Vortrag über Propst Karl Goebels
Propst Karl Goebels
Vortrag vor dem Ev.-luth. Predigerministerium Frankfurt am Main am 21. 9. 2021
Vorwort
Der Titel Propst ist in vielen Kirchen und mit unterschiedlicher Bedeutung zu finden. Gemeinsam ist allen Bedeutungen, dass er den Inhaber eines kirchlichen Leitungsamtes bezeichnet. Die Evangelische Kirche in Hessen und Nassau ist seit ihrer Gründung zur Wahrnehmung der geistlichen Leitung in Propsteibereiche gegliedert, die allerdings keine Stufe im organisatorischen Aufbau der Kirche von der Gemeinde über das Dekanat zu Gesamtkirche darstellen. Bis 2010 bildeten die Pröpste zusammen mit dem Kirchenpräsidenten und seinem Stellvertreter ein kollegiales Bischofsamt, das „Leitendes Geistliches Amt“ genannt wurde. Begründet wurde diese Organisationsform u. a. mit den Erfahrungen im Kirchenkampf. Die Aufgaben des LGA nahmen die Pröpste in ihrem Bereich wahr. So hatten sie u.a die Sorge für die rechte Verkündigung, die Einhaltung der Kirchenordnung, aber auch die Mitwirkung bei der Besetzung der Pfarrstellen. Da sie auch in eigenen Sitzungen zusammentraten, entwickelte sich sich das LGA bald zu einer Art Nebenkirchleitung. Ein Propsteibereich war der Propsteibereich Frankfurt, der die Frankfurter Gemeinden, zunächst noch ohne die westlichen Vororte, und das Dekanat Bad Vilbel umfasste. Der Propsteibereich sollte halt nicht zu sehr nach der alten Frankfurter Landeskirche aussehen. Ab den 90er Jahren wurde der Propsteibereich Frankfurt nach und nach mit Nachbarbereichen zusammengeschlossen, so dass Frankfurt heute zur Propstei Rhein-Main gehört. Der Propst hat einen Sitz in Wiesbaden. Nach dem Ausscheiden der Kirchenkampfgeneration begegnete das LGA mehr und mehr der Kritik. So wurde das LGA 2010 in die Kirchenleitung integriert. Die Funktion der Pröpste blieb weitgehend erhalten, aber es gab nun nur noch eine Kirchenleitung.
1. Lebenslauf von Karl Goebels
Karl Goebels war von von 1950 bis 1970 Propst für Frankfurt am Main. In seinen späten Lebensjahren hat er auf Drängen der Presse einen tabellarischen Lebenslauf verfasst.1 Auf der Grundlage, dieses Lebenslaufes, der ja beschreibt, was Goebels selbst für wichtig hielt, will ich zunächst einen Überblick geben. Danach will ich auf einige Themen ausführlicher eingehen.
„Karl August Nathanael Goebels
19. August 1901 – 14. November 1991
Vater Pfarrer an der Marienkirche in Hanau, humanistisches Gymnasium in Hanau. Seit 1911 aktive Teilnahme am Schülerbibelkreis in Hanau und Frankfurt. Studium der Theologie (in 7. Generation) in Bethel, Tübingen und Marburg. Starker Einfluss durch die Professoren Schlatter und Heim und durch die Deutsche Christliche Studentenvereinigung (DCSV). Fakultätsexamen in Marburg, Predigerseminar in Hofgeismar, 2. Examen in Kassel. Ordination 1926 in Hersfeld.
1926-1928 Hilfspfarrer in Ffm-Eschersheim (Emmausgemeinde).
1927 Heirat mit Elisabeth Wolf, der Tochter des mit Friedrich von Bodelschwingh eng verbundenen Betheler Pfarrers Friedrich Wolf. 3 Kinder.
1928 Berufung als 2. Pfarrer an das Diakonissenmutterhaus in Frankfurt. Aufbau und Leitung des Kindergärtnerinnen- und Hortnerinnenseminars. Begründung des Ev. Kinderpflegeverbandes in Frankfurt (Zusammenschluss der ev. Kindergärten und Horte). Später Vorsitzender dieses Verbandes in der nassau-hessischen Landeskirche. Schwerer Zusammenstoß mit der NSDAP wegen der Weigerung, die evangelischen Kindertagesstätten „freiwillig“ in die NSV zu überführen.
1936-1950 Gemeindepfarramt in der Mariengemeinde in Ffm-Seckbach. Seit den Anfängen Mitglied der Jungreformatorischen Bewegung, dann des Pfarrernotbundes und der Bekennenden Kirche, also der Kirche im Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Häufige Verhöre, Hausdurchsuchungen durch die Gestapo, Schöffengerichtsverhandlung wegen der Gemeindejugendarbeit.
1936 Vorsitzender des Ev. Mädchenwerks (Burckhardthausverband) in Ffm, später in der gesamten Kirche in Hessen und Nassau.
1936 Leitung der 1. „Evangelischen Woche“ in Frankfurt, die von den Nazis verboten wurde.
Vorbereitung auf den Tag X für den Neubau der Ev. Kirche. Bestimmung durch den Landesbruderrat der Bekennenden Kirche für den Tag X zur Neuordnung der Ev. Kirche in Frankfurt nach Kriegsende.
Zerstörung von Kirche und Pfarrhaus in Seckbach durch Bombenangriffe. Verbleiben in der Gemeinde unter schwierigsten Verhältnissen.
1945 Vorsitz in der vorläufigen Kirchenleitung der Ev. Kirche in Frankfurt, die nach dem Zusammenbruch gemeinsam mit den Pfarrern Fricke, Nell und Zickmann gebildet worden ist. In dieser Eigenschaft Teilnahme an den beiden von Landesbischof Wurm (Stuttgart) zusammengerufenen Kirchenführertagungen in Hephata bei Treysa. Bestätigung der bisherigen Arbeit durch den Friedberger Kirchentag. Durch die von ihm gewählte vorläufige Kirchenleitung der Ev. Kirche in Hesssen und Nassau mit der geistlichen Leitung der Frankfurter Gemeinden beauftragt. Dann Beauftragung mit der Durchführung der Generalkirchenvisitation in Frankfurt am Main.
1950 Wahl zum Propst für Frankfurt durch die neugebildete Kirchensynode der EKHN und Einführung in dieses Amt durch Bischof D. Dibelius in der Dreikönigskirche in Frankfurt. Versuch der Neuordnung der äußerlich und innerlich zerstörten Kirche. Bestreben, beim Neuaufbau die Mammutgemeinden aufzugliedern und die einsetzende Siedlungstätigkeit der Stadt durch Neubildung von Gemeinden zu begleiten. Bildung von vier Gesprächskreisen der Pfarrer, die Grundlage waren für die Bildung von Dekanaten.
