. Doch scheiterte der Entwurf 1850 mit dem Scheitern des gesamten Ver-fassungsprojekts der Nationalversammlung. Lediglich Zivilehe und Standesbuchführung wurden eingeführt.
Gescheitert war ein für die Gesellschaft nicht repräsentatives Honoratioren- und Akademikerpar-lament. Sein Aufbegehren brachte aber eine folgenreiche gesellschaftliche Veränderung mit sich30,, die soziale Ursachen hatte. In der ersten Hälfte des Jahrhunderts hatte es ein starkes Bevölkerungs-wachstum gegeben, das zum Anwachsen der Unterschichten führte. Dieser Prozess wurde dadurch verschärft, dass das Wirtschaftswachstum nicht mithielt und dass es zwischen 1845 und 1847 Miss-ernten bei Kartoffeln und Getreide gab. Dies führte zu enormen Preisanstiegen um bis zu 100 Pro-zent und als Folge zu Unruhe in der Bevölkerung. 1848 begannen Handwerksgesellen, Manufaktur- und Fabrikarbeiter, sich auch in Turnvereinen, ersten Berufsverbänden und Arbeitervereinen zu or-ganisieren. 1848/49 entstand die Arbeiterbewegung. Auch in Frankfurt gab es eines von über 400 Zentren der „Allgemeinen deutschen Arbeiter Verbrüderung.“ Daraus entwickelten sich Konflikte, so im April 1848 der Bäckerstreit. Am 18. Mai 1848 erschien erstmals die „Allgemeine Arbeiterzei-tung. Organ für die politischen und sozialen Interessen des arbeitenden Volkes, zugleich Zeitung des Arbeitervereins zu Frankfurt a/Main.“ Im Juni gab es Barrikadenkämpfe zwischen verschiedenen Gesellengruppen. Mit dem Sieg der Reaktionäre wurde zunächst auch diese Bewegung geschwächt. Was hier begann, war also nicht die Revolution des Proletariats. So wie beim schlesischen Weber-aufstand von 1845 rührten sich diejenigen, die nicht ins Proletariat absteigen wollten, und nicht die, die bereits ganz unten waren. Allerdings begann die Bürgerschaft mit der Gründung des Arbeiter-bildungsvereins 1850, sich dieser neuen Problematik zu stellen. Im Vorstand dieses Vereins finden wir dann wieder Persönlichkeiten wie Nikolaus Hadermann, Maximilian Reinganum, aber auch den Schriftsteller Friedrich Stoltze.
5. Evangelische Kirchengemeinden und Nationalversammlung
Die Begrüßung der Vorversammlung
Senior Dr. Gerhard Friederich begrüßte die Vorversammlung am 2. April 1848, dem Sonntag Läta-re, in der St. Katharinenkirche mit den Worten: „Wir haben binnen wenig Wochen geistig Jahrhun-derte durchlebt. Und sollten wir unsere Freude als Menschen, Staatsbürger und Christen nicht laut werden lassen? Allerdings können manche unter euch erwidern, aber nur nicht hier, in dem Hause des Herrn, dessen geheiligte Räume nur den hohen Angelegenheiten der Religion geweiht sein sol-len! Allein ist denn nicht die Wiedergeburt des Volkes zum Bessern, nicht sein Erwachen zu Licht und gesetzlicher Freiheit, zu Wahrheit und Recht, und hauptsächlich zu gleicher Anerkennung aller religiösen Bekenntnisse, die höchste Angelegenheit des geistig und staatlich neugeborenen und da-durch auch sittlich und religiös veredelten Menschen, mit einem Worte des Christen?“31Ohne Zwei-fel meinte Friederich, wie viele andere Frankfurter, damit auch die Gleichstellung der Juden. Damit zog er jedoch auch Kritik auf sich. In einer Flugschrift äußerte sich der radikale Theologe und Pub-lizist Friedrich Funck: „In Deutschland kann man ein außerordentlicher Götzendiener, ein Moham-medaner, ein Buddhist und doch ein deutscher Staatsbürger sein. Niemand kann aber zugleich Jude und deutscher Staatsbürger sein. Wenn der Jude Matzen ißt, so feiert er einnationales Befreiungs-fest, er fühlt sich als Mitglied der jüdischen Nation.“32 Dagegen wiederum äußerte der Rabbiner Leopold Stein unter Bezugnahme auf die Versammlung jüdischer Volkslehrer im Jahre 1845 in Frankfurt: „Wir sind und wollen nur Deutsche sein und wünschen kein anderes Vaterland als das deutsche.“33Der Senat allerdings lag auf Funcks Linie und hatte Bedenken gegen die Judeneman-zipation.