1956 Verfasser der Schrift „Sammlung und Sendung“ als Ertrag des Kirchenkampfes und der theologischen und geistlichen Neubesinnung. Die Kirche hat danach ihre Existenz in der Sendung oder sie vegetiert neben ihrer eigentlichen Bestimmung. Voraussetzung des Lebens in der Sendung ist die Sammlung um den in Wort und Sakrament real präsenten Jesus Christus. Das bedeutet die Neubesinnung auf Wesen und Ereignis des Gottesdienstes. Die Missionssendung beginnt in der Familie und vor der Haustür und erstreckt sich bis „an die Enden der Erde“.
Feste Bindung an die Basler Mission. 1938 Berufung in deren Leitungsgremium. Versuch der Integration von Kirche und Mission. Entwicklung des Jahresfestes der Basler Mission in Frankfurt zum „Frankfurter Missionstag“. Konzentration der gemeindlichen Missionsaktivitäten auf Kamerun.
1962 und 1968 Reisen nach Kamerun,
1967 Gründung eines Afrikakollegs in Ffm-Praunheim für Studenten aus Afrika an den Frankfurter Hochschulen.
Erkenntnis, dass Deutschland Missionsland ist. Entsprechende Ausrichtung aller kirchlichen „Werke und Verbände“ auf ihren missionarischen Auftrag hin.
Seit 1930 Vorsitzender der „Frankfurter Bibelgesellschaft“, seit 1966 starker Einsatz für die Weltbibelhilfe.
Seit Jahren Vorsitzender der Ev. Allianz in Frankfurt.
Seit den Neuanfängen gutes Verhältnis zum Römer-Rathaus, besonders zu den Oberbürgermeistern Kolb, Bockelmann und Brundert. Vor der ersten Wahl zum Stadtparlament vom Propst einberufene Bürgerversammlung in der Paulskirche: „Evangelische Christen fragen – Politiker antworten“.
1961 Verleihung der Ehrenplakette der Stadt Frankfurt, 1968 Römerplakette in Gold.
Starke Verbindung mit der Jesusbruderschaft in Gnadenthal bei Camberg und dadurch wiederholte, längere Aufenthalte in Israel, um an dem Versöhnungs- und Sühnewerk in diesem Land und mit diesen Völkern Anteil zu haben. Aktive Mithilfe beim Aufbau von Latrun, einer Begegnungsstätte zwischen Christen und Arabern, errichtet von den Jesus-Brüdern nahe Jerusalem.
1984 Eintritt als Mitglied in die Jesusbruderschaft Gnadenthal, eine ev. Kommunität, deren Mitglieder im In- und Ausland nach festen Ordensregeln leben.“
2. Ergänzungen
2.1 Zur Herkunft
Goebels kam aus der kurhessischen Kirche nach Frankfurt. Jugend, theologische Examina, Ordination und erste pfarramtliche Tätigkeit in Eschersheim fanden in der damaligen kurhessischen Kirche statt. Doch Frankfurts Einfluss reichte über die Stadtgrenzen hinaus. Denn Albert Hamels Schülerbibelkreise fanden auch in Hanau statt.
Aus den Schülerbibelkreisen entwickelte Paul Both in den zwanziger Jahren das Evangelische Jungen- und Jungmännerwerk. Goebels hielt offenbar auch später den Kontakt. Dies führte zu einem bemerkenswerten Geschehen. Als 1933 die evangelische Jugend in die HJ (die Jüngeren) und die SA (die Älteren) überführt wurde, baten die Älteren Goebels, sie doch in der SA weiter zu betreuen. So trat Goebels in die SA ein. Als diese Betreuung aber 1935 nicht mehr möglich war, trat wieder aus der SA aus.
2.2 Studium
Wenn Goebels als wichtige theologische Lehrer Adolf Schlatter (1852 - 1938) und Karl Heim(1874-1958) in Tübingen nennt, dann sind das zwei Leitfiguren, die theologisch nicht den theologischen Hauptströmungen zuzurechnen sind.Was könnte er mitgenommen haben? Bei Schlatter vielleicht die Aufforderung, sich theologisch nicht ängstlich an Traditionen oder Lehrer zu binden, sondern die selbständige Erkenntnis zu suchen. Auch: zu erkennen, dass die eigene Urteilsbildung intensive Beobachtung voraussetzt. Wissenschaft ist erstens Sehen, 2. Sehen, 3. Sehen und immer wieder Sehen, wie Schlatter es einmal formuliert hat. Bei Heim faszinierte ihn vielleicht der Versuch, in der wissenschaftlich-technischen Welt doch eine biblisch-christliche Orientierung zu finden. Schlatter wird noch einmal Erwähnung finden. Und auf die DCSV, die im Dritten Reich aufgelöst werden musste beriefen sich nach dem 2. Weltkrieg sowohl die Studentenmission Deutschlands als auch die Studentengemeinden.
2.3 Im Diakonissenhaus
Im Diakonissenhaus war Goebels für das Magdalenenheim für „gefallene“ Mädchen und für das Kindergärtnerinnen- und Hortnerinnen-Seminar zuständig. In seiner Annrittspredigt sprach er zunächst davon, wie schwer es ist, Pfarrer in einer Welt zu sein, die sich vom lebendigen Gott gelöst hat; weil die Lebensgesetze der Kirche nicht allein vom Evangelium bestimmt sind, weil das Leben der Kirche auch von menschlicher Beschränktheit geprägt ist. Das Mutterhaus schien ihm da fast ein bißchen heile Welt. Doch Gottes Wort sei frei von all' solchen Bindungen. Von der eigenen geistigen Umwelt, der eigenen Weltanschauung, irgendeiner Theologie von gestern oder von heute. Doch es kommt ja gar nicht auf uns selbst an. Das Wort Gottes wirkt durch uns hindurch. Aber wie das so ist, die äußeren Bindungen holten den jungen Pfarrer bald ein: die Wirtschaftsnöte, die Finanzierung der Arbeit usw., wie es im Jahresbericht des Erziehungsheimes für das Jahr 1932 zum Ausdruck kommt. Aber auch das weltanschauliche Umfeld. Und da wird dann auch deutlich, wie ambivalent das Verhältnis evangelischer Pfarrer zum NS-Staat war; bei einigen nur anfangs, bei anderen länger. So wurde 1934 im Mutterhausblatt von einem Gefolgschaftsabend berichtet, an dem Pfarrer Hofmann über die Bedeutung des Gesetzes zur Ordnung der nationalen Arbeit sprach, Verwaltungsinspektor Schneider das Sieg-Heil auf den Führer ausbrachte und die Anwesenden unter der Leitung von Pfr. Goebels das Lied „Und wenn wir marschieren“ lernten. Im Jahresbericht 1933 des Magdalenenvereins berichtete Goebels, dass die „kämpfende Bewegung des Nationalsozialismus auch unter unseren Mädchen begeisterte Anhänge-innen fand und dass der Umschwung des 30. Januar in „unserm Heim freudig begrüßt wurde.“ Und weiter: „Am 12. März konnten wir anläßlich des Volkstrauertages zum ersten Mal wieder die schwarz-weiß-rote Fahne hissen, für die unsere Kämpfer auf den Schlachtfeldern in den Tod gegangen waren. Als sich das Hakenkreuz als Zeichen des neuen Deutschland dazugesellte, waren alle Heiminsassen stolz darauf, durch dieses äußere Zeichen ihre Anteilnahme an der neuwerdenden Volksgemeinschaft zu bekunden.“ Und an anderer Stelle: „Wir hatten es nicht nötig, uns von der liberalistischen Ideenwelt der Vergangenheit zu lösen, weil eine Erziehungs- und Bildungsarbeit, die unter dem Anspruch des Evangeliums geschieht, sowieso das Ende aller menschlichen Verstiegenheit, die sich über gottgesetzte Schranken erhebt, aufweist. Wir haben die Eingliederung in die neuwerdende Volksgemeinschaft freudig begrüßt.“ Im Bericht des Kindergärtnerinnen- und Hortnerinnen-Seminars für das Schuljahr 1934/35 heißt es anküpfend an diese Aussage allerdings: „so müssen wir heute sagen, daß die evangelische Erziehung sich scharf abgrenzen muß gegen eine neue menschliche Verstiegenheit, die sich im Namen einer neuen Religion über gottgesetzte Schranken erhebt.“ Ergänzend dazu ist daran zu erinnern, dass auch Pfarrer Hofmann zunächst Sympathien für das Dritte Reich bekundet hatte. Das Jahr 1933 wurde aber für die Verantwortlichen des Diakonissenhauses ganz von der Sorge um die Existenz des Hauses im neuen Staat geprägt. Am 7. September 1933 wurde in Berlin der Pfarrernotbund gegründet, dem Goebels nach eigenem Bekunden von Anfang an angehört hatte. Und am 28. Oktober 1934 erklärten die beiden Pfarrer dann im Anschluss an den Einsegnungsgottesdienst, dass sich beide Pfarrer und das Diakonissenhaus der Bekennenden Kirche angeschlossen hätten. Die Oberin gehörte dann auch der Bekenntnissynode an. Wir sehen also, welche Faszination die neue Zeit zunächst ausgeübt hatte. Zum Sinneswandel der beiden Pfarrer trug vermutlich auch bei, dass der Vorsitzende des Vorstandes, Senatspräsident Heinrich Heldmann, wirklich von Anfang an Gegner des Dritten Reiches gewesen war.
2.4 Gemeindearbeit, Bekennende Kirche und Krieg
Die Arbeit in der Mariengemeinde wurde zunächst stark durch die aktive Rolle, die Goebels in der Bekennenden Kirche einnahm, geprägt. Dann kam der Krieg, zu dem er wegen einer Schilddrüsenerkrankung nicht eingezogen wurde. 1973 erinnerte sich Karl Goebels an die Kriegszeit im Reformierten Gemeindeblatt:2 „Der Krieg nahm immer verheerendere Ausmaße an. Viele Gemeindeglieder waren evakuiert. Auch ausgebombte Pfarrer hatten die Stadt verlassen. Die Pfarrer der Bekennenden Kirche waren zu einem kleinen Bruderkreis zusammengeschmolzen. Pfarrer Reinhard Ring – damals noch Pfarrvikar – gehörte dazu. Er litt schwer an seiner Kriegsverletzung. Ich selbst war infolge einer Operation nicht mehr k. v. und wurde nicht eingezogen. Ein paar Jüngere, die nicht wehrdienstfähig waren, hielten sich zu uns. … Die Daheimgebliebenen suchten die Gemeinden zusammenzuhalten – und warteten auf den Tag X.Wir waren von der tiefgreifenden Zerstörung unserer Kirche überzeugt und suchten nach einer Planung, wie wir am Tage X zum Neuaufbau ansetzen könnten. Einmal hatten wir uns zu diesem Zweck in der Wohnung von Bruder Ring in der Hartmann-Ibach-Straße versammelt, als die Sirenen heulten und wir unsere Sitzung in den Keller verlegen mußten. Dort trug uns Erich Foerster, der nach meiner Erinnerung damals schon im Ruhestand war, seinen Entwurf einer neuen Kirchenordnung vor. Im Keller wurden Pläne geschmiedet und verworfen. … Natürlich wurde damals im Gedanken an eine Neuordnung des Frankfurter Kirchenwesens auch die Frage nach der Daseinsberechtigung der beiden reformierten Gemeinden in unserer Stadt aufgeworfen. Es setzte sich die Überzeugung durch, daß sie weder in ihrem Personalgemeindeprinzip noch in ihrer in Krisenzeiten bewährten Gemeindeordnung allein begründet sein könne, sondern in einer Neubesinnung auf das reformierte Bekenntnis, das sie in das Gesamtgefüge der Frankfurter Gemeinden einzubringen hätten.
Übrigens begannen wir uns damals auch Gedanken zu machen über die Notwendigkeit der Neugliederung der großstädtischen Massengemeinden. Als wir dann nach dem Kriege an den Wiederaufbau der zerstörten Kirchen gehen konnten, zeigte es sich zu unserem Leidwesen, daß oft noch die Ruinen der großen Kirchen die Maße des Wiederaufbaus bestimmten und damit auch die Ausmaße der Großgemeinden. Die reformierte Gemeinde allerdings ist dieser Gefahr nicht erlegen. … Ich machte Bruder Ring mit den Erkenntnissen meines Tübinger Lehrers Adolf Schlatter bekannt, der für eine gesunde Entwicklung der Kirche in der Großstadt die Bildung von kleinen, übersichtlichen Gemeinden empfohlen hatte. Die reformierte Gemeinde hat dann später die Dezentralisation gewagt ...