Die Raumfragen
Frankfurter evangelische Kirche und Revolution sind sich vor allem an zwei Stellen unmittelbar begegnet, bei Raumfragen und in Predigten. Schon für das Vorparlament erwies sich die Reitbahn am Roßmarkt, Frankfurts größter nicht kirchlicher Versammlungsort, als zu klein. Sodann wäre wohl die Katholische Kirche nicht bereit gewesen, den Dom zur Verfügung zustellen. Bei den Pro-testanten konnten die Organisatoren viel eher Entgegenkommen erwarten, weil im Gemeindevor-stand eine ganze Anzahl von Vertretern freierer politischer und kirchlicher Ansichten saßen. So beschloss der Gemeindevorstand auf Anfrage unter anderem von Justizrat Dr. Friedrich Jucho, Frankfurter Vertreter in der Nationalversammlung, einstimmig die Überlassung der Paulskirche. Am 31.3.1848 trat das Vorparlament hier zusammen. Allerdings gab es auch einen inneren Zusam-menhang. Die nationale Begeisterung hatte durchaus religiöse Züge bzw. man bemühte einen religiösen Wortschatz. Das zeigte sich schon mit dem Aufruf des Vorbereitungskomitees an die Bewohner Frankfurts vom 15. März 184834: „Vier in der Weltgeschichte ewig denkwürdige Wochen sind dahingeschwunden. Sie haben Ereignisse herbeigeführt, die die Verhältnisse Europas von Grund auf umgestalten. In Schutt und Trümmern liegt das Gebäude einer völkerfeindlichen Vergangenheit und der Ostertag der Menschlichkeit, der Gerechtigkeit, der Freiheit, er naht heran.“
Die deutsche reformierten Kirche war schon am 11. April 1848 der Ort, an dem österreichische Abgeordnete in den vorbereitenden Ausschuss feierlich aufgenommen wurden.35 Am 24. April 1848, dem Ostermontag, nutzte eine Versammlung ohne Zustimmung des Gemeindevorstandes einfach die St. Katharinenkirche, wo Dr. Friedrich Siegmund Jucho gegen Johann Friedrich Funck als Frankfurter Abgeordneter in das Parlament gewählt wurde36. Man hatte sich zunächst auf der Reitbahn getroffen und war, als es zu regnen anfing, einfach in die Kirche geströmt. Eine weitere Versammlung fand mit Zustimmung des Vorsitzenden des Gemeindevorstandes am 29. April 1848 in der St. Katharinenkirche statt. Dass bei aller Bereitschaft, die Paulskirche zur Verfügung zu stel-len, der Gemeindevorstand hiermit nicht einverstanden war, zeigte eine Bemerkung von Dr. Haaf im Rückblick: „Die Bewegung des Jahres 1848 brachte es mit sich, daß mehrmals unsere Kirchen zu Volksversammlungen benutzt wurden; und zwar geschah dies im Drange der Ereignisse nicht immer so, daß dem Gemeindevorstand eine Beschlußnahme dabei oder auch nur eine Überwachung der dem Gotteshause schuldigen Achtung möglich gewesen wäre.“37Der Druck auf die Kirchen erklärte sich allerdings auch dadurch, dass das Parlament verbot, im Umkreis von 10 Stunden um Frankfurt Versammlungen unter freiem Himmel abzuhalten.38