Wenn bei unseren 'Keller- und Katakombengesprächen' … die Notwendigkeit der Neubesinnung auf die reformatorischen Bekenntnisse zu Tage trat, so bedeutete das nicht, daß wir einem neuen Konfessionalismus das Wort geredet hätten. Dafür standen wir zu sehr unter dem Einfluß der Schrifttheologie eines Adolf Schlatter, des theologischen Neuansatzes durch Karl Barth und der Theologischen Erklärung von Barmen. Dafür hatten wir auch zu tiefgehende Erfahrungen der brüderlichen Begegnung im Kirchenkampf gemacht. … - so scheuten wir uns auch nicht, das 'ein Leib und ein Geist'(Eph. 4, 5) Wirklichkeit werden zu lassen, indem wir miteinander das Herrenmahl feierten. In der Zeit, als der Tag X deutlicher und katastrophaler heranrückte, kamen Reinhard Ring, Heinz Welke, Hugo Schmidt mit mir in unserer Seckbacher Kirche zusammen, um an jedem Montagmorgen das Abendmahl zu feiern und uns anschließend auf unseren Predigtdienst zu rüsten – bis dann auch diese Kirche in einer Brandnacht in Flammen aufging.
Wir aber suchten die Zusammenkünfte unter dem Wort – wirklich bis zum Äußersten – festzuhalten. Der Predigtvorbereitungskreis war noch vor der Machtergreifung Hitlers im Januar 1933 mit den damals fünf jüngsten Frankfurter Pfarrern in meinem ehemaligen Pfarrhaus in der Eysseneckstraße entstanden. Es war für uns Frankfurter Individualisten, die von keiner Perikopenordnung der Kirche wußten, ungemein heilsam, sich für jede Predigt auf einen gemeinsamen Text zu einigen, ihn gemeinsam zu bedenken und auf seinen Verkündigungsgehalt hin abzuhören. Auch das Gebet über dem Text und angesichts der immer schwieriger werdenden Lage in der Gemeinde gewann an Gewicht. Es war dann auch auf der Kanzel angesichts der oft so ratlosen oder mißgeleiteten Gemeinde sehr tröstlich, um die Brüder zu wissen, die die Predigt mitverantworteten.
An einem sonnigen Septembermorgen des Jahres 1944 saßen wir in meinem Studierzimmer im Seckbacher Pfarrhaus, um den Predigttext für den nächsten Sonntag bemüht. Der einsetzende Fliegeralarm störte uns zunächst nicht wesentlich. Als das Surren und Schießen näher kam verlegten wir unsere gemeinsame Arbeit in den Keller. Schließlich aber merkten wir, daß die Sache ernst wurde, und verzogen uns in den mit Balken abgestützten Luftschutzkeller des angebauten Gemeindehauses, wo schon etwa 40 Gemeindeglieder versammelt waren. Da schlugen auch schon drei schwere Sprengbomben ein, zwei in das Pfarr- und Gemeindehaus, eine verwüstete den Pfarrgarten und hinterließ einen riesigen Trichter. Die Ausgänge waren verschüttet, die Keller eingebrochen – bis auf einen, in dem wir versammelt waren. Fast unversehrt konnten wir mit allen Gemeindegliedern durch einen Notausgang ins Freie gelangen: Jürgensmeier, der treue und in der Zeit der vielen Hinrichtungen bewährte Gefängnisseelsorger, Klemann, der mit zerschossener Hand aus der Wehrmacht entlassen worden war, Reinhard Ring und ich.
Wir hielten mit Zähigkeit an diesen Predigtvorbereitungen fest. … die politische Relevanz dieser Haltung kam uns nur bei den Verhören bei der Gestapo zum Bewußtsein. Wir waren nachher einigermaßen erstaunt, als uns später bei der Entnazifizierungswelle dieses Selbstverständliche als 'Widerstand gegen den Nationalsozialismus' angerechnet wurde. Immerhin – so etwa sah unser Warten auf den Tag X aus. ...“
2. 5. Kriegsende und Neuanfang
Schon im Jahre 1943 hatte der Landesbruderrat der Bekennenden Kirche die beiden Frankfurter Mitglieder Otto Fricke und Karl Goebels beauftragt, am Tage "X" die Verantwortung für die Frankfurter Kirche zu übernehmen. Dementsprechend forderte Fricke kurz nach dem Einmarsch der Amerikaner den Propst für Frankfurt, Pfarrer Erich Meyer auf, sein Amt niederzulegen. Der tat das auch. Am 11. April 1945 versammelte sich dann die Frankfurter Pfarrerschaft, soweit dies den Einzelnen unter den gegebenen Umständen möglich war, und setzte einen Vierer-Ausschuss ein, der aus den beiden BK-Pfarrern Otto Fricke und Karl Goebels sowie den dem Einheitsblock angehörenden Pfarrern Ernst Nell und Arthur Zickmann bestand. Am 8. Mai 1945 stellte die Pfarrerschaft in einer erneuten Versammlung fest, "daß der Vierer- Ausschuß die vorläufige Leitungder Evangelischen Kirche in Frankfurt am Main ist." Der Vorsitz wurde Karl Goebels übertragen.
Bemerkenswert, auch für die Haltung von Goebels, war das „Wort der Vorläufigen Leitung der evangel. Kirchein Frankfurt/M. zum Pfingstfest 1945“,3 das am 20./21. Mai 1945 gefeiert wurde.In den einleitenden Sätzen wurde das Pfingstfest als Gründungstag der Kirche Jesu Christi beschrieben und die Einheit der Völker und Konfessionen in dieser Kirche beschworen. Dann hieß es weiter:
„Mit unserem ganzen Volk kommt unsere Kirche her aus einer Zeit grosser Not und Anfechtungen. Was ohne Gott begonnen wurde und Gottes Namen in Wort und Werk immer deutlicher lästerte, das musste enden in Elend und Vernichtung. Heute wissen wir alle: Wir waren 12 Jahre lang im Banne einer Macht, die dem Bösen diente, und das Ergebnis ist vor aller Augen: unsägliches Leid wurde über Menschen, über ganze Völker und besonders über das Volk der Juden gebracht. Gottes Ebenbild wurde entstellt und verwüstet. Nachdem einmal Gottes heilige Gebote ausser Kraft gesetzt waren, gab es nichts mehr, was heilig war. Es schwand die Ehrfurcht vor dem Leben, vor dem Eigentum, vor Gut und Blut. Die Gerechtigkeit wich aus unserem Volke und die Lüge triumphierte.
Wir haben den Krieg mit den übermenschlichen Leistungen unserer Brüder an den Fronten erlebt. Wir können nicht vergessen, wieviel ehrliches Wollen und opferwilliges Dienen für die Zukunft unseres Volkes offenbar geworden und mit der Hingabe von Leben und Blut für das Vaterland bezahlt worden sind. Wir haben aber auch den Krieg in all seiner Schrecklichkeit durchlitten: Unzählige trauern um ihre Lieben, die gefallen oder vermisst sind, Frauen und Kinder haben in Bombennächten ihr Leben lassen müssen, Häuser und Wohnungen wurden zerstört und die Kirchen liegen in Trümmern. Gewiss hat der Krieg seine Wurzeln in den Sünden aller Völker, aber wir haben in dieser Stunde der Heimsuchung nicht auf die anderen zu sehen, sondern auf uns. Wir sind vor Gott gefordert und erkennen sein Gericht über uns, über unser Volk. Gott denkt in Völkern. So sucht er an Völkern heim, was ihre Regierungen und Mächtigen und deren Mittäter sündigen. Hier beginnt unsere Buße. Wir beugen uns unter alle Not, die über uns gekommen ist und noch über uns kommen mag und bekennen stellvertretend für unser Volk: 'An dir, Herr, haben wir gesündigt und Unrecht vor dir getan. Wir haben dein heiliges Gebot übertreten, das uns gebietet: Du sollst keine andern Götter haben. Wir haben irdische Gaben, Mächte und Gestalten neben oder über dich gestellt, statt dir allein zu dienen. Alle deine Gebote haben wir verletzt und es ist nicht zu sagen, welches von ihnen wir am meisten übertreten haben.' …
Es ist die Ehre der Kirche, dass sie in den Zeiten der Not und Bedrückung nicht stumm gewesen ist. Das Zeugnis von Christus ist laut geworden über unserem Volke, auch dann noch, als das Evangelium immer deutlicher beiseite gedrängt wurde. Gott hat in unseren Zeiten in seiner Kirche Zeugen erweckt, die ihn mit dem Tode verherrlicht haben. Andere haben Gefangenschaft erduldet. Der eine von ihnen, Pastor MartinNiemöller, für dessen Befreiung wir Gott danken, war fast acht Jahre lang hinter Stacheldraht. Um diese Zeugen darf sich nun die evangelische Kirche scharen und einen neuen Anfang machen. Vieles in unserer Kirche muss neu werden, Aufgaben mannigfacher Art liegen vor uns. Im Geiste der Pfingsten allein kann es zu einer rechten Erneuerung der Kirche kommen: in Buße und Bekehrung, in inniger ganzer Hinwendung zu dem gekreuzigten und auferstandenen Herrn: 'Komm heiliger Geist, erfülle die Herzen deiner Gläubigen und entzünd in ihnen das Feuer deiner göttlichen Liebe'. …
Fricke. Goebels. Nell. Zickmann.“
2.6. Gemeindeverband und Gesamtkirche
Neben vielem anderem ergaben sich mit dem endgültigen Aufgehen der Frankfurter Kirche in der EKHN besondere organisatorische Probleme. Die Frankfurter Kirche war bis 1933 von dem starken Gewicht der Laien und der Gemeindeverbände geprägt. Der Verband der lutherischen und unierten Gemeinden hatte das Dritte Reich nicht nur relativ unbeschadet überstanden, sondern auch mit dem Auffangen vormals landeskirchlicher Einrichtungen sein Aufgabenfeld vergrößert. Dies konnte natürlich nicht in der Konfrontation mit dem Staat geschehen. So waren hier Pfarrer tätig gewesen, die nicht zu Bekennenden Kirche gehört hatten. Nun brach der Machtkampf zwischen den „Standhaften“ und den „Kompromisslern“ offen aus. Am 15. April 1948 trat erstmals die neue „Gemeindevertretung“ des Verbandes zusammen. Trotz oder vielleicht auch wegen der Feststellung, dass der Stadtsynodalverband das Dritte Reich unangetastet überstanden hatte, kam man zu der Überzeugung, dass eine Neuorganisation des Verbandes anstünde. Hierbei ging es auch um die prinzipielle Frage, ob der Verband sich weiter als Synode verstehen könne, und auch um die Frage, wer die wichtigen Positionen in ihm besetzen werde.
Auf der Grundlage eines Entwurfes von Pfarrer Ernst Nell und der Vorarbeit eines Verfassungsausschusses beschloss die Gemeindevertretung am 9. Februar 1949 die neue Satzung des nunmehr "Gemeindeverband der evangelisch-lutherischen und evangelisch-unierten Kirchengemeinden in Frankfurt am Main" genannten Verbandes. Aus der „Gemeindevertretung“ wurde die „Gesamtvertretung“ als Versammlung der Vertreter der Mitgliedsgemeinden. Am 4. Oktober 1949 gab es in der Gesamtvertretung eine Grundsatzdebatte zum eigenen Selbstverständnis. Dabei warnte Otto Fricke vor einer "Sonderkirchenleitung" in Frankfurt und sah die Gefahr hierfür vor allem darin, dass an der Spitze des Verbandes ein Pfarrer stehen sollte. Aber dann wurde doch mit überwältigender Mehrheit Pfarrer Ernst Nell zum Vorsitzenden gewählt. Karl Goebels sah das geistliche Schwergewicht in Frankfurt nicht im Verband, sondern in den Dekanatssynoden. In einem Schreiben vom 20. November 1949 äußerte er gegenüber Martin Niemöller: „In Frankfurt steht nun nach unangenehmen Personalkämpfen endlich die neue Vertretung des Gesamtgemeindeverbandes. Ohne Otto Frickes kluge und ellenbogenkräftige Taktik wäre die Sache wohl sehr schief gelaufen. Wir haben diesem neuen Gemeindeverband gleich in aller Deutlichkeit gesagt, dass er sich in keiner Weise als Synode zu verstehen habe und dass das eigentliche Schwergewicht auf den kommenden Dekanatssynoden ruhen werde.“ Auch lässt der gleiche Brief vermuten, dass es in der Gesamtkirche Kräfte gab, die Frankfurt, verkörpert durch den Gemeindeverband, nicht zu mächtig werden lassen wollten. „Im übrigen werde ich nicht müde, für Frankfurt bei den Brüdern der Leitung um Liebe und Geduld zu werben, die wir dieser Stadt mit ihren 300 000 Evangelischen und ihrer fragwürdigen Kirchengeschichte wohl schuldig sind. Die Greinschen Methoden (um die Sache stichwortmäßig zu kennzeichnen) erscheinen mir ungeeignet und richten nur Zorn an. Eine Zwangsehe mit finanziellen Erziehungsmethoden des Partners verspricht nicht eben glücklich zu werden. Aber ein bißchen Liebe und verständnisvolle Geduld könnte auf die Länge der Zeit Wunder wirken.“ Nach zähen Verhandlungen mit der Gesamtkirche wurde die Satzung schließlich am 6. Mai 1953 von der Synode der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau genehmigt. Dabei hielt die Synode fest: "Der Gemeindeverband hat kein eigenes Recht, er nimmt aber die Rechte und Pflichten der ihm angehörenden Kirchengemeinden in Frankfurt am Main gemäß Artikel 13 Abs.4 der Kirchenordnung der EKHN wahr, soweit ihm diese übertragen sind."