Im September 1848 gab es dann immer radikalere Auseinandersetzungen um die Schleswig-Hol-stein-Frage, weshalb Vertreter der radikalen Gruppen am 10. November 1848 um die St. Kathari-nenkirche für eine Versammlung zur Feststellung einer Adresse an die Nationalversammlung nach-suchten. Dies wurde vom Gemeindevorstand abgelehnt. Dass die Sorgen von dessen Mitgliedern nun mehr und mehr berechtigt waren, zeigt ein Vorgang in der Paulskirche. Als nach dem Waffen-stillstand von Malmö die Wogen der Entrüstung immer höher schlugen, bestürmten Menschenmas-sen am 18. September die Paulskirche. Ein Blutvergießen konnte nur durch den Einsatz preußischer und österreichischer Soldaten abgewendet werden. Auch nahmen Aufrührer dem Glöckner von St. Peter den Schlüssel zum Glockenboden ab, zerstörten Türen und läuteten zum Aufstand.39 Am 26. No-vember hielt die freireligiöse Gemeinde, der die Weißfrauenkirche überlassen worden war, dort eine Totenfeier für Robert Blum ab. Hatte der doch der deutsch-katholischen Gemeinde angehört.40 Eine für den gleichen Tag geplante Gedenkfeier für das Mitglied der Nationalversammlung Robert Blum in der St. Katharinenkirche wurde jedoch zunächst abgelehnt. Begründet wurde die Ableh-nung damit, dass dies nur von den Linken beantragt worden sei. Als die gesamte Versammlung aber den Antrag stellte, wurde er genehmigt.41 Möglich wurde das alles durch einen Protestantismus, der sich „als Symbiose von moderner Kulturentwicklung, religiösem Individualismus und nationaler Freiheit verstand, Luther politisierte und zum Vorbild deutscher Nationaltugend macht“42 Aller-dings gab es dann 1849 zunehmend mehr Bedenken gegen die Überlassung von Kirchen für politi-sche Zwecke. Als Grund wurde genannt, dass Kirchen nur religiösen Zwecken dienen sollten. Hier schlug sich wohl auch der nachlassende Elan der revolutionären Bewegung nieder. Immerhin aber gab es am 12. April 1849 noch einmal eine Versammlung zur Aufrechterhaltung der Reichsverfassung in der St. Katharinenkirche.
Da die Paulskirche eine neue Heizung erhalten sollte, tagte die Nationalversammlung vom 6. No-vember 1848 bis 11. Januar 1949 in der deutschen reformierten Kirche. Dem hatte das Presbyterium der Gemeinde nur zögernd zugestimmt. Zum einen gab es Bedenken gegen die politische Nutzung der Kirche. Zum anderen sorgte man sich um die baulichen Beeinträchtigungen des Gebäudes. Soll-ten doch z. B. Öfen aufgestellt und die Ofenrohre durch die Fenster nach außen geführt werden. Deshalb forderte man die Wiederherstellung auf Kosten der Nationalversammlung, was später auch erfolgte.43 Die Reformierten konnten in dieser Zeit die St. Peterskirche benutzen. Mit bemerkens-werten Sätzen bedankten sie sich bei der lutherischen Gemeinde. „Wir reihen hieran den Wunsch, daß die evangelischen Schwestergemeinden in hiesiger Stadt allezeit in solch herzlicher Eintracht zusammenstehen mögen, die unter den gegenwärtigen Zeitverhältnissen doppelt not tut.“44Nach-dem das Rumpfparlament am 30. Mai 1849 beschlossen hatte, seine Beratungen in Stuttgart fort-zusetzen, wurde die Paulskirche am 1. Juni 1849 geschlossen. Erst am 24. Oktober 1852 wurde sie wieder in den gottesdienstlichen Gebrauch genommen, nachdem vom 22. bis 24.8.1850 dort ein Internationaler Friedenskongress stattgefunden hatte, an dem der französisch-reformierte Pfarrer Jean Louis Bonnet mitgewirkt hatte.