2.7. Rückblick
Rückblickend beschrieb Karl Goebels 1974 die Nachkriegssituation der evangelischen Kirche.4 „Dies war auch der Zeitpunkt, nach der Zerstörung über eine neue Konzeption der Gemeindebildung und einen sinnvollen Aufbau der kirchlichen Gebäude nachzudenken. Aber es zeigte sich bald, daß man dabei nicht von einem Nullpunkt ausgehen konnte und daß mit Gegebenheiten gerechnet werden mußte, die die Richtung mitbestimmten und eine gründliche Veränderung, die notwendig erschien, verhinderten. Es gehörte zum Beispiel zu der Erkenntnis vieler, daß die Zeit der volkskirchlichen Massengemeinden mit den dazugehörigen Großkirchen vorüber sei. Das Ziel waren kleinere, überschaubare Gemeinden. Aber sogar die Trümmer der Großkirchen standen dem noch im Weg: es gelang in keinem Fall, eine zerstörte Kirche kleiner wiederaufzubauen, als es deren ursprünglicher Grundriß vorschrieb.
Dazu kam als hemmendes Element, daß sich sehr bald nach der Währungsre-form auch wieder die restaurativen Kräfte in den Gemeinden bemerkbar machten: alles sollte möglichst wieder so werden, wie es früher war. Es bedurfte oft eines zähen Rin-gens mit Kirchenvorständen und Pfarrern, bis sie in die Aufgliederung ihrer Gemeinde oder die Verselbständigung einzelner Bezirke zu neuen Gemeinden willigten. Trotz die-ser Schwierigkeiten ist es in fünfundzwanzig Jahren gelungen, in Frankfurt 26 neue Gemeinden zu gründen und mit den notwendigen kirchlichen Gebäuden auszustatten. Wie sehr die Kirche an Bewegungsfreiheit gewonnen hatte, bei dem Aufbau und der Siedlungsbewegung der Stadt Frankfurt in allen Wohnbezirken präsent zu sein, geht aus der Gegenüberstellung einiger Zahlen hervor: Nach einer Statistik aus dem Jahr 1931 waren im Stadtgebiet Frankfurt 62 evangelische Pfarrer tätig, davon einer im übergemeindlichen Dienst. Im Jahr 1974 betrug die Zahl der Frankfurter Pfarrer und Pfarrerinnen (ohne das Dekanat Bad Vilbel) 165, davon im Gemeindedienst 140, in der Kranken- und Altenseelsorge 13, 4 Studentenpfarrer und in übergemeindlichen Diensten 8. Dazu kommen noch 11 Pfarrer im Religionsunterricht an Gymnasien und Berufsschulen. Auch eine andere Zahl spricht für die Entfaltungsmöglichkeit in den Gemeinden unserer Stadt: im Jahr 1931 gab es in Frankfurt 18 evangelische Gemeindekindergärten und -horte, im Jahr 1974 sind es 76.“
In seiner Schrift „Der große Auftrag“5 aus dem Jahr 1956 beschrieb er die Aufgabe der Kirche als Sammlung der ihr Angehörenden im Gottesdienst und als ihre Sendung in die Mission – vor der eigenen Haustür und weltweit. Sammeln, zusammenhalten, das strahlte schon seine Person aus. War der erste Eindruck auch eher der von Disziplin oder gar Strenge, so strahlte er doch im Umgang eine große Menschenfreundlichkeit und Güte aus. Seine Sorge um die Sammlung äußerte sich nicht nur in Gottesdiensten und Andachten, auf deren Gestaltung, Liturgie und Musik er Wert legte – er kam aus der „Alpirsbacher“ liturgischen Bewegung. Da hier nach evangelischem Verständnis die Bibel die zentrale Rolle zu spielen hatte, lag es nahe, dass Goebels Vorsitzender der traditionsreichen Frankfurter Bibelgesellschaft wurde und für die Verbreitung der Bibel sorgte. Da ihm die Mission ebenso wichtig war, engagierte er sich für die Partnerschaft Frankfurts und der evangelischen Kirche in Hessen und Nassau und in der Basler Mission, zu der Frankfurt schon lange enge Beziehungen pflegte.
2.8. Die Partnerschaft mit Kamerun
Im Jahr 1956 begann Goebels, für eine Partnerschaft mit Kamerun zu werben6. Er meinte, dass es nach Krieg und Wiederaufbau sowie trotz der Bruderhilfe für die Gemeinden in der DDR an der Zeit sei, sich stärker an der äußeren Mission zu beteiligen. Dabei erinnerte er daran, dass die große Mehrzahl der Frankfurter Gemeinden sich schon immer der Basler Mission verbunden gefühlt und diese unterstützt hätte. Auch sei Kamerun einst deutsche Kolonie gewesen und „wir haben die Schuld des Kolonialismus sehen gelernt“. Deshalb habe man ein Patengebiet in Kamerun gefunden, das es nun mit aller Kraft zu unterstützen gelte. „Kamerun stellt uns vor eine Fülle dringlicher Aufgaben, an denen sich die Missionsliebe unserer Gemeinden sehr wohl entzünden kann: in diesem Lande gibt es tausende von Aussätzigen, deren trauriges Los uns ja aus den Geschichten der Bibel bekannt ist. Heute aber ist ärztliche Hilfe möglich. Deshalb hat die Mission ein Spital mit einer Aussätzigensiedlung errichtet, die in kürzester Zeit bereits von über 500 Kranken bevölkert war. Einige konnten schon geheilt entlassen werden. Welcher Arzt ist bereit, dem völlig überlasteten Urwalddoktor zu Hilfe zu kommen? – An der Küste finden sich große Bananenpflanzungen, Tausende Männer und Burschen verlassen ihre Dörfer und Familien, um an der Küste leichteren Verdienst zu finden. An diesen entwurzelten Pflanzungsarbeitern und Angestellten muß missionarisch gearbeitet werden, damit sie nicht rettungslos innerlich und äußerlich abgleiten. – In Fotabe hat die Mission eine Siedlung für junge Burschen errichtet, die wir eine bäuerliche und handwerkliche Volkshochschule nennen würden. Hier werden die jungen Leute, die es aus ihrem heimatlichen Dorf an die Küste drängt, sorgfältig in Landwirtschaft und Handwerk ausgebildet, damit sie neue Freudigkeit und Fähigkeit gewinnen, sich auf der heimatlichen Scholle zu halten. Natürlich steht diese hoffnungsvolle Arbeit unter der Leitung eines besonders befähigten Missionars, der diese Lebens – und Werkgemeinschaft in lebendigster Weise unter das Evangelium stellt. – In jahrzehntelanger Arbeit hat einer unserer Missionare die ganze Bibel in die Bali-Sprache des nördlichen Graslandes übersetzt. Die Bibel ist im Druck und soll verbreitet werden. Wer hilft mit? – Als Frucht der siebzigjährigen Missionsarbeit besteht in Kamerun eine lebendige Junge Kirche. Sie ist aber noch längst nicht in der Lage, mit eigenen Kräften die Aufgaben in der Schule, der Frauenarbeit, der Lehrer- und Pfarrerausbildung zu bewältigen. Vor allem aber kann die Kamerunkirche noch nicht allein die Missonsaufgabe tragen. Gerade jetzt sollten zwei neue Missionsstationen im Kreuzflußgebiet und in dem missionarisch noch unerschlossenen nördlichen Hinterland errichtet werden. Wer hilft mit, diese Aufgaben anzufassen und diese Lasten zu tragen? – bei all dem müssen wir uns vor Augen halten, wie gefährdet diese Menschen im erwachenden Afrika sind: die zersetzenden Einflüsse der modernen Zivilisation, die kommunistische Propaganda, der überhitzte Nationalismus und nicht zuletzt die unheimlichen Mächte eines neu erwachenden Heidentums, das aus Blut und Boden seine faszinierenden Kräfte zieht, üben ihre Wirkung aus. Nur die Gemeinde unter dem Kreuz vermag hier zu widerstehen, nur eine lebendige Kirche kann heilende Kräfte in das Leben dieses Volkes tragen. Der Mann aus Kamerun steht vor uns: 'Komm herüber und hilf uns' – wenn es auch vorerst nur mit unserer Liebe, mit Gebet und Opfer geschehen kann. … Kamerun ruft!“ Hieraus folgte ein Antrag des Frankfurter Evangelischen Missionsvereins an alle Dekanatssynoden des Visitationsbezirkes Frankfurt förmlich zu beschließen, dass man sich für das Basler Missionswerk und die junge Kirche in Britisch-Kamerun verantwortlich wisse und den Gemeinden empfiehlt, „sich die Missionsarbeit in diesem Gebiet besonders angelegen sein zu lassen“. Die Dekanatssynoden nahmen den Antrag alle mit großer Mehrheit an. Eine erste Folge war das Anwachsen der Spenden aus den Frankfurter Gemeinden. Es folgte die Einladung des Frankfurter Propstes nach Kamerun durch die Presbyterianische Kirche, die dieser im Auftrag der Kirchenleitung der EKHN annahm. Im November 1962 reiste Goebels in Begleitung des hauptamtlichen Vertreters der Basler Mission in Frankfurt, Missionar Karl Erny, nach Kamerun. Im Januar 1963 kehrte er nach informativen und ereignisreichen Wochen nach Frankfurt zurück. Hier berichtete er ausführlich von seinen Erlebnissen und von den großen Aufgaben, vor denen die Kirche in Kamerun stand.7
Als Mitte der sechziger Jahre ein Großkirchensteuerzahler von der Gesamtkirche forderte, über die Verwendung seiner Steuern mitentscheiden zu können, gab die Gesamtkirche nach, und Goebels erhielt eine hohe Summe, um sich einen Wunsch erfüllen zu können: den Bau des „Africanums“. Nach der Afrikareise, war er überzeugt, in Frankfurt etwas für christliche, afrikanische Studenten tun zu müssen. In einem Wohn- und Studienzentrum sollten sie gemeinsam mit deutschen Studenten Wohnung und Begleitung finden, um später den Aufbau Afrikas mitgestalten zu können. Mit Hilfe des Gemeindeverbandes entstand so in Praunheim das „Africanum“. Doch stand dies unter keinem guten Stern. Als es fertig gestellt war, stellte sich heraus, dass es an der Frankfurter Universität gar nicht genug afrikanische Studenten gab, wohl aber als Praktikanten, an der Fachhochschule und an verschiedenen Fachschulen. Zudem wirkten sich auch die Studentenunruhen auf das Haus aus. Daraus ergaben sich zunehmend Konflikte mit dem „Stifter“, der Goebels das Scheitern seines Konzepts vorwarf. Diese wurden schließlich gelöst, indem der Gemeindeverband die „Stiftung“ ablöste. Mit einem kleinen Freundeskreis betreute Goebels nun, auch unter persönlichen Opfern der Beteiligten, lange Jahre diesen Personenkreis. In Folge dieser Entwicklungen fand schließlich die „Ökumenische Werkstatt“ in der Praunheimer Landstraße 206 eine Unterkunft. Sie gab 25 Jahre lang Pfarrerinnen und Pfarrern, Konfirmanden- und Jugendgruppen wie auch Kirchenvorständen die Möglichkeit, sich über die weltweiten Herausforderungen der Christenheit und lokales Engagement zu informieren. Heute befindet sich hier das Zentrum für Ökumene der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau.
2.9 Ökumene vor Ort
Das 2. Vatikanische Konzil (1962 – 1981) hatte positive Auswirkungen auf das ökumenische Miteinander in Frankfurt. Schon Ende 1956 hatten ja die „Frankfurter Gesprä-he“ mit namhaften katholischen und evangelischen Theologen begonnen, an denen nun 1964 Weihbischof Walther Kampe und Oberkirchenrat Wolfgang Sucker als Stellvertreter des Kirchenpräsidenten der EKHN teilnahmen. Im gleichen Jahr begann ein evangelisch-katholischer Arbeitskreis mit Vertretern aus jedem Dekanat mit vierteljährlichen Treffen. Aus ihm ging später die ökumenische Dekanekonferenz hervor. Ein erster ökumenischer Gottesdienst fand am 22. Mai 1966 in der St. Katharinenkirche mit Propst Goebels und Stadtpfarrer Adlhoch statt. Als Generalsekretär Wilhelm Adolf Visser 't Hooft und Kardinal Augustin Bea den Friedenspreis des deutschen Buchhandels erhielten, feierten sie am 25. September 1966 in der St. Peterskirche einen ökumenischen Gebetsgottesdienst.