Lutherischer Gemeindevorstand und Nationalversammlung
Die Forderungen und Aktionen des sog. Vormärz berührten natürlich auch Frankfurt selbst. Auch in der evangelischen Kirche mehrten sich die Forderungen nach Reformen. Schon vor Beginn der Paulskirchenversammlung am 18. Mai 1848 erklärte der Senior des Gemeindevorstandes, Dr. Dan-cker, dass nunmehr die Zeit gekommen sei, die Rechte zu erlangen, um die man bisher vergebens gekämpft hatte.45 Am 7. Juli 1848 hielt er zu Beginn der Vorstandssitzung folgende Ansprache:46 „Meine Herren! Große und mächtige Ereignisse haben in den jüngst verflossenen Wochen das Le-ben der Völker berührt und die politischen Institutionen Deutschlands in einer Weise umgestaltet, von der wir alle wünschen und hoffen, daß sie glückliche Früchte tragen werde. Auch unsere Ge-meinde und ihre Verfassung wird durch diese Ereignisse berührt. Mit der bevorstehenden Revision ist auch für uns ein Zeitpunkt eingetreten, um unserer Gemeinde diejenigen Rechte, deren Verleih-ung von jeher von dem Gemeindevorstand erstrebt, aber mannigfacher Hindernisse wegen nicht vollkommen erlangt wurde, zur Anerkennung zu bringen.“
Dem war voraus gegangen, dass das Predigerministerium am 3., 5. und 7. April 1848 über die Ein-führung einer Presbyterial- und Synodalverfassung beraten hatte. Dabei hatte man beschlossen, die Vorarbeiten aufzubewahren und „zu wachen“.47 Im Laufe des Jahres setzte der lutherische Gemein-devorstand eine Kommission ein, die einen Entwurf erarbeiten sollte. Am 31. Januar 1849 berich-tete dann Senator Anton Heinrich Emil von Oven dem Gemeindevorstand, dass man zunächst ab-gewartet habe, welche Regelungen die Nationalversammlung für das Verhältnis von Staat und Kir-che treffen werde. Im Reichsgesetz vom Dezember 1848 sei festgelegt worden, dass die Religions-gesellschaften ihre Angelegenheiten selbständig ordnen und verwalten (§ 17). Dies müsse nun um-gesetzt werden, und dazu sei der Gemeindevorstand berufen. Habe er sich doch seit seiner Errich-tung darum bemüht, eine freie und selbständige Verfassung der Gemeinde zu erreichen und deshalb „lebhafte Kämpfe mit den Behörden“ geführt. Da der Vorstand aus freien Wahlen hervorgegangen sei, sei es auch nicht richtig, ein anderes Gremium wie eine spezielle Verfassungskommission damit zu beauftragen. Jedoch schlage die Kommission vor, die lutherische Geistlichkeit und die Gemein-deglieder zu beteiligen. Entsprechendes sollte am 2. Februar in den Gottesdiensten verkündet wer-den. Nach der Bekanntgabe am 2. Februar wurde aus der Bürgerschaft, im Geiste der Nationalver-sammlung, die Forderung erhoben, dass der lutherische Gemeindevorstand eine besondere Verfas-sungskommission bildet. Diese Forderung wurde von 479 Gemeindegliedern getragen. Dagegen erhielt der Gemeindevorstand einen Brief von 1.468 Gemeindegliedern, die seine Linie unterstütz-ten.48 Am 9. Februar forderte dieser dann das Predigerministerium auf, ihm seine Ansicht über eine neue kirchliche Verfassung mitzuteilen. In den folgenden Beratungen ergaben sich Probleme vor allem bei Bekenntnisfragen. Schließlich übernahm man eine kurhessische Erklärung von 1839..49 Am 17. März 1849 leitete das Predigerministerium diesen Entwurf dem Gemeindevorstand zu. Der Gemeindevorstand bat am 25. August 1849 schließlich das Ministerium, Vertreter zur gemeinsamen Beratung des Entwurfes zu benennen. Dem folgte das Ministerium. Die Beratungen dauerten bis zum Jahre 1851..50 Andererseits ging der 1849 nach langen Verhandlungen zustande gekommene Verfassungsentwurf für eine neue