Ein deutliches Zeichen für verschiedenste Bemühungen von Einzelpersonen und Kirchengemeinden auf evangelischer wie katholischer Seite, sich kennenzulernen und zusammenzuarbeiten war, dass der Evangelische Gemeindeverband als Herausgeber des Frankfurter Kirchlichen Jahrbuches der katholischen Kirche das Angebot machte, das Jahrbuch künftig gemeinsam herauszugeben und auch Freikirchen einzubeziehen. Katholische Kirche und Freikirchen nahmen das Angebot an. So gaben der Evangelische Gemeindeverband, der Gesamtverband der katholischen Kirchengemeinden und die Vereinigung der Evangelischen Freikirchen ab 1970 das Jahrbuch als ökumenisches Jahrbuch gemeinsam heraus. In diesem ersten Band wurde der inhaltliche Teil des Jahrbuches mit kurzen Artikeln, die unterschiedlichste Positionen aus den Bereichen der Herausgeber zu aktuellen kirchlichen Themen behandelten, gefüllt.
Karl Goebels suchte in seinem Beitrag, dies Geschehen einzuordnen.8
„Es gehört zu den vorwärts weisenden Ergebnissen der letzten Jahrzehnte, daß die Kirche ihren großen Auftrag zu erkennen beginnt: die Sendung in die Welt. Es muß uns zwar wundernehmen, daß diese Erkenntnis eine so neue Entdeckung für Theologie und Kirche bedeutet. Denn unübersehbar zielen die Evangelien auf diese Sendung; die Männer, die 'Apostel', d. h. 'Gesandte' heißen, werden gerade in dieser Eigenschaft als das 'Fundament' der Kirche bezeichnet (Eph. 2, 20), und unüberhörbar steht der Sendungsbefehl Jesu am Anfang der Kirche: 'Gehet hin in alle Welt!'. Dieser Auftrag geriet fast in Vergessenheit oder wurde 'uminterpretiert': … Die 'Welt', in die die Missionare aufbrachen, war aber fast ausschließlich verstanden als die Völkerwelt in Übersee, die Welt der Heiden in Afrika und Asien.
Jetzt aber hat uns die Weltmissionskonferenz in Mexiko sehen gelehrt, dass Mission in sechs Kontinenten zu geschehen hat, d. h., der Traum des christlichen Abendlandes ist ausgeträumt, wir leben mitten in der Welt. An unserer Schwelle – wenn nicht schon früher – beginnt die Welt, in die wir gesandt sind. Die Probleme einer modernen Industriegesellschaft fordern die Kirche ebenso heraus wie die Hunger- und Entwicklungsnöte der sogenannten Dritten Welt. Diesen nun wirklich weltweiten Sendungsauftrag beginnt die Kirche zu erkennen und sich ihm zu stellen. …
Die Antwort der Christen – in Wort und Tat – kann nur in dem glaubwürdigen Zeugnis von dem Christus Jesus bestehen, in dem das Heil der Welt beschlossen liegt. Hier aber treten die Nöte zutage: Wie soll die Welt an Christus glauben, um in ihm ihr Heil zu finden, wenn ein protestantischer Christus dem römischen Christus Konkurrenz macht und ein baptistischer Christus den orthodoxen Christus in Frage stellt? Christus ist nicht zerstückelt. Wir schulden der Welt den ganzen Christus in seiner ganzen Fülle, wie er sich in der Bibel bezeugt. Also sind wir zur Sammlung gerufen, zur ökumenischen Sammlung um ihn. …
Freilich, wenn unsere katholischen Brüder und Schwestern sich täglich zur heiligen Messe versammeln, stehen unsere evangelischen Mitarbeiter betrübt beiseite. Um der Wahrheit willen können wir zur Zeit noch nicht gemeinsam Gäste an einem Tisch sein. Es werden noch viele geduldige Gespräche und neue Erkenntnisse notwendig sein, bis die Sammlung nicht nur in seinem lebendigen Wort, sondern auch in seinem wirksa-men Sakrament möglich ist. Wir sind aber der guten Zuversicht, daß Jesus Christus, der den Vater um die Einheit der Seinen bittet (Joh. 17, 21), auch hier mit uns zu seinem Ziel kommen wird.“
2.10. Ausklang
Nach dem Tod seiner Frau im Jahre 1975 fand Karl Goebels eine neue Heimat in der Jesus-Bruderschaft Gnadenthal, der er 1984 auch formell beitrat. Hier trug er den Namen Bruder Nathanael. Die nach dem Krieg entstandenen Bruderschaften hatten ihn schon länger interessiert, weil er in ihnen Keimzellen der kirchlichen Erneuerung sah.9 Mit dem Beitritt erklärte er, seinen Wohnort und Lebenskreis öffnen zu wollen und für den Dienst in der Jesus-Bruderschaft bereit zu sein.10 In Konsequenz dessen gründete die Bruderschaft noch im gleichen Jahr mit Zustimmung des Evangelischen Regionalverbandes in dessen von Karl Goebels bewohntem Haus in der Praunheimer Landstraße 202 eine Gebetszelle und Gebetskommunität, in die noch zwei weitere Brüder zu Karl Goebels hinzukamen. Sie sahen sich in der Tradition Philipp Jakob Speners, der Frankfurter Bibelgesellschaft, des Frankfurter Missionsvereins und des Missionars der Basler Mission, Elias Schrenk, der von 1875 bis 1879 von Frankfurt aus als Reiseprediger gearbeitet hatte.11
3. Schluss
Ich komme damit zum Schluss. Wir haben auf ein langes Leben geblickt, auf einen Menschen in seiner Zeit, der Menschen um Gottes Wort sammeln und die gute Botschaft weitersagen wollte. Denn er war überzeugt davon, dass der Einzelne hier ebenso wie die vielen anderen auf der ganzen Welt diese Botschaft brauchen. Dabei war er weltoffen und auch bereit, Verantwortung in der Kirche und darüber hinaus zu übernehmen und in schwerer Zeit für seine Überzeugungen zu kämpfen.
1Erinnerungsschrift S. 7 f.
2Goebels, Warten auf den Tag X.
3Archiv des Evangelischen Regionalverbandes.
4Goebels, Evangelisches Leben, S. 11.
5 Goebels, Der große Auftrag.
6 Goebels, Kamerun ruft, FKJ 1957, S. 100 – 102.
7Beispielsweise Goebels, Besuchsdienst in Westkamerun und Nordost-Nigerien.
8Goebels, Der große Auftrag.
9Schreiben vom 20. Januar 1984, Erinnerungsschrift, S. 272.
10Beitrittserklärung vom 27.9.1984, Erinnerungsschrift, S. 274.
11 Ausführlicher zu dieser Gebetszelle: Bruder Nathanel in einem Skript o. J., Erinnerungsschrift, S. 276 – 280.