städtische Verfassung von einer strikten Trennung von Staat und Kirche aus und wollte den kirchlichen Einfluss auf allen Lebensgebieten (u.a. die Aufsicht der Geistlichen über die Schulen) ausschalten. Doch wie die Paulskirchenversammlung scheiterte der kirchliche Entwurf, als 1850 die reaktionären Kräfte wieder erstarkten. Es wundert also nicht, dass der Entwurf für eine neue kirchliche Ordnung, als er am 1. Mai 1851 endlich dem Konsistorium vorgelegt wurde, von diesem nicht mehr an den Senat weitergeleitet wurde. Er wies „zu sehr den Stempel der unruhigen Zeit, in der er das Licht erblickt hatte,“ auf.51
Der Ertrag der Revolutionszeit
In seiner Kirchengeschichte stellte sich Hermann Dechent die Frage, wie denn die Jahre 1848 und 1849 aus kirchlicher Sicht zu bewerten seien.52 Dabei schien ihm das wichtigste die sehr kontrover-se Diskussion über das Verhältnis von Staat und Kirche. Dass dabei sehr viel Kritisches und Feind-liches über die Kirchen geäußert worden sei, habe tiefe Spuren in der Bürgerschaft zurückgelassen. Seitdem seien viele bürgerliche Familien in Frankfurt von Unkirchlichkeit geprägt, der gegenüber alle seelsorgerlichen Bemühungen umsonst seien. Auch habe man feststellen können, dass die Kri-tik an den reaktionären politischen Verhältnissen, die nach der Parlamentszeit schnell eingesetzt ha-be, häufig im Gewand der Kritik an den Kirchen aufgetreten sei. Dechent stellte fest, dass die große Masse der Unkirchlichen dem Indifferentismus gehuldigt habe. Aus der Kirche sei man deshalb nicht ausgetreten. Schon für Mitte des 19. Jahrhunderts meinte er, dass die evangelische Kirche die Fühlung mit dem Volk verloren habe.53 Martin Greschat formulierte das allgemeiner: „Das Revolu-tionsjahr 1848/49 löste im Protestantismus tiefgreifende Beunruhigungen und Irritationen aus. Auch hier wirkten diese Ereignisse in hohem Maße als Katalysator des gesellschaftlichen Moderni-sierungsprozesses, nämlich vorantreibend und blockierend in einem. Daraus resultierte ein vielge-staltiger Konservatismus, der sich einerseits mit evangelischer Frömmigkeit und Kirchlichkeit ver-binden konnte; und in dem sich andererseits - zukunftsweisender vielleicht - starke eigene religiöse Kräfte erwecklich-konservativen Milieus aufbauten. Daraus resultierte zweitens die weitgehende Blockierung des Liberalismus in der Kirche … Die zunehmende Emigration liberal gestimmter Bevölkerungskreise aus der Kirche war die Folge - bzw. die Schaffung eigener protestantisch-liberaler Milieus an ihrem Rand.“54
Fragt man nach dem politischen Ertrag der Paulskirchenversammlung, dann wurde diese lange als der entscheidende Schritt zur deutschen Einheit gesehen und heutzutage vor allem auf den Demo-kratiegedanken rund den Grundrechtskatalog reduziert, der so in etwa Eingang in die Weimarer Reichsverfassung und das Grundgesetz gefunden hat. Blicke ich mich heute um, dann scheint mir noch etwas anderes wichtig. Können wir doch im angelsächsischen Bereich derzeit beobachten, wie zerstörerisch das Zweiparteiensytem mit seiner Polarsierung sein kann. Dem steht gegenüber, dass in Deutschland, beginnend in der Paulskirchenversammlung mit ihrer Vielfalt an politischen Gruppierungen, das Konsenprizip herrscht. Mehrheiten müssen immer wieder dadurch gefunden werden, dass sich teils sehr unterschiedliche politische Kräfte zusamenfinden und dabei Kompromisse schließen. Sicher stellt das Menschen nicht zufrieden, die „klare Verhältnisse“ oder das hundertprozentige Durchsetzen von eigenen Forderungen erwarten. Aber es ist der zivilere Weg.
Literatur
Gall, Lothar (Hrsg.): 1949 Aufbruch zur Freiheit, Ausstellungskatalog der Schirn Kunsthalle Frankfurt, Frankfurt a. M. 1998.
Homrichhausen, Christian R.: Evangelische Christen in der Paulskirche 1848/49, Bern, Frankfurt, New Yorck 1985.
Koch, Rainer (Hrsg.): Die Frankfurter Nationalversammlung 1848/49. ein Handlexikon der Abgeordneten der deutschen verfassunggebenden Reichs-Versammlung, Kelkheim 1989.
Proescholdt, Joachim: Der Staat und das Volk. Evangelische Pfarrer und Theologen in der Frankfurter Nationalversammlung, in: Zentgraf, Martin (Hrsg.): Frankfurter Paulskirche 1848-1998, Heft 4 der Schriftenreihe des Evangelisch-lutherischen Predigerministeriums Frankfurt am Main, Frankfurt 1998.
Specht, Uwe: Reformierte Kirche im Vormärz. Die deutsch-reformierte Kirchenge meinde in Frankfurt am Main in den Jahren 1814-1848, Frankfurt a. M. 1994.
Telschow, Jürgen: Geschichte der evangelischen Kirche in Frankfurt am Main, 3 Bände, Hanau und Wiesbaden 2017/2019.
1Insgesamt ausführlicher in: Telschow: Geschichte der Frankfurter Kirche in Frankfurt am Main, Bd. I, Hanau 2017, S.422 - 462
2Hierzu und zum Folgenden: Weber, Matthias, Die Revolution im Stadtstaat: die Freie Stadt Frankfurt am Main 1848 – 1850, in: Archiv für Frankfurts Geschichte und Kunst, Band 64, Frankfurt a. M. 1998, S. 247 – 265.
3Zitiert nach Weber, die Revolution, S. 247..
4Judit Pàkh, Verein für Frankfurter Arbeitergeschichte e. V (Hrsg.): Frankfurter Arbeiterbewegung in Dokumenten 1832-1933, Band 1, Vom Hambacher Fest bis zum Ersten Weltkrieg 1832-1914, S. 15.
5Wikipedia.org/wiki/Sandhof.
6Wikipedia.org/wiki/Frankfurter_Wachensturm.
7Pákh, Frankfurter Arbeiterbewegung, S. 35 f.
8Paḱh, Frankfurter Arbeiterbewegung, S.16, 36-43 mit Dokumenten. S. auch Hale, Douglas, Ein Frankfurter Revolutionär im texanischen Unabhängigkeitskrieg, in: Archiv für Frankfurts Geschichte und Kunst, Heft 57, Frankfurt a. M. 1980, S. 151-166.
9Www.volksliederarchiv.e/in-dem-kerker-sassen
10Dechent, Hermann, Kirchengeschichte von Frankfurt am main seit der Reformation, Bd. II, Frankfurt a. M./Leipzig 1921, S. 393.
11Dechent, Kirchengeschichte, Bd. II, S. 395.
12Dechent, Kirchengeschichte, Bd. II, S. 395.
13Dienst, Karl, Rund um die Paulskirche, Jahrbuch der Hessischen Kirchengeschichtlichen Vereinigung, 54. Bd. Darmstadt 2003, S. 80 f.
14Dienst, Paulskirche, S. 80 f.
15Kupisch, Karl, Das Jahrhundert des Sozialismus und die Kirche, berlin 1958, S. 54 f.
16Kupisch, Das Jahrhundert, ebd. unter Bezugnahme auf: Fritz Fischer, Der deutsche Protestantismus und die Politik im 19. Jahrhundert, HZ 171, 1951, S. 504..
17Kupisch, Das Jahrhundert, S. 54 f., unter Bezugnahme auf einen Brief des Direktors des Wittenberger Predigerseminars, Prof. Schmieder, nach: M. Gerhardt, Ein Jahrhundert Innere Mission, 2 Bände 1948,, S. 89.
18Kupisch, Das Jahrhundert, S. 56.
19Specht, Uwe, Reformierte Kirche im Vormärz, Frankfurt a. M. 1994, S. 112.
20Specht, Reformierte Kirche, S. 116.
21Dechent, Kirchengeschichte, Bd. II, S. 415.
22Dechent, Kirchengeschichte, Bd.II, S. 375-380.
23Wikipedia.org/wiki/Johann_Friedrich_Funck.
24Wikipedia.org/wiki/Nicolaus_Hadermann.
25Wikipedia.org/wiki/Johann_Wilhelm_Sauerwein.
26Pákh, Frankfurter Arbeiterbewegung, S. 43-48.
27Wikipedia.org/wiki/Johann_Christoph_Freyeisen.
28Wikipedia.org/wiki/Friedrich_Ludwig_Weidig. Zum Folgenden auch: Georg Büchner. Revolutionär Dichter Wissenschaftler. Ausstellungskatalog Darmstadt 1987, an vielen Stellen.
29S. hierzu Dechent, Kirchengeschichte, Bd. II, S. 421-423.
30Zum Folgenden: Roth, Ralf, Die Herausbildung einer modernen bürgerliche Gesellschaftin Geschichte der Stadt Frankfurt am Main, Hrsg. Frankfurter Historische Kommission, Bd. 3: 1789 – 1866, Ostfildern 2013, S. 369-372.
31Dechent, Kirchengeschichte, Bd. II, S. 411.
32Dechent, Kirchengeschichte, Bd. II, S. 411.
33Dechent, Kirchengeschichte, Bd. II, S. 411.
34Zitiert nach Dienst, Paulskirche, S. 25, der sich auf Dechent, Frankfurter Kirchen, S. 206 bezieht.
35Dechent, Kirchengeschichte, Bd. II, S. 412.
36Dechent, Kirchengeschichte, Bd. II, S. 412.
37Mitteilungen des Gemeindevorstandes 1847/1870, S. 15, nach Dechent, Kirchengeschichte Bd. II, S. 412.
38Dechent, Kirchengeschichte, Bd. II, S. 414.
39Dechent, Kirchengeschichte, Bd. II, S. 416.
40Dechent, Kirchengeschichte, Bd. II, S. 417.
41Dechent, Kirchengeschichte, Bd. II, S. 417.
42Dienst, Karl, Zwischen Paulskirche und Vereinshaus, Über Entstehungszusammenhänge der Inneren Mission, vornehmlich anhand Frankfurter Quellen, in: Jahrbuch der Hesssischen Kirchengeschichtlichen Vereinigung, 49. Band, Darmstadt 1998, S. 65 – 83, hier S. 65.
43Specht, Reformierte Kirche, S. 125, 128.
44Dechent, Kirchengeschichte, Bd. II, S. 418.
45Dechent, Kirchengeschichte, Bd. II, S. 426.
46Zitiert nach Dienst, Paulskirche, S. 41, unter Berufung auf Dechent, Die Frankfurter Kirchen zur Zeit des Parlaments, in: Dechent, Hermann, Ich sah sie noch die alte Zeit, Frankfurt a. M. 1985, S. 204-220, hier S. 209 f. Dechent, Kirchengeschichte, Bd. II, S. 420.
47Grabau, Richard, Das evangelisch-lutherische Predigerministerium der Stadt Frankfurt am Main, Frankfurt/Leipzig 1913, S. 138.
48Dechent, Kirchengeschichte, Bd.II, S. 425.
49Grabau, Predigerministerium, S. 138.
50Grabau Predigerministerium, S. 138, 142; Dechent, Kirchengeschichte Bd. II, S. 426
51Dechent, Kirchengeschichte, Bd. II, S. 426.
52Dechent, Kirchengeschichte, Bd. II, S. 426 f.
53Dechent, Kirchengeschichte, Bf. II, S. 428.
54Martin Greschat: Die Kirchen im Revolutionsjahr 1848, Neustadt/Aisch 1993,S. 35; nach Dienst, Paulskirche, S. 